Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung - Felicitas Brucker führt Kevin Rittberger auf
Das Unheil droht als Frontex-Beamter
von Stefan Bläske
Wien, 1. April 2010. Da ist die Geschichte einer Welt, in der es Arme und Reiche gibt, Satte und Hungernde, Kriegsflüchtlinge und Theatergänger. Da ist die Geschichte eines Theaters, das die Geschichte von Kassandra neu erzählen möchte, und damit einen Autor beauftragt, der für seine Stückrecherche nicht nach Troja oder Mykene reist, sondern die südspanischen Strände abläuft, um afrikanische Straßenverkäufer zu interviewen, und dann ganz selbstreflexiv zu schreiben: "Da ist die Geschichte eines Autors, der nach der Wahrheit sucht und die Geschichten der Auswanderer (Sin Papeles) dokumentieren möchte, der dringend alle Geschichten auflesen möchte."
Die Welt als willenlose Vorstellung
Und darum ist da nun ein Stück, das sich nicht sicher ist, ob es "hundert verschiedene Geschichten" erzählt "oder doch die gleichen", und das dabei in mindestens fünf verschiedene Stücke zerfällt. Eines dieser Stücke geht so: "Da ist die Geschichte von Blessing, einer fünfundzwanzigjährigen Nigerianerin, deren tragische Geschichte wir aus ihrem Tagebuch kennen, das Boubacar, ihr Mann, einige Monate später zu einem Verlag gebracht hat."
Blessing ist nach fünfjähriger Odyssee gemeinsam mit ihren beiden kleinen Kindern auf der Überfahrt Richtung Europa ums Leben gekommen. Ein deutsches Nachrichtenmagazin hat berichtet, Kevin Rittberger war berührt. Nun präsentiert er uns diese Geschichte als "Lehrstück", ein bisschen mit und ein bisschen gegen Brecht. Felicitas Brucker inszeniert dieses Lehrstück ein bisschen distanziert, ein bisschen einfühlend. Holzbretter werden mal episch mit Hab-Acht-Hinweisen bekreidet, dienen dann wieder dramatisch als Mauer oder wackeliges Boot, das Richtung Hoffnung ins Verderben fährt.
Kein richtiges im fatalen Leben
Während das Tragische von Aischylos’ Kassandra darin besteht, Schicksal, Leid und die eigene Ermordung vorauszusehen, aber nichts dagegen tun zu können, schlicht keine Wahl zu haben, ertrinkt Rittbergers Kassandra gerade im Nichtwissen und dennoch Wählenmüssen: zwischen Regen und Traufe, Wüste und Meer, Verdursten und Ertrinken. Wohin man schaut Dilemmata.
Da ist Exempel Blessing, die ihren Körper verkauft, um ihrer Familie die Überfahrt zu sichern. Da sind die Flüchtlinge auf dem kaputten Boot, nicht wissend, welche Richtung Rettung bringt. Da sind die Journalisten im Krisengebiet, die nicht gleichzeitig filmen und helfen können; die Dokumentaristen, deren Anwesenheit das zu Dokumentierende verändert; da ist die Übersetzerin, die Migranten helfen möchte, damit aber eine Massenabschiebung durch Frontex-Beamte ermöglicht.
Schließlich ist da die Dokumentarfilmerin, die auf Neonazis und Missstände im österreichischen Asylantenheim aufmerksam machen möchte, damit aber Bilder produziert, die in EU-Lagern in Afrika zur Abschreckungspropaganda eingesetzt werden. Was immer man richtig macht, macht man auch falsch.
Dieser Mechanismus macht auch vor der Inszenierung nicht halt, in der Autor und Regie augenscheinlich alles richtig machen wollten: Alle Perspektiven sollen verhandelt werden, von Afrikanern, Europäern. Selbst der "körperlose Blick" der "objektiven Kamera" wird problematisiert. Sprachlosigkeit soll dargestellt werden, aber bitte wortgewandt. Insgesamt alles eher erzählerisch und ausgestellt, um bloß kein Betroffenheitstheater zu fabrizieren, aber ab und an durchaus mit Möchtegernmomentchen der Einfühlung. Dazu ein Schuss Groteske, Klischees besorgt politisch korrekt dosiert. Und ein wenig Humor, aber nicht zu viel bei diesem ernsten Thema.
Mit Sprachmustest
Vielleicht ist es der ehrenwerte Versuch, bloß nicht schwarz-weiß und schon gar nicht zu schwarz zu malen, der diesen Abend ein bisschen khaki-blass aussehen lässt? Womöglich haben zu viel Text und Theorie und Vorsicht das blockiert, was an interessanten theatralischen Ansätzen durchaus vorhanden ist? Da ist zum Beispiel dieser Raum, umgrenzt von Plastikplanen wie das Innere einer Lkw-Ladefläche, ein Transfer- und Nicht-Ort. Da ist an der Bühnenrückseite eine große Weltkarte, schwarz-weiß, auf die eine der Figuren Dartpfeile wirft, Europa anvisierend.
Und da sind die Schauspieler, die einander schwarz anmalen, wenn sie Schwarze spielen, und sich mehlweiß machen, wenn sie Weiße spielen. Das sechsköpfige Ensemble strampelt sich wacker und homogen durch die 23 Rollen, setzt punktuelle Glanzlichter: Etwa wie Nicola Kirsch sich als Blessing nach erkaufter Überfahrt über das Wasserbecken beugt, voll Scham und Schmutz und Stolz. Wie Max Meyer als Reporter Disk einen fast unheimlichen Sog entwickelt während seines verrückt-verzweifelten Ertrinken-Monologs. Wie Vincent Glander als Boubacar im zarten Spiel mit zwei kleinen Kindergummistiefeln seinen Jungen neben sich zaubert, mit dem imaginären Spielpartner mehr Miteinander herstellt als alle anderen Figuren in dieser Inszenierung eines meist beziehungslosen Nebeneinanders.
Schließlich dann: Boubacars Blick, am Ende, wenn er von Rittberger gefragt wird, ob er die Reise noch einmal machen, ob er wieder nach Spanien kommen würde, wenn er die Zeit zurückdrehen könnte. Er schweigt. Denkt. Und blickt, aus großen Augen. Was braucht es da noch seitenlange, aufgesetzte Monologe über "Sprechakte", "Sprechblubberblasen", "Sprachmuss", "Sprachmus", "Sprachmustest" und "Sprachlosigkeit"? Weniger Worte, und mehr Mensch hinter der Maske, das hätte diesem wohlmeinenden Abend gutgetan.
Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung (UA)
von Kevin Rittberger
Regie: Felicitas Brucker, Dramaturgie: Brigitte Auer, Bühne: Frauke Löffel, Kostüme: Sara Schwartz.
Mit: Vincent Glander, Steffen Höld, Katja Jung, Bettina Kerl, Nicola Kirsch, Max Mayer.
www.schauspielhaus.at
Mehr zu Kevin Rittberger, der auch als Regisseur tätig ist, finden Sie in unserem Lexikon. Von Felicitas Brucker sahen wir jüngst ihre Sartre-Inszenierung Geschlossene Gesellschaft in Berlin und ihre Freiburger Orestie. Mit Ewald Palmetshofers faust hat hunger und veschluckt sich an einer grete gastiert Brucker bei den Mülheimer Theatertagen 2010.
Kritikenrundschau
"Immerhin: Ein nachdenklich stimmender künstlerischer Themenabend", schreibt ein "bp" kürzelnder Kritiker in der Wiener Tageszeitung Die Presse (3.4.2010) Wobei die Idee, statt Schwarzer Weiße mit geschwärzten Gesichtern auftreten zu lassen, bei "bp" zwiespältige Effekte erzeugt. "Einerseits sind Schwarze authentischer, wie sich am Schluss zeigt, wenn ein echter Schwarzer auf einem Video auftaucht, andererseits sind die weißen Akteure wie üblich sehr gut: Vincent Glander, Nicola Kirsch, Bettina Kerl, Katja Jung, Steffen Höld, Max Mayer bewältigen den zwischen Doku und Dichtkunst wechselnden Text bravourös." Kevin Rittberger habe gute Ideen – und sich gründlich mit dem Stoff befasst. Trotzdem wirkt die Aufführung auf den Kritiker gelegentlich geschwätzig. "Vermutlich liegt das an der aalglatten Kunstfertigkeit, die Brucker und Rittberger verbindet: Zu gscheit fürs Theater. Die fundamentale Aura antiker Texte, das Klassische, Überzeitliche scheint dem Aktuellen geopfert."
Von einer "gelungenen Uraufführung" spricht Sebastian Gilli im Wiener Standard (3.4.2010). Es sei eine fiktive und eine wahre Geschichte, die der Abend anhand des mythologisches Stoffes zusammenführe. "Der umfassenden Faktenzusammenführung des Autors gingen lange Recherchen voraus, die sich in parallelen Handlungssträngen äußern. Sie stärken den Anspruch, die Ungerechtigkeit sachlich aufzuzeigen und bilden Europa als Festung ab: Manchen gelingt die Flucht, die meisten aber schiebt die Frontex-Behörde ab, und Unzählige überleben die Überfahrt nicht: Das Mittelmeer wird zum Massengrab, auf dessen Grund eine Kamera im Gedächtnis aller Ertrunkenen filmt."
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Liebe Bianca H.,
"urinszeniert" ist tatsächlich ein nachtkritik-Neologismus (obwohl ich nicht die Hand dafür ins Feuer lege, dass wir ein Patent darauf halten). Ironisch ist es jedenfalls nicht gemeint, eher platzsparend. Mit besten Grüßen Redaktion/chr
Liebe Bianca H.,
ja, es kommt darauf an, wo man den Bindestrich setzt. Mit besten Grüßen, Redaktion/chr
"Lehrstücke" sollen ja immer eher trocken, knapp und unsentimental Probleme zur Diskussion stellen. Die 6 Schauspieler, die mit demonstrativem "Farbwechsel" 23 Personen sichtbar machen, sind sicher kein vorsätzlicher Angriff auf die Diversität der Gesellschaft sondern der V-Effekt.
Übrigens finde ich es bewunderswert, dass das jetzige Schauspielhaus auf ein sehr kleines, fixes Ensemble schwört, das ganz tolle Leistung bringt.
Natürlich können die Schauspieler etwas; aber ich habe am Schauspielhaus früher genossen, dass ich da die unterschiedlichsten Menschen, Sprachen, Religionen, Dialekte, Hautfarben auf der Bühne gesehen habe. Jetzt ist es eben ein Ensemble wie jedes andere ... und das finde ich schade.
Im übrigen hat das Schauspielhaus, soweit ich informiert bin, ein fixes, kleines Ensemble, das für die darstellerischen Aufgaben herangezogen wird. So ist es auch in diesem Fall. Ansonsten müsste man ein eigenes Casting veranstalten, um ethnisch korrekte Darsteller zu finden. Film und bildende Kunst taugen nicht als Vergleiche: Die haben es diesbezüglich einfacher, müssen nicht Live-Aufführungen erarbeiten, die mehrere Wochen lang live gezeigt werden. Beim Film greift man mitunter auch zu Laien-Darstellern. Wobei diese Genauigkeit ohnehin unsinnig ist: Dann dürfte Cechov nur mit Russen, Shakespeare nur mit Briten, Pirandello nur mit Italienern oder Schnitzlern nur mit Österreichern besetzt werden, damit alles bis zum Zungenschlag korrekt ist.
2) Wer hat denn von "ethnisch korrektem Casting" gesprochen? Das ist doch nicht der Punkt. Die Klassiker die sie erwähnen, hat auch niemand angeführt, sondern - wie am Schauspielhaus praktiziert - die Gegenwartsdramatik, die sich dauernd dem heutigen Leben widmen will, aber über die eng gesteckten, deutschsprachigen, weißen Grenzen nicht hinaussehen will, weil das zu anstrengend wäre.
3) Der Bezug auf die Live-Aufführung ist schlichtweg Unsinn. Auch der auf Laiendarsteller. Schauen Sie sich die unzähligen afroamerikanischen oder hispanischen Darsteller in Film und Fernsehen an. Seit Sidney Poitier gibt es doch wohl professionelle Schauspieler, die hier arbeiten. Dass nur weiße Darsteller professionelle Darsteller sein können und alles andere "Ausnahmen", finde ich eine erschreckende Aussage. Das ist doch ein Fakt, dass das Theater hier rassistischer ist. Warum wurde einer türkischen Bekannten von mir in der Schauspielschule mit den Worten abgesagt: Du hast vielleicht Talent, aber besetzen wird dich niemand, überleg dir das sehr gut!
4) Zum Ensemble. Das Schauspielhaus will doch Gegenwart abbilden. Glauben Sie wirklich, da kann man einen riesigen Teil der Bevölkerung einfach ausblenden? (Nochmal: das ist bei den Klassikern anders, aber im Schauspielhaus werden ja neue Stoffe geschaffen, die sich auf das Heute beziehen!).
Ich finde, es müsste für ein Haus wie das Schauspielhaus selbstverständlich sein, hier einen breiteren Zugang zu wählen. Und es geht ja nicht darum, nur einzelne Rollen zu Casten, so dass ein Schwarzer wieder nur einen Flüchtling in einem Stück spielen darf.
Die frühere Intendanz des Schauspielhauses hat es ja vorgemacht. Da hatte Macbeth einen kroatischen Zungenschlag, da gab es amerikanische Akzente, auf der Bühne wurde Jiddisch, Ungarisch, Deutsch gesprochen. Aber nicht in "Problemstücken" zu Einwanderern, sondern in Klassikern, neu erarbeiteten Stücken, Shows und Aufführungen. Ich habe das als Zuseher immer sehr genossen, weil das Ensemble - das es auch da gab - eine Welt widergespiegelt hat, die ich auch vor den Toren des Theaters gefunden habe. Jetzt ist es halt wieder homogener, einheitlicher. Vielleicht hängt das auch damit zusammen, dass auch die Gesellschaft zusehends nach Rechts rückt und alles weg haben will, was nicht "dazu gehört". Das Schauspielhaus wäre dann ein schönes Beispiel für diese Tendenz.
Es ging in deren Programm ja nicht (oder selten) um Thematisierung oder Problematisierung eines multikulturellen Lebens im Sinne von "Problemstücken" - die Direktion hat eben (auch in "Macbeth", auch in Stücken über jüdisches Leben und Kultur, in Stücken über die österreichische Geschichte, sogar in Figurentheaterwerken) auf ein Ensemble (Schauspieler, aber auch Bühne und Regie) gesetzt, das in jeder Hinsicht vielfätig und Abbild einer tatsächlich vorhandenen Gesellschaft war.
Das fand ich das Mutige - obwohl es selbstverständlich sein sollte - der Direktion Berg/Kosky.
Und ich finde, dass mit der neuen Schauspielhausdirektion tatsächlich etwas verschwunden ist, dass es so nun nicht mehr gibt. Ob das Schauspielhaus jetzt gute Inszenierungen zustande bringt, sei's drum. Es ist - hinsichtlich dessen, was ich oben geschrieben habe - eines wie hunderte Theater im deutschsprachigen Raum. Deswegen schmerzt es umso mehr (Zumindest mich).
Ich habe das Wort multikulturell für die Direktion absichtlich gebraucht, da ich den Charme und die Kraft aus den Wurzeln der in anderenen Kulturkreisen geborenen und auch arbeitenden Theatermacher für einen Schlüssel zur besonderen Note dieser Jahre halte. Es war kein aus politischen Überlegungen geplantes "Vielvölker"-Theater sondern der natürliche und selbsterlebte Lebensalltag von Künstlern die einerseits zwischen Australien und Austria unterscheiden können aber doch auch viel Gemeinsames finden.
wenn es jemanden gibt, der sich in den letzten fast 10 jahren umfassend mit neuer deutschspr. dramatik auseinandergesetzt hat, dann andreas beck. er mag ehrgeizig sein, aber er lässt sich von verlagen sicher nichts aufschwatzen, er kennt die meisten jung-autoren von ihren allerersten schritten/ versuchen an.
unter berg/ kosky gab es gesichert kein ensemble und auch keinen ensemble-gedanken. es gab regien und darsteller, die häufiger dort gearbeitet haben, meist nicht mehr als einmal pro spielzeit. (und einige abende hatten durchuas folkloristische anwandlungen, nach koskys weggang). :-)