Beiträge der Saison - Natalka Vorozhbyt darüber, wie es der ukrainischen Kultur- und Theaterszene geht
Versetzt Euch weiter in unsere Lage
14. August 2024. Einer unserer Beiträge der Saison: Die Ukraine geht in den dritten Kriegssommer. Wie geht es der ukrainischen Theater- und Kulturszene, von der man in den Nachrichten über Waffen- oder Munitionslieferungen, Drohnen-Angriffe und Frontkämpfe nichts hört? Die Autorin und Theatermacherin Natalka Vorozhbyt gibt Antworten.
Interview von Simone Kaempf
23. Mai 2024. Natalka Vorozhbyt wird als Autorin im deutschsprachigen Raum viel gespielt. Sie war eine der ersten Theatermacher*innen, die 2014 im Donbass zu arbeiten begann. Was dokumentarisch begann, hat sich über die vergangenen Jahre völlig verändert. "Ich wurde selbst zum Teil des Stoffes", hat sie einmal gesagt. In diesem Jahr pendelte sie viel zwischen Kyjiw und Großbritannien, im Sommer wird sie eine von fünf Autor*innen einer Schreib-Residenz in Österreich sein.
Sie sind vor zwei Jahren mit Ihrer Mutter und Ihrer Tochter nach Wien geflohen und dann alle gemeinsam nach Kyjiw zurückgekehrt. Dieses Jahr verbringen Sie im Rahmen des "Arts Residency Programme" viel Zeit in Großbritannien. Die Welten, zwischen denen Sie pendeln, sind sehr unterschiedlich. Wie kommen Sie damit immer wieder neu zurecht?
Das ist ein sehr merkwürdiges Gefühl, an das man sich unmöglich gewöhnen kann. Ich pendele permanent zwischen zwei unterschiedlichen Realitäten. Dermaßen unterschiedlichen, dass es schwer zu begreifen ist. Vor einer Weile bin ich wieder einmal aus der Ukraine nach Oxford gefahren. Die Reise dauert immer sehr lange: mehrere Züge, dann ein Flugzeug und ein Bus, und ich beobachte in dem langsamen Tempo, in dem ich mich fortbewege, wie sich der Kontext verändert, die Menschen, die Wahrnehmung unseres Krieges. Vom Verständnis gemeinsamen Leids und Solidarität bis hin zu völliger Gleichgültigkeit. Ich möchte dann immer sofort zurück nach Hause, um Unterstützung und Verständnis zu erfahren, denn in anderen Ländern nimmt diese Unterstützung immer weiter ab. Aber dank dieser Lebensweise habe ich wenigstens keine Illusionen.
Zu Hause ist der Krieg leichter zu ertragen, das sehen viele so, vor allem, wenn man in Kyjiw wohnt, wo man mehr oder weniger geschützt ist, und nicht in Charkiw, zum Beispiel. Aber das ist die emotionale Seite. Die rationale ist, dass es für dein Kind im Ausland besser ist. Das ist eine Zerreißprobe. Wir kommen an wunderschöne Orte, von denen wir früher nur träumen konnten, und können uns nicht darüber freuen. Die Reiseromantik ist komplett verschwunden. Die schlimmste Strafandrohung für meine Tochter, die vor einem Monat in die Ukraine zurückgekehrt ist, klingt so: "Du gehst bald wieder in Oxford zur Schule." Ihr ist es lieber, im Flur zu schlafen und die Explosionen zu hören als in einer schönen, attraktiven und sicheren Stadt zu leben und zu lernen.
Wie geht es der Kulturszene in Kyjiw?
In Kyjiw gibt es gerade ein sehr interessantes und reichhaltiges Kulturleben. Mehr als je zuvor. Für bestimmte Inszenierungen bekommt man einfach keine Karten, es gibt Kunstausstellungen, wo ukrainische Künstler*innen, die vom Sowjetregime vernichtet und jahrzehntelang totgeschwiegen wurden, neu entdeckt werden. Gerade gibt es in der Gesellschaft einen großen Bedarf an solchen Veranstaltungen. Als würden wir unsere Geschichte und Kultur neu kennenlernen und von diesen Künstler*innen, die vernichtet worden waren, Kraft und Motivation für den weiteren Kampf erhalten. Jede Veranstaltung hat mehr Bedeutung als früher. Die Menschen gehen aus unterschiedlichen Gründen zu Kulturveranstaltungen, um sich als Teil der Gemeinschaft zu fühlen, um trotz des Krieges ein friedliches Leben zu führen, um sich vom Krieg abzulenken oder umgekehrt, um darüber zu reden und nachzudenken.
Heißt, Kunst und Kultur können in der Ukraine derzeit einen Beitrag zur Nationenbildung leisten?
Ja, selbstverständlich.
Im März 2022 sollte in Kyjiw ein neues Autor*innentheater eröffnet werden, initiiert von einem Kollektiv von zwanzig ukrainischen Dramatiker*innen. Die Pläne wurden durch den Krieg vereitelt. Wie sehen Sie die ukrainische Theaterszene? Was passiert da gerade?
Das Theater der Dramatiker*innen wurde im Dezember 2022 eröffnet, als unser künstlerischer Leiter Maksym Kurochkin von der Front zurückkehrte. Jetzt haben wir annähernd fünfzehn Inszenierungen im Repertoire. Das sind alles Stücke, die in den letzten zwei Jahren von ukrainischen Dramatiker*innen geschrieben wurden. Die meisten sind Reflexionen über den Krieg. Ich kann nicht sagen, dass alle Zuschauer*innen Stücke über den Krieg sehen wollen, natürlich verschließen sich viele dem Thema. Es ist schwierig mit dem Marketing, es ist schwierig, den Krieg in der Ukraine zu verkaufen. Da es ein freies Theater ist, das keine staatlichen Mittel erhält, sind wir ständig auf der Suche nach Förderungen und Möglichkeiten weiterzuarbeiten.
Es gibt auch ein gewisses Problem mit Regisseur*innen, es sind zu wenige. Aber diese Plattform hat mittlerweile einen wichtigen Platz und entwickelt sich weiter. Wir machen zum Beispiel gemeinsame Projekte mit dem Burgtheater Wien, mit Theatern in Estland und verschiedenen amerikanischen Produktionen. Die Stücke der Dramatiker*innen unseres Theaters werden auf der ganzen Welt gelesen und inszeniert, das internationale Leben des Theaters ist vielleicht gerade sogar intensiver als das nationale.
Ist das Theater in Kyjiw eher eine Enklave oder stehen dort auch Stücke wie "Zerstörte Straßen" oder "Green Corridors" auf dem Spielplan?
Von beiden Stücken sind derzeit Inszenierungen zu sehen, von "Green Corridors" gleich an zwei Theatern. In gewissem Maße sind unsere Theater immer eine Enklave geblieben, vor allem die staatlichen. Aber unsere Realität lässt sich sehr schwer ignorieren, sie dringt jetzt sogar dorthin durch. In jedem Theater gibt es Schauspieler*innen und andere Mitarbeiter*innen, die an der Front kämpfen. Von einem Schauspieler, der in meiner Inszenierung mitgespielt hat, mussten wir uns schon einen Monat nach der Premiere auf derselben Bühne verabschieden – er war im Krieg gefallen.
Wie sehen Sie die Inszenierungen Ihrer Stücke in westeuropäischen Städten, in Wien, München, Essen oder Großbritannien? Gibt es einen Dialog mit dem Publikum?
Für mich ist das eine sehr wichtige Möglichkeit, in Europa an die Ukraine zu erinnern. Das sehe ich jetzt als meine Hauptaufgabe. Früher habe ich geschrieben, um mich auszudrücken, um meine künstlerischen Ambitionen zu verwirklichen, ich wollte überraschen und experimentieren, das ist jetzt alles zweitrangig. Meine Aufgabe besteht jetzt darin, das, was bei uns passiert, für die Menschen außerhalb der Ukraine zu verdeutlichen und zu übersetzen, dafür zu sorgen, dass sie uns nicht vergessen und weiter unterstützen, unsere sehr spezielle und für andere unverständliche Erfahrung in eine universelle Sprache zu übersetzen. Das ist jetzt eine Frage von Leben und Tod.
Ich komme gerade von einer Veranstaltung in Liechtenstein zurück, die dem Europarat gewidmet war, dessen Vertreter*innen auch anwesend waren. Nach der Lesung kamen einige von ihnen auf mich zu und sagten, dass sie sich in die Lage der Figur meines Textes hineinversetzen konnten. Und diese Figur ist ein ganz gewöhnlicher ukrainischer Mann, der Angst hat, in den Krieg zu gehen, aber gehen muss. Und genau das war mein Ziel – dass sie sich in seine Lage versetzen, in unsere Lage versetzen, dass das ihre Haltung uns gegenüber und somit auch ihre Unterstützung beeinflusst.
Wenn ich keinen Dialog mit dem Publikum spüren würde, hätte ich wahrscheinlich schon längst die Hoffnung verloren. Aber bei meinen Aufführungen im Ausland spüre ich eine sehr lebendige und emotionale Reaktion, ich treffe da einen Nerv. Leider ist das Theaterpublikum sehr klein, aber das ist besser als nichts.
Spielen Sie in diesen Städten nicht doch vor allem für Ukrainer*innen im Exil?
Nein, für mich ist es wichtiger, mit Vertreter*innen anderer Länder zu sprechen. Sie sind mein Zielpublikum. Unsere Emigrant*innen agieren bei unseren Kulturveranstaltungen meist als Zensor*innen. Sie finden oft, dass wir irgendwas nicht richtig genug machen. Ein kritischer Blick auf die Ukrainer*innen regt sie auf, sie wollen uns als heldenhafte, unbezwingbare Siegertypen sehen. Aber ich möchte, dass wir als lebendige und reflektierende moderne Menschen gesehen werden, die leben und sich weiterentwickeln möchten und nicht kämpfen. Menschen wie sie, die aufgrund ihrer fatalen geografischen Lage in Schwierigkeiten geraten sind. Und wenn sich diese geografische Lage ändert, indem sie einen Sieg Russlands zulassen, könnten sie die nächsten Opfer werden.
Im Frühling 2022 gab es viele Solidaritätsbekundungen aus der Theater- und Kulturszene in Deutschland. Wurden die damals gegebenen Versprechen gehalten? Wie ist der Stand aus Ihrer Sicht?
Die Kulturszene in den einzelnen Ländern verhält sich meist im Einklang mit der Politik dieser Länder. Vieles hängt also von der Rhetorik der jeweiligen Regierung und dem historischen Hintergrund ab. Obwohl auch in den russlandfreundlichsten Ländern die Theater im ersten Kriegsjahr ukrainische Künstler*innen unterstützt haben, Kunstschaffende sind ja doch oft aufgeschlossener und empathischer. Momentan erhalte ich keine neuen Aufträge für Stücke über den Krieg in der Ukraine oder über die Ukraine. Den letzten Auftrag habe ich vor einem halben Jahr bekommen. Alles, was sich lange hinzieht und einen nicht unmittelbar betrifft, wird mit der Zeit immer weniger interessant. Sich das einzugestehen, ist natürlich schmerzhaft.
Nach der Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges im Donbas 2014 rückte die ukrainische Sprache stärker in den Vordergrund. Sie haben schon vor 2014 auf Ukrainisch geschrieben. Haben sich Kultur und Literatur durch den Wechsel zur ukrainischen Sprache verändert?
Meine Mutter war zu Sowjetzeiten und in den ersten Jahren der Unabhängigkeit der Ukraine Leiterin einer Buchhandlung. Ich kann mich noch daran erinnern, dass die Regale damals voll mit sowjetischer Propagandaliteratur waren, mit russischer Klassik, genehmen ausländischen Autor*innen, die den Kommunismus unterstützten. Neunzig Prozent aller Titel waren russischsprachig. Ich weiß noch, wie die Buchhandlungen dann eine nach der anderen schlossen und an ihrer Stelle Boutiquen mit Pelzmänteln und teuren Badeinrichtungen auftauchten, die freie Marktwirtschaft hatte im Land Einzug gehalten, und wir stillten unseren materiellen und gastronomischen Hunger.
Ende der 2000er Jahre wurden dann nach und nach neue Buchhandlungen eröffnet, mit neuen Konzepten und einem bedeutenden Anteil an ukrainischsprachiger Literatur. In den Regalen mit der ausländischen Literatur stand auch die russische. In den letzten beiden Jahren haben wir einen regelrechten Publikationsboom erlebt, viele neue Buchhandlungen wurden während des Krieges eröffnet, das sind angesagte, tolle Läden, es wird sehr viel übersetzt, es werden Literaturfestivals veranstaltet. Und heutzutage findet man nirgendwo auch nur ein einziges Buch in russischer Sprache, wirklich kein einziges. Und das ist einzig und allein das Verdienst der Russen. Wir selbst hätten das nie geschafft.
Vor kurzem war ich auf einer Preisverleihung für ausländische Übersetzer*innen, die ukrainische Literatur in ihre Sprachen übersetzen. Einige dieser Übersetzer*innen haben früher aus dem Russischen übersetzt und tun das jetzt nicht mehr. Diese Menschen leisten eine außerordentlich wichtige Arbeit. Und das ist ein großer Ansporn für uns, auf Ukrainisch zu schreiben. Früher erreichten unsere Stimmen die Welt oft nicht, wir hatten kaum Übersetzer*innen und schienen stellenweise nicht zu existieren, aber jetzt ändert sich das alles.
Die Lage ist viel unsicherer als im letzten Jahr. Die letzte Sommeroffensive gilt als gescheitert. Es mangelt an Munition. Im Frühjahr ist in der Ukraine ein neues Rekrutierungsgesetz in Kraft getreten. Das US-Repräsentantenhaus hat ein neues milliardenschweres Hilfspaket bewilligt, aber in Amerika stehen Wahlen an, und in der Region Charkiw ist Russland auf dem Vormarsch, das berichten die Medien täglich. Wie sehen Sie die Zukunft?
Als ich Ihre Frage gelesen habe, wollte ich einfach nur schreien. Übersetzt ins Ukrainische klingt das wie: "Wir und Amerika haben euch fallenlassen, die Russen werden euch vernichten, wie seht ihr die Zukunft?" Es fällt mir schwer, nach solchen Fragen auch nur zu atmen. Aber dann reiße ich mich zusammen. Denke an all die großartigen Menschen, meine Kolleg*innen, Freund*innen, Gleichgesinnte, die jetzt in diesem Moment unglaubliche Anstrengungen unternehmen und sich nicht erlauben, an unserem Sieg zu zweifeln. Und selbst wenn sie mal zweifeln, machen sie weiter.
Sie erwähnen die gescheiterte Sommeroffensive... Ist es nicht wichtiger zu sagen, dass wir schon seit mehr als zwei Jahren angesichts eines so starken und niederträchtigen Feindes und ohne ausreichende Unterstützung standhalten? Wir halten stand. Wir stehen wie eine Mauer und halten die schreckliche Bestie auf dem Weg nach Europa auf. Wir haben nur begrenzte Ressourcen und ständig zu wenig Waffen, weil die Entscheidungen über Militärhilfe lange dauern und zu spät getroffen werden. Viele der besten Leute sterben jeden Tag, um die Russen aufzuhalten, die auf unser Territorium, auf unsere und Ihre Freiheit vorrücken und alles zerstören, woran wir glauben. Reicht das nicht, um uns zu helfen, den Krieg zu gewinnen?
Aus dem Ukrainischen von Lydia Nagel. Die Fragen wurden von Simone Kaempf per email gestellt.
Natalka Vorozbhyt, 1975 in Kyjiw geboren, ist Dramatikerin, Theatermacherin, Drehbuchautorin. Zusammen mit dem deutschen Regisseur Georg Genoux gründete sie bereits nach Kriegsbeginn im Donbas das Theater der Vertriebenen, in dem Flüchtlinge aus dem Donbas ihre Geschichten erzählten. Für die Verfilmung ihres Theaterstücks "Bad Roads" führte sie selber Regie. Sie ist vielfach ausgezeichnet und Autorin zahlreicher Theaterstücke, die sowohl in der Ukraine als auch international aufgeführt werden.
Mehr:
- Die ukrainische Dramatikerin und Regisseurin Anastasiia Kosodii spricht über den Krieg und ihre Arbeit im Exil - Interview von Sophie Diesselhorst (2/2023)
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