Leichen am laufenden Band

von Andreas Klaeui

Zürich, 22. Februar 2019. Das Augenpaar eines Mannes: Es sieht nach links, nach rechts, geradeaus. Wie eine deutsche Marilyn Monroe tritt Henrike Johanna Jörissen auf, von weit hinten aus dem zentralen Lichtfenster eines fernsehblauen Schachts, und setzt erstmal auf Erotik, sowie Helene Fischer und Florian Silbereisen. Es hilft ihr nichts, ein paar Sekunden später liegt sie tot am Boden, als erstes Opfer von Wolfram Koch, der seinerseits einem Film noir aus den Fourties entstiegen scheint, gebückt, gedrungen, eckig in den Bewegungen und mit einem heiseren Lachen auf den Stockzähnen.

Humphrey-Bogart-Feelings

Eine Leiche nach der andern zieht er von hinten auf die Bühne, wobei er in erster Linie damit beschäftigt ist, seinen Borsalino wieder aufzusetzen, der ihm slapstickmäßig vom Kopf fällt – in der Anzahl Toten übertrifft dieser Fritsch schon in den ersten Minuten locker jeden Shakespeare. Mit neunzig Minuten wird er am Ende präzis "Tatort"-Länge aufweisen.

TotartTatort 2 560 TanjaDorendorfTTFotografie uEin bisschen Maigret, ein bisschen Humphrey Bogart und viele Trenchcoats: Herbert Fritschs "Totart Tatort" © Tanja Dorendorf / T+T Fotografie  

Herbert Fritsch geht analytisch an den Fall heran. Wobei er sich nicht auf "Tatort" beschränkt, sondern eher so was wie ein vages Allgemein-Filmkrimi-Ambiente ins Visier nimmt, mit Lauren-Bacall-Petticoats und Humphrey-Bogart-Trenchcoats, oder auch mal alle mit Maigret-Pfeifen. Er sichert Stereotype und montiert sie wie Indizien an eine Kette. Das Erschrecken beim Anblick eines Toten, die "Spusi"-Handschuhe, Versatzstücke aus einschlägigen Dialogen: wo waren Sie gestern Nacht, ein Teil der Schädeldecke ist abgesprengt, der Tote befindet sich in zwei Mülltonnen, wir suchen den Opel Vectra.

Borsalino-Hutballett

Die blanken Stereotype übersetzt er in Bewegung, ein grandguignoleskes Gestenrepertoire, das sich in Variationen wiederholt, hysterisch verhetzt oder in morbider Slowmotion, das insgesamt allerdings eher sparsam bleibt und bei den zehn Darsteller*innen unterschiedlich aufgehoben ist. Am wirkungsvollsten sind die chorischen Passagen; ein erster Höhepunkt eine makabre Polonaise des gesamten Ensembles, ein absurder Totentanz, alle ineinander verhakt mit knallblauen Latexhandschuhen.

Ingo Günther hat dazu das komponiert, was in der Audiodeskription vermutlich als "spannungsvolle Musik" bezeichnet wird. Aber auch Hazy Osterwalds notorischer "Kriminal-Tango" darf nicht fehlen – wir sind in der Schweiz – und wird in der aufgerauten Interpretation von Miriam Maertens zu einem weiteren kurzen Höhepunkt an diesem Abend, der an Höhepunkten nicht eben reich ist.

TotartTatort 1 560 TanjaDorendorfTTFotografie uKriminal-Tango, dunkle Gestalten: Markus Scheumann in action © Tanja Dorendorf / T+T Fotografie

Denn die Drôlerie zündet nicht. Dazu mag die Nummern-Dramaturgie des Abends beitragen – mancher Einzelmoment ist hochkomisch, zwischendurch dauert's. Und dauert. Und wirkt erstaunlich ungetimt, etwa ein bleischweres Hutballett von Markus Scheumann, Wolfram Koch und Nicolas Rosat.

Außer Balance

Es mangelt der Inszenierung aber auch an inhaltlicher Entschiedenheit. Sie findet keine Balance zwischen Persiflage und Dada, ironischer Inhaltlichkeit und reinem Spiel – und verliert sich zwischen beidem. Bleibt ein Bild: Claudius Körber aufgehängt im Türrahmen, absurd eingespannt, quer zur Schwerkraft und in der Spiegelung der Decken- und Seitenwände vervielfacht. Da gesteht er alles, zersägt, gehackt, gehäckselt, zweimal aufgegessen hat er sein Opfer. Eine Mise en abyme des Grauens, des gejagten Mörders, so grotesk wie gruselig. Hätte nur der ganze Abend dieses Level gehabt!


Totart Tatort
von Herbert Fritsch
Uraufführung
Regie und Bühne: Herbert Fritsch, Kostüme: Victoria Behr, Musik: Ingo Günther, Dramaturgie: Evy Schubert, Licht: Gerhard Patzelt.
Mit: Jan Bülow, Henrike Johanna Jörissen, Wolfram Koch, Claudius Körber, Miriam Maertens, Lisa-Katrina Mayer, Elisa Plüss, Nicolas Rosat, Markus Scheumann, Friederike Wagner.
Premiere am 22. Februar 2019
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

 

Kritikenrundschau

"So schön diese Inszenierung anzusehen ist, so inhaltsleer ist sie. Es bleibt bei einer szenischen Abfolge von Slapstick- und Pantomime-Nummern ohne Dramaturgie. Das ist manchmal lustig, manchmal albern, öfters zach. Nur eines ist es nicht: spannend", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (25.2.2018)

"Das Team kaspert sich in urkomischen Variationen und Repetitionen", so Alexandra Kedves vom Tagesanzeiger (25.2.2019). Hysterischer Slapstick ganz im Geist des 'Krimi noir' gebe die Tonlage vor. "'Totart Tatort'" ist eine leidenschaftliche Jamsession aus getanzten Gags, komödiantischen Akrobatiknummern und fröhlichem Textbaustein-Weitwurf. Nur stellenweise fällt diese Recherche in ­Sachen Sonntagskrimi ein Spürchen zu lang aus."

"Fritsch hat eine Art surreale Wurzelbehandlung im Sinn. Von Hitchcock über Wallace bis zum 'Tatort', irgendwo zwischen Humphrey Bogart, Fuchsberger, 007, Thiel und Börne suchen er und seine Akteure Muster: Archetypische Sätze und Szenen, die sie zu Loops verdichten und wie Partituren aufführen – akkompagniert vom kongenialen Musiker Ingo Günther", schreibt
Christine Wahl im Tagesspiegel (25.2.2019).

"Fritsch segelt mit 'Totart Tatort' auf dem Satire-Niveau des 'Tatortreinigers', parodiert Krimiklischees, imitiert Doppelgängermotive, persifliert die obligaten Täter- und Opfermilieus – und beruft sich schliesslich auf die Kraft, die Kunst schafft und nicht nur im Fernsehen wirkt: die Behauptung, die Phantasie", schreibt Daniele Muscionico in der Neuen Zürcher Zeitung (24.2.2019). "Das ist nicht nur Poesie, das ist auch Philosophie – und Kunstkritik." Man habe das Ensemble in kaum einer anderen Fritsch-Inszenierung so stark und homogen gesehen.

"Kein Geschehen, dafür viel Geste. Nette Unterhaltung, zieht sich nur ein bisschen“, schreibt Simon Strauß in der FAZ (27.2.2019). "Herbert Fritschs neuste Nummernrevue ist ein surrealer Schwof um das goldene Kalb der deutschsprachigen Fernsehnation."

 

Kommentare  
Totart Tatort, Zürich: Dramaturgie
geile bilder, wie murmel, beeindruckend nur ganz ohne dramaturgie. es ist so langatmig und zieht sich unendlich wie ein tatort eben
Totart Tatort, Zürich: heilige Kühe
Der Mörder mit den Haifischzähnen hat alle Hände voll zu tun und ist schier am Verzweifeln. Gerade erst wurde Henrike Johanna Jörissen, die als fleischgewordenes Fünfziger-Jahre-Blondinen-Klischee mit flötender Stimme die Tatort-Titelsequenz nacherzählte, von ihm erdrosselt und ihre Leiche beseitigt. Mit Haifischgrinsen ist Wolfram Koch sichtlich mit sich zufrieden, als nach und nach weitere Leichen im engen Schacht zur Bluebox-Bühne auftauchen. Immer wenn sich Koch gerade den Schweiß abwischt und ein neues Opfer beseitigt hat, sieht er zunehmend panisch und mit Schreck-geweiteten Augen, dass schon das nächste Opfer bereitliegt. Serienmord wird zur Akkordarbeit und in Herbert Fritschs Sonntagskrimi-Persiflage gibt es schon in den ersten zehn Minuten fast so viele Tote wie in einer ganzen „Tatort“-Saison bis zur Sommerpause.

Damit ist der Ton für den restlichen Abend gesetzt: Herbert Fritsch und sein Ensemble machen sich mit groteskem Slapstick über eine der letzten heiligen Kühe des linearen Fernsehens lustig.

Gekonnt ziehen die Spieler*innen die typischen Sonntagabend-Krimi-Sätze á la „Wo waren Sie gestern zwischen 14 und 17 Uhr?“ durch den Kakao, hantieren mit blauen Latex-Spurensicherungs-Handschuhen und bringen sich gegenseitig mit Spielzeugpistolen um. Zum Finale wird einer nach dem anderen aus dem Hinterhalt abgeknallt, da helfen auch keine Vorsichtsmaßnahmen und kein verstohlenes Schielen nach einem Notausgang.

Mit den Kostümen seiner langjährigen Weggefährtin Victoria Behr, die im Stil von Humphrey Bogart und Columbo diverse Beige-Töne variiert, und mit der Noir- und Krimi-Melodien sampelnden Musik seines ebenfalls langjährigen Partners Ingo Günther schafft Herbert Fritsch eine neunzigminütige Genre-Parodie, die wie üblich bei ihm Slapstick und loopartige Wortwiederholungen mixt. Da „Totart Tatort“ um ein klar umrissenes, handfestes Thema kreist, ist der Abend zugänglicher und weniger redundant als manche von seiner Fangemeinde umschwärmte dadaistische Volksbühnen-Experimente.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/03/09/totart-tatort-herbert-fritsch-schauspiel-zurich-theater-kritik/
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