Alpenvorland - In St. Gallen liest Elisabeth Gabriel das Provinz-Stück von Thomas Arzt als Prabel auf die Neunziger-Generation
Durchschnitt ist die einzige Provinz
von Gerd Zahner
St. Gallen, 11. Februar 2015. Sie saugen sich die gesunde Provinzluft im Frühling in die Lungen, diese durchschnittlichen "Sieben" um die 30 und jünger. Der Sommer dann lässt die Hoffnung reifen, aber ohne sie zu ernten; und im Winter – der Schnee fällt früh, dort im Alpenvorland – diskutieren nur noch sechs der Freunde, wie ohne Spuren zu sterben sei, weil Heidi in Brüssel, in der besseren Erde, aufgegeben hat.
Festen Grund unter den Füßen
"Alpenvorland" von Thomas Arzt erhielt den Autorenpreis beim Heidelberger Stückemarkt, die Uraufführung fand 2013 in Linz statt, in St. Gallen nun ist das Alpenvorland nicht weit, und das lauernde Glück zu scheitern auch nicht.
Heidi (Danielle Green) in ihrem Sommerplisseekleidchen liebt ihren Hannes (Luzian Hirzel), tanzt um eine bürgerliche mediokre Existenz wie die Ungläubigen um das goldene Kalb. Heidi, wie soll sie sonst heißen, will einen festen Grund unter den Füßen, ein Haus in der Provinz bauen, und zum Spatenstich erscheinen die Freunde, die mehr oder weniger keine sind. Eigentlich beseitigt der Bau eines Hauses alle Leiden, weil ein Haus zu bauen immer größere Leiden schafft.
Karaoke: Hauptsache nichts eigenes. Der große Spaß der Neunziger © Tine Edel
Nur nachspielen, nicht ernst nehmen
Dieses Haus in der Provinz wird nicht gebaut werden. Die sieben Freunde, in den 90er Jahren – einer Zeit ohne Mode und mit schlechter Musik – groß geworden, scheitern rasch am Versuch, die abgelegten Ideale der Vorgenerationen neu zu beleben. Das Karaokesingen, der gute Oliver Losehand bringt einen solchen Endloskulturschleifenapparat als Spatengeschenk, wird zur Metapher für das Stück; auf bekannte, abgedroschene Melodien den Text "nachsingen", nie grobfalsch, aber nie etwas eigenes. Abrufbare Massenwünsche, alle Weltenklänge in der eigenen Vorstellung, nur gesammelt. Eine Generation im Abgang zeichnet das Stück nach. Eine Generation, die nur die Kultur der Werte nachspielt, nicht generiert, und deshalb scheitert, weil sie sich selbst nicht ernst nimmt.
Letztlich wird dieser gelungene Ansatz, ja die Wahrheit des Stückes, diese genaue Beobachtung der Generation der Nachahmung, auch zu einer Sinnfalle des Stückes. Thomas Arzt schreibt schnell, pointiert, die Worte fliegen, aber da er alle Themen in der Art von Karteikarten über den Daumen laufen lässt – Liebe, Beziehungsbetrug, das Kind vom Anderen, Ruin, Homosexualität, Sinnsuche, die Freundin beim Anderen und der Selbstmord Karls auch noch –, erstickt das Stück. Der stellenweise glänzende Text leidet an dieser Themenüberfülle, weil der Autor nur noch behauptet, ohne die Behauptungen in den Figuren und ihren Entwicklungen verzieren zu können.
Von einäugigen Vogelhäusern bewacht: die scheiternde Neunziger-Generation © Tine Edel
Wie ein Sturzbach
Hoch oben auf den runden Metallstehlen der Bühne (Vinzenz K. Gertler) sitzen braune Vogelhäuser, die bedrohlich aussehen wie einäugige Krieger. Etwa 20 Stücke wachen da oben und verkörpern das Vorland, in dem die Naturvorstellung des Menschen den Menschen einzäunt. Danielle Green lebt diese Zwitterrolle der Lüge und der Sinnsuche in ihrem Spiel undurchsichtig, also wahrhaft aus, Oliver Losehand glaubt man den kontoauszugsberuhigten Aufsteiger, Luzian Hirzel sein totales Lebensversagen. Regisseurin Elisabeth Gabriel lässt das Stück wie einen Sturzbach durchschießen, was dem Abend und dem Stück gut tut.
Die Behauptungen über Wertethemen beginnen so in einem Rhythmus zu strudeln, der zum Stilmittel wird, weil das dauernde Behaupten von Themen jedem einzelnen Thema seine Bedeutung nimmt und am Ende der mediokre Geist in sich selbst hinabgezogen wird. Durchschnittlich sein zu wollen, ist in dieser Welt wohl das Schwierigste, weil es der größten Verdrängung von Welt bedarf, das Elend der andern zu ignorieren, die Demütigung durch den Reichtum zu ertragen. Das Publikum nahm diesen Abend mit großem Applaus auf, die Wahrheit, dass wer sich im Durchschnitt einrichten will, scheitert – weil der Grund nicht mehr trägt, buchstäblich das Haus, oder den Sinn –, ist allzu greifbar.
Alpenvorland
von Thomas Arzt
Inszenierung: Elisabeth Gabriel, Bühne und Kostüme: Vinzenz Gertler, Musik und Sounddesign: Nikolaus Woernle, Dramaturgie: Sonja Lamprechter.
Mit: Luzian Hirzel, Danielle Green, Wendy Michelle Güntensperger, Sven Gey, Meda Gheorghiu-Banciu, Oliver Losehand.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, eine Pause
www.theatersg.ch
Beim Heidelberger Stückemarkt 2012 sprach Thomas Arzt im Videoporträt über sein Stück "Alpenvorland".
"Regisseurin Elisabeth Gabriel lässt dem Text sein sportives Tempo und schafft doch eine Atmosphäre der Anspannung, die neugierig macht auf die Geschichten hinter den vermeintlich lockeren Typen", schreibt Bettina Kugler im St. Galler Tagblatt (13.2.2015).
Regisseurin Gabriel habe die unterschiedlichen Tonlagen der Sprache subtil umgesetzt, heißt es in der Rezension im Südkurier (14.2.2015). "Und obwohl sie, wie etwa in der Tortenschlacht, drastischen Zugriff nicht scheut: Erhellend sind vor allem kleine Details, ist das Ungesagte zwischen den Zeilen, sind die leisen Zwischentöne und die kleinen, achtsamen Gesten." Das sei zwar nicht allen Darstellern gleichermaßen gegeben, sie prägen aber eine trotz gelegentlicher Längen insgesamt dichte Aufführung.
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