Die Apokalypse - Das Theaterfestival Basel zeigt in Schweizer Erstaufführung Michal Borczuchs preisgekrönte Inszenierung über europäische Identität in Zeiten der Flüchtlingsbewegungen
Unsere Tränen fließen nicht
von Claude Bühler
Basel, 9. September 2016. Mit vibrierender Stimme wandte sich der polnische Regisseur Michal Borczuch beim Nachgespräch ans Basler Publikum: "Wir haben Angst. Wir erleben einen Angriff von innen." Einen Angriff, der das Rechtssystem, die Medien und die Künstler existentiell treffe. Indem sie "Ängste" schürten, hätten Politiker die Macht in Polen ergriffen. Ängste vor einem "nichtexistierenden Monstrum": der Flüchtlingszuwanderung.
Was sucht und findet Ihr in Europa?
Die Dringlichkeit dieser Worte war auch in den davorliegenden zwei Schauspielstunden zu erkennen. Statt ein "Flüchtlingsdrama" vorzuführen, wie man es beim Überfliegen der einführenden Texte zur Inszenierung hätte meinen können, untersucht Borczuch in einem losen Szenenreigen essayistisch, auf welches Europa die Flüchtlinge denn treffen, wenn sie an seinen Küsten landen. Borczuchs Befund ist bei aller Ironie, bei allem beißenden Witz tieftraurig.
Beiläufig über den Ukrainekrieg schwatzend, wie "krass" das alles sei, entkleidet sich ein junges Pärchen und vollzieht einen (betont simulierten und schematisierten) Pornodreh. Zwei junge Leute nehmen Kevin Carter (1960–1994) in die Zange. Er hatte jenes berühmte Foto eines vor Hunger sterbenden Mädchens in Afrika geschossen, hinter dem bereits ein Geier wartet. Ob er denn das Mädchen gerettet habe? Der Starfotograf weiß nicht einmal, ob es umkam. "Die Welt sollte einen Moment lang innehalten", wehrt er sich. Jetzt sei er hier, weil er sich "erholen" wolle von den "Exekutionen im Sudan".
Hier, das ist eine mediterrane Küstenstadt; verschwommen skizziert erhebt sich im Bühnengemälde hinten ein südlicher Palazzo, in der Mitte ist der Blick frei auf Küste und Meer. Die Flüchtlinge, deren Ankunft man hier ahnt, treffen also auf Menschen, denen existentielle Not ein interessantes Sujet für preisgekrönte Fotokunst und Instant-Betroffenheit abgibt, die wie im Falle Carters in Depressionen und Drogensucht hängen.
Hochkultur mit Hygienehandschuhen
Ein Bootsflüchtling aus Ghana, unkenntlich unter Schutzkleidung in einer Trage hängend, wird bei seiner Erstuntersuchung, nicht nur nach Name und Herkunft abgefragt; man hält ihm auch ein Bild des Kolosseums vor die Augen, die "Venus" von Botticelli, die "Dame mit dem Hermelin" von da Vinci. Nebst dem Affront stellt die Szene eine Gleichung mit zwei Unbekannten dar: Warum glauben wir eigentlich, dass diese Kunst (noch) etwas mit unserer Identität zu tun hat? Welche Gefühlsbeziehung haben wir selber noch dazu? In seinen Gefühlen verletzt fragt der Flüchtling seinen Befrager, warum er ihn nur mit Handschuhen anfasse. Daraufhin schließt der ihn mit Kabeln an ein Klavier an und spielt Schubert.
"Meine Tränen fließen nicht", jammert eine Schauspielerin auf dem Filmset, weil sie beim Anblick eines Obdachlosen das geforderte Mitleid nicht liefern kann. Sie habe gesehen, wie sich der angeblich hungernde Obdachlosen-Schauspieler zuvor im Cateringbus mit Sandwiches den Bauch vollgeschlagen habe. Wenn der Filmregisseur zu ebenjener tränenselig gemeinten Szene die Ouvertüre der Matthäuspassion bemüht und sich herumschreiend als "Visionär" tituliert, wird der Zorn Borczuchs fühlbar über einen hohl gewordenen Kulturbegriff, den wir dennoch wie eine Monstranz vor uns hertragen.
Eine Entschleierung
Wie Planeten kreisen die streitbare Journalistin Oriana Fallaci (1929–2006) und der Regisseur Pier Paolo Pasolini durch die Galaxie dieses Abends, tauchen auf, monologisieren, verschwinden wieder. Pasolini schimpft im letzten Interview vor seiner Ermordung 1975 (wortgetreu nachgespielt) darüber, dass wir systembedingt "Marionetten" geworden seien.
Aber ebenso wie Borczuch Pasolini voller Selbstzweifel, Ängste und Trauer vorstellt, so will er uns nicht nur plakativ, sondern vielschichtig in unserem Unvermögen in der Bewältigung der Gegenwart konfrontieren. "Die Apokalypse" ist als ein – offenbar seit der Premiere 2014 weiterentwickelter – Bühnenakt der "Entschleierung" zu verstehen. Es geht nicht um Diagnose, viel eher um Meditation: Haben wir die Mittel erschlossen, unsere Krise zu verstehen?
Borczuch führt uns auch in subtilere Seelenregionen, für die man "Die Apokalypse" vielleicht auch ein zweites oder drittes Mal erleben sollte. Das lohnte sich! Das hervorragende Ensemble spielt völlig entspannt, hochkonzentriert, differenziert kleinste Regungen wiedergebend. Die Szenen sind gestochen klar gesetzt, da ist nichts zu viel, nichts zu wenig. Ein atmosphärisch dichter Kunstgenuss – dem Sinn der Sache folgend kein bequemer.
Die Apokalypse
von Michal Borczuch
Regie: Michal Borczuch, Text und Dramaturgie: Tomasz Spiewak, Szenografie und Kostüm: Dorota Nawrot, Musik: Bartosz Dziadosz "Pleq", Video: Lianne von de Laar, Licht: Katarzyna Luszczyk.
Mit: Bartosz Gelner, Sebastian Lach, Ewelina Zak, Piotr Polak, Jacek Poniedzialek, Halina Rasiakowna, Krzysztof Zarzecki.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.theaterfestival.ch
Mehr über die aktuelle Situation in Polen:
Meldung vom 4. September 2016: Proteste am Teatr Polski we Wrocławiu gegen den neuen Intendanten Cezary Morawski, der nach der Absetzung des bisherigen Leiters Krzysztof Mieszkowski ohne Mitsprache des Ensembles gewählt wurde.
Theaterbrief im Februar 2016: Anna R. Burzyńska schildert, wie sich die Politik der neuen rechtskonservativen Regierung auf das Theater auswirkt.
"Ein atmosphärisch spezielles, sehr dichtes Szenario", schreibt Michael Baas in der Badischen Zeitung (12.9.2016). "Das Spiel setzt einerseits stark auf klassische theatralische Mittel, auf Dialoge und Monologe; es switched in einzelnen Sequenzen aber auch sehr ins Filmische, lässt das Publikum nur mehr durch ein Kameraauge an hinter einer Leinwand gespielten Szenen teilhaben oder projiziert minutenlang in schwerer See treibende Fischkutter auf diese – ein sehr hybrides Theater also". Und "schwere Kost", wie es an anderer Stelle heißt.
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