Leiht uns eure Unschuld

1. Juni 2024. Milo Rau hat in "Five Easy Pieces" schon einmal sehr erfolgreich mit Kinderdarstellern gearbeitet. In seinem neuen Stück setzt er wieder auf ein Kinder-Ensemble, das sich dem "Medea"-Mythos annähert und es mit einer brutalen Mordgeschichte aus Belgien verbindet.

Von Gabi Hift

"Medea's Kinderen" von Milo Rau bei den Wiener Festwochen © Michiel Devijver

1. Juni 2024. Wo in der Antike bei den Festspielen auf drei Tragödien zur Entspannung ein Satyrspiel folgte, ist die Reihenfolge bei "Medea's Kinderen" von Milo Rau umgekehrt. Es beginnt mit dem Comic Relief – und das ist auch bitter nötig. Denn alle im Saal wissen, was hier gleich stattfinden soll: die Geschichte der Kindsmörderin, gespielt von Kindern. Gleichzeitig ist die Vorstellung wegen Szenen mit extremen Gewaltdarstellungen erst ab 16+ zugelassen. 

Los geht's mit dem Nachgespräch

Darf man sowas überhaupt machen? Werden da Kinder für ein dubioses Konzept missbraucht? Wird man als Zuschauerin nicht automatisch zum Komplizen? Bevor es losgeht, wabert ein kollektives mulmiges Gefühl wie Bodennebel zwischen den Reihen. Umso lauter dann das erleichterte Lachen, als ein Moderator (Schauspielcoach Peter Seynaeve) sieben Stühle vor dem Vorhang zurechtrückt und das Publikum mit einem munteren "Welcome to the aftertalk" begrüßt. In dem Gespräch, das Seynaeve mit den Kindern anfängt, wird schnell offensichtlich, dass sie nicht manipuliert wurden, sondern leidenschaftliche Theaterspieler*innen sind. 

Medeas Kinderen 1 CMichiel Devijver uDie Kinder im "Nachgespräch" © Michiel Devijver

Um zu zeigen, wie sie ihre Medea anlegt, spielt ein Mädchen einen Ausschnitt aus einem Monolog vor. Ein anderes Mädchen will demonstrieren, wie ein bestimmtes Lied während der Vorstellung wirkt, und ihre Kollegin begleitet sie dabei auf dem Theremin. "Bevor sie sich umschauen, werden sie ihnen das ganze Stück noch einmal vorspielen", warnt der Coach.

Virtuose Darsteller*innen auf drei Ebenen

Und schon passiert genau das: Der Vorhang geht auf, hinten auf einer Leinwand ein öder Strand, eine Frau lehnt sich gegen den Wind – da erscheint ein riesiger Drache. Vorne auf der Bühne setzt sich der Sand fort, eins der Mädchen nimmt Medeas Rolle ein und spricht für die Filmfrau, deren Lippen sich stumm bewegen. 

Medea hilft Jason, den Drachen zu besiegen, sie küssen sich. Wie war das mit dem Küssen? fragt der Coach. Ganz ok. So gleitet das Spiel zwischen den Ebenen hin und her: hinten ein mystischer Stummfiilm, vorne die Kinder, die die Schauspieler auf der Leinwand nachmachen und nach und nach ihre Rollen übernehmen und selbst auf der Leinwand auftauchen – live gefilmt vom Coach. Dazwischen bespricht er mit ihnen das Spiel, lobt, fragt nach, warum sie glauben, dass die Figuren so handeln, wie sie es tun. 

Medeas Kinderen 2 CMichiel Devijver uSie sind und sie spielen © Michiel Devijver

Parallel beginnt noch eine weitere Geschichte, der berühmte Fall einer fünffachen Kindsmörderin in Belgien, die mit ihrem marokkanischstämmigen Ehemann im Haus von dessen dubiosem Adoptivvater lebte. Sie hatte jedes Jahr ein Kind bekommen, die beiden Männer waren immer öfter zusammen nach Marokko gefahren und hatten die Frau mit den Kindern völlig isoliert zurückgelassen. Die Parallelen zu "Medea" sind offensichtlich.

Weinen, sterben, töten

Die Kinder wechseln scheinbar mühelos zwischen den Ebenen hin und her. Weil sie Kinder sind, die Erwachsene spielen, müssen sie sich nicht ständig um den Entfremdungseffekt bemühen. Sie sind ganz frei, gut zu spielen. Und sie wissen von selbst, wie's geht: Als der Coach den kleinen Jungen fragt, wie er es macht, den alten Vater der belgischen Kindsmörderin so glaubwürdig zu spielen, sagt der: Das war einfach! Ich habe seine zittrige Stimme nachgemacht, während ich an meinen eigenen Tod gedacht habe.

Medeas Kinderen 4 CMichiel Devijver uDrei Geschichten, drei Erzähl-Ebenen © Michiel Devijver

Die Stärke der kindlichen Darsteller*innen ist ihre Unschuld. Ihnen hat noch niemand gesagt, dass sie hinterfragen müssten, was sie empfinden. Milo Raus Regie scheint durch diese Unschuld wie erlöst. Wo er sonst überall, wo jemand etwas besonders gut kann, das Gorgonenhaupt des Elitären wittert und sich dran macht, ihm die Köpfe abzuhauen, steht hinter dieser Arbeit ein Regisseur, der seine Darsteller glänzen lässt, der ihr Können bewundert.

Sie müssen keine privaten Dinge erzählen, um interessant zu sein, sie dürfen Medea und Jason sein, dürfen weinen, sterben, töten. Das versetzt auch die Zuschauer zurück in den Stand der Unschuld. Wir erleben eine langgezogene Katharsis, Jammer und Schrecken im Wechsel, auf schwebende Art befriedigend. Um genau dieses Gefühl zu erleben, ging man seinerzeit ins Theater. 

Wertvolle Schlusswendung

Aber am Ende kommt noch eine sehr harte Prüfung: Der Mord an allen fünf Kindern wird grauenhaft realistisch durchgespielt. Einem Kind nach dem anderen wird die Kehle durchgeschnitten, es fließen große Mengen Blut, sie sterben mit Röcheln und Zucken, es ist schwer zu ertragen. Aber das härteste ist die fehlende Beschleunigung. Die monotone Schlächterarbeit dauert eine geschlagene Viertelstunde. Wenn man vorher schon fast das Gefühl hatte, man könne, wenn schon nicht Medea, so doch die belgische Mörderin verstehen, so versteht man jetzt wieder nichts mehr. Was da geschieht, ist nicht zu begreifen. Und das ein wertvoller Sturz zurück in die Verwirrung. 

Medea's Kinderen
Regie: Milo Rau, Dramaturgie: Kaatje De Geest, Video: Moritz von Dungern, Licht: Dennis Diels, Kostüm: Jo De Visscher, Bühne: ruimtevaarders.
Mit: Peter Seynaeve, Jade Versluys, Gabriël El Houari / Aiko Benaouisse, Emma Van de Casteele, Sanne De Waele, Anna Matthys, Vik Neirinck.
Wien-Premiere am 31. Mai 2024
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.festwochen.at

 

Kritikenrundschau

"Nach den globalen Brennpunkten, die Milo Rau zuletzt auf die Bühne gebracht hatte, all den Umweltsünden und Kriegsverbrechen, kommt einem 'Medeas Kinder' winzig klein vor", schreibt Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (2.6.2024). Raus Theater tue es gut, "wenn es nicht immer gleich die ganze Welt retten muss". Die Medea-Erzählung aus der Retrospektive erscheint Kralicek schlüssig; es sei fast enttäuschend, dass das Stück dann doch noch gespielt werde. Dass die Szenen der Kindertötung auf der Bühne stattfänden, sei das Gegenteil der antiken Mauerschau und nur erträglich, "weil es eben auch ein Kinderspiel ist".

Ein "unerhörtes Stück zur Zeit" hat Ronald Pohl vom Standard (29.5.2024) gesehen. "Bei Milo Rau hält das Theater immerzu Gerichtstag – doch es soll den Stab nicht brechen, über die Schwächsten nicht, auch nicht über die Schuldiggewordenen." Raus Bestandsaufnahme zu Medea lebe "von lauter klitzekleinen Rekonstruktionsleistungen", man sehe Menschen beim Ertragen von Einsamkeit. Der Regisseur wähle "die extremste Form der Gewaltdarstellung, aber er zitiert sie, hegt sie ein, entkräftet sie – hebt sie im mehrfachen Wortsinn wieder auf", so Pohl. Niemand bleibe dabei an diesem Abend auf der Strecke, alle fänden Gehör. Und auch wenn der Abgrund, der uns heute von Medeas untröstlicher Verzweiflung trenne, nicht leicht zu überwinden sei, könne man in "Medea’s Kinderen" erfahren, wie Kulturen nicht nur nebeneinander existieren, "sondern ineinander verkeilt sind".

Als ein "Theater der Antagonismen" beschreibt Martin Fichter-Wöß die Inszenierung in den Salzburger Nachrichten (1.6.2024): "Humor und Dramatik, kindliche Weltsicht und der Ernst der Erwachsenwelt wechseln hier im schnellen Tonalitätssprung einander ab". Reflexion stehe gespielten Monologen gegenüber, Theaterspiel der filmischen Nahaufnahme, welche die "mitunter herausragenden Schauspielleistungen des jungen Ensembles" offenbare. So entwickle sich "ein eigentümlicher Flow aus Leichtigkeit und Schwere trotz des schier unbegreiflichen Themas". Milo Rau gehe es um "einen fundamentalen Perspektivwechsel, eine Sichtverschiebung", so Fichtner-Wöß. In der griechischen Tragödie blieben Medeas Kinder stumm; Rau hingegen zeige den kindlichen Blick auf eine erwachsene Welt in einem Setting, in dem Kindern sonst keine eigene Position zugestanden werde.

"Alle sprechen Sätze aus der antiken Tragödie, in tiefem Ernst", berichtet Thomas Kramar in der Presse (1.6.2024). "Und reflektieren die unfassbare und doch geschehene Tat. Das onkelhafte, gönnerische Lachen, mit dem Erwachsene gern auf ernsthafte ('altkluge') Kinder reagieren, verstummt bald im Publikum: Hier gilt’s der Tragödie." Die Theaterillusion werde immer wieder aufgebaut und zerstört. Sie zerbreche und halte zugleich. "Medea ist überall. Und in diesem Stück entkommt man der Rührung nicht."

 

 

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