Ein Gebot unserer Zeit

3. Mai 2023. Es soll ein Treffpunkt für Neugierige und Nerds werden: Das Extended Reality Theater, das das Staatstheater Nürnberg im dritten Stock seines Schauspielhauses eröffnet. Über die Pläne für den Ort, der Digitalkunst und analoges Schauspiel verbinden will, sprechen die Macher Jan Philipp Gloger und Roman Senkl.

Interview von Andreas Thamm

Nürnbergs neue digitale Spielstätte: das Extended Reality Theater © Alexander Hunzek

3. Mai 2023. Das Extendend Reality Theater (XRT) wird am 23. Juni 2023 offiziell eröffnet. Im Interview mit Andreas Thamm erklären Nürnbergs Schauspielchef Jan-Philipp Gloger und XRT-Leiter Roman Senkl, wie digitales Theater vor Ort funktioniert, wie man es schafft, damit auch nach der Pandemie ein Publikum zu finden, und welche Impulse sie aus dem neueren Netztheater aufgreifen.

Das Staatstheater Nürnberg etabliert die erste Spielstätte für digitales Theater. Das klingt schön paradox, weil digitale Formate bislang vor allem für zu Hause produziert wurden. Wie soll das XRT in der 3. Etage konkret aussehen?

Jan Philipp Gloger: Unser Alleinstellungsmerkmal wird die Co-Präsenz sein, weil man sich im XRT begegnet und Inszenierungen vor Ort erlebt, die einerseits stark auf digitaler Technik aufbauen und sich andererseits mit den Themen der Veränderung der Welt befassen. Konkret wird dafür unsere kleinste Bühne umfunktioniert, es wird Technik eingebaut und ein anderes neues Programm gespielt, das Roman Senkl und Nils Corte mitbringen. Senkl und Corte arbeiten dort selbst als Künstler und mit Gastkünstler*innen, die sich seit längerem mit digitalen Ausdrucksformen beschäftigen. So entsteht ein hybrider Repertoirebetrieb mit unserem Ensemble des Staatstheaters.

Roman Senkl: Der Wesenskern des XRT ist, dass wir dort auch Onlinetheater machen, dass wir dort zum Beispiel mit Virtual Reality oder Livestreaming arbeiten, aber auch andere Formen von hybridem Theater erforschen können. Das Theater wird ins Netz gestreamt, und das Netz wird auf die Bühne geholt. Wir werden, noch nicht in der ersten Spielzeit, aber mit der Zeit, alle möglichen Kanäle und Kombinationen bespielen. So entsteht ein hybrider Raum im Zentrum der Stadt, wo geprobt, gesendet und gezeigt werden kann.

Gloger: Alle vier Produktionen der ersten Spielzeit haben das Element der realen Anwesenheit. Für uns ist das Element der Technik zum Anfassen eine ganz wichtige Komponente. Wir machen etwas, das das Theater für mich seit jeher ausmacht: Verzaubern mit offenen Mitteln. Man sieht, wie man manipuliert wird, und kommt dadurch in die Lage, seine eigenen Wahrnehmungen zu beobachten und zu thematisieren.

Woher kam der Impuls, das digitale Theater in Nürnberg fest am Haus zu installieren? Und wie viel Vorlaufzeit steckt in dieser Ankündigung?

Gloger: Wir hatten einen Vorlauf von anderthalb Jahren. Die Idee kommt nicht nur aus den Erfahrungen der Pandemie. Wir hatten 2019 bereits eine Produktion mit VR Brillen mit der Costa Compagnie. Gerade als öffentlich finanzierte Institution sehe ich es als unsere Verpflichtung, die Gegenwart auch mit den Mitteln der Gegenwart zu untersuchen, das wird in dieser Spielstätte logisch fortgesetzt. Wir sehen das aktuell wieder in den Debatten um KI: Diese digitalen Aspekte verwachsen derart mit unserem Alltag als Menschen, dass wir eine Kunst der direkten Begegnung brauchen, um sie zu befragen und dem Spiel preiszugeben. Das ist ein Gebot unserer Zeit.

Kann man trotzdem sagen, dass es diese Spielstätte ohne die Pandemie nicht geben würde oder sie zumindest anders aussehen würde?

Senkl: Ich glaube, dass es das in vielleicht etwas anderer Form trotzdem gegeben hätte. Die Pandemie hat tatsächlich unsere Zusammenarbeit mit dem Schauspiel in Nürnberg beschleunigt und intensiviert. Ich versuche digitale Sparten und Häuser als Projekt aber schon lange zu pushen und ich bin sehr froh, dass wir hier mit Nürnberg sehr früh auf einer Wellenlänge waren. Überlegungen, die es hier schon gab, haben sich mit unseren sehr symbiotisch verbunden. Die Themen sind eben da und die Gesellschaft endet nicht im analogen Raum, unabhängig davon, ob das Theater akut dafür oder dagegen ist.

Jan Philipp Gloger 805 Konrad Fersterer uNürnbergs Schauspieldirektor Jan Philipp Gloger © Konrad Fersterer

Gloger: Ob die Spielstätte bei uns auch ohne Pandemie entstanden wäre, weiß ich nicht. Man braucht dazu immer auch Menschen, die den Mut und das Feuer mitbringen wie Roman und Nils. Wir als Staatstheater hängen immer das Literaturtheater und die Schauspielkunst hoch. Wir sind von einem Glauben an die klassische Verwandlung und die Kraft der Literatur schon auch überzeugt. Und ich musste selbst erst lernen, dass das Digitale den Begriff von Schauspielkunst erweitert. Wir gehen damit bewusst erst in ein Labor, nicht auf die große Bühne, weil wir glauben, dass diese digitale Schauspielkunst erst zu entwickeln ist. Mit Technologie wie Movement Suits zu spielen, ist eine Technik, die wie jede andere handwerkliche Technik, mit der Zeit in Fleisch und Blut übergehen wird. Wie kann man Schauspielkunst dahingehend entwickeln, dass es entspannt wird, beim Spielen eine Maschine zu bedienen?

Besteht nicht trotzdem die Gefahr, dass das digitale Theater in nichtpandemischen Zeiten weniger verfängt? Oder dass das jetzt zumindest wieder eine größere Übersetzungsleistung bedeutet?

Senkl: Es ist definitiv so, dass es in dieser Coronaphase ein besonders großes Interesse gab und dass sich das verändert und in der Masse erst einmal wieder etwas reduzieren wird. Die Auseinandersetzung wird dadurch aber auch ehrlicher und ernsthafter, weil es nicht mehr, wie zu Coronazeiten, um die reinen Überlebensimpulse des Theaters geht: Hauptsache, es findet irgendetwas statt! Ganz viele Theater haben in dieser Zeit neue Erfahrungen gemacht und jetzt kristallisiert sich heraus, an welchen Häusern sich ein tiefer gehendes Interesse verankert hat, sich inhaltlich, langfristig und prozesshaft mit Digitalität auseinanderzusetzen. Gleichzeitig wächst auch in den Online-Communities das Interesse für Theater. Diese Publika führen wir gerade zusammen, von daher sehe ich langfristig eher ein steigendes Interesse.

Gloger: Ich bin total optimistisch. Wir wissen ja noch gar nicht, wie es ist, weil wir etwas machen, was es während Corona nicht gab: Die Studios wurden als erstes geschlossen, man konnte nicht in kleinen Räumen zusammensitzen. Die Möglichkeit, diese Technologie live zu erleben, ist etwas, was erst jetzt mit neuem Potential kommen kann. Das andere ist: Wir haben in der 3. Etage ein Abo-Publikum, das nicht Schiller und Kleist erwartet, sondern bereits an Oliver-Zahn-Lecture-Performances und anderem geschult ist. Der Ort war immer schon unsere experimentelle Spielstätte, es darf aber gerne auch Stoffe für eine größere Öffentlichkeit dort geben. Das dritte ist die Hoffnung auf ein jüngeres und ganz junges Publikum. Das haben wir gesehen, als "PANs Lab" mit einem Mal 90.000 Klicks bei Twitch hatte. Auf dem Weg baut ein jüngeres Publikum die Schwellenängste ab, die es logischerweise hat. Und wir haben für dieses Experiment Leute gefunden, die nicht auf einen Trend aufgesprungen sind, sondern die das aus einem Need heraus machen, gegen alle Widerstände.

Senkl: Einer meiner Initialpunkte, um mich eingehend ästhetisch mit digitalen Mitteln am Theater auseinanderzusetzen war die Zusammenarbeit mit Schauspielenden auf der klassischen Bühne, mit denen ich mich bei einer Stückentwicklung für das Thema Algorithmen entschieden habe. Das war ein junges Ensemble, das endlich darüber sprechen wollte, wie werden wir getrackt, was machen Algorithmen beispielsweise bei Social Media mit uns das, wie beeinflussen diese unseren Blick auf die Wirklichkeit …? Im Prozess und in den Improvisationen haben wir gemerkt, dass das Thema plötzlich wieder verschwunden war. Auf einmal ging es doch wieder vor allem um zwischenmenschliche Beziehungen. Im Gespräch habe ich festgestellt, dass uns in der Improvisation, im Erproben oft einfach die Darstellungsweise für diese Fragestellung gefehlt hat: Wie bringen wir Algorithmen auf die Bühne und zwar nicht nur als Wort, sondern als sinnliche Erfahrung?

Eine enge Verbindung zwischen Tech-Szene und Schauspiel suchte schon in den frühen 2010er Jahren das Schauspiel Dortmund unter Kay Voges. Daraus ging die Dortmunder Akademie für Theater und Digitalität hervor, an der Sie, Herr Senkl, auch arbeiteten. Haben Sie Impulse von dort mitgenommen?

Senkl: Sowohl von der praktischen, künstlerischen Arbeit mit Kay Voges, der mich am Ende meines Regiestudiums nach Dortmund ins dortige Leitungsteam des Schauspiel geholt hat, als auch die Arbeit an der Akademie für Theater und Digitalität – bzw. mittlerweile im Departement Digitale Künste, das ich neben der Akademie, gemeinsam mit Nils Corte am Theater Dortmund gegründet habe – waren und sind das für mich sehr wesentliche Jahre. Am Ende meines Regie-Studiums war ich an dem Punkt, wo ich überlegt habe, ob ich die Widerständigkeit des Theaters, was Digitalität betrifft, vielleicht auch einfach unterschätzt habe. Mir war klar, dass sich das Theater in Zukunft mit diesen Themen befassen wird, allerdings hatte ich auch den Eindruck, dass es bereits da sehr spät war für diesen Schritt. Weil diese Themen in Wahrheit unseren Alltag, gesellschaftlich, persönlich, politisch bereits tiefgreifend prägten, es am Theater aber immer noch kaum möglich war, selbst kleine Produktionen unterzubringen, die sich mit diesen Themen intensiv auseinandersetzen, mehr noch mit digitalen Mitteln selbst.

XRT Nuernberg ScreenshotRoman Senkl und Nils Corte in digitaler Umgebung bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des XRT Nürnberg im April 2023 | Screenshot

Das führte schließlich zu vielen Jahren sehr erfolgreicher Theaterprojekte, ausverkaufter Arbeiten, 1000er Zuschauer:innen pro Vorstellung bei allerdings gänzlich eigenproduzierten und -finanzierten Inszenierungen – erfolgreich also vor allem in einem off-off-Sinne, jenseits etablierter Strukturen, in Berliner Keller-Clubs, kruden Proberäumen oder direkt draußen im städtischen Raum, realisiert lediglich mit einer kleinen Gruppe Enthusiast*innen. Im Grunde also waren die Jahre mit und nach Kay am Theater Dortmund jene, in denen ich erstmals die Möglichkeiten hatte, diese eigenen Ideen von digitalem und hybridem Theater auch langfristig am Stadttheater zu verfolgen und zu erproben.

Was versprechen Sie sich von dieser festen Stelle in Nürnberg, welche Möglichkeiten bietet das im Gegensatz zum Gastspiel?

Senkl: Ich habe mich bei den Projekten in der Vergangenheit immer gefragt, wie kommt man von diesen Inseln, diesen Glasglocken weg? Das heißt: Ein Haus beschließt, auch mal so eine digitale Produktion zu machen. Dann schafft man mit einigem Aufwand, parallel zu den Proben, die dafür notwendige digitale Infrastruktur an, und ab dem Moment, wo das alles aufgebaut ist, wird auch alles einfacher. Danach wird das Setup aber direkt wieder eingemottet und man zieht weiter zum nächsten Haus, wo der Prozess von vorne beginnt. Das ist weder nachhaltig noch ressourcenschonend. In Nürnberg haben wir jetzt andere Möglichkeiten, auch zwischen den Produktionen an Fragestellungen aber auch an Soft- und Hardware weiterzuarbeiten. Wir können aktiv auf Künstler*innen zugehen und ihnen das, was wir an künstlerischer Technik aufgebaut haben, direkt und unmittelbar zur Verfügung stellen.

Wie ist das XRT strukturell beheimatet, also sind das Aufführungen, die zu den "normalen" Aufführungen im Staatstheater hinzukommen?

Gloger: Das ganze ist ein Projekt der Sparte Schauspiel, keine eigene Sparte. Das heißt, wir müssen transformieren, nicht "on top" legen. Das kann man in Zeiten der knapper werdenden Ressourcen und zu Recht steigenden Personalkosten nicht machen. Wir widmen um. Die Stelle eines unserer beiden Theatermusiker*innen wird zur Stelle von Senkl und Corte umgewidmet.

In Köln gibt es am kommenden Wochenende ebenfalls eine Senkl/Corte-Premiere, "Hinter den Zimmern", nach einem Text von Wilke Weermann. Wie sehr ist das Digitale im Allgemeinen mittlerweile in der Deutschen Theaterlandschaft angekommen? Und wird Nürnberg in dieser Hinsicht in den kommenden Jahren stilprägend sein?

Gloger: Wir sehen mit großer Neugier, was andere Institutionen schon geleistet haben, zum Beispiel Augsburg und Tina Lorenz, oder eben die Akademie in Dortmund, die eine fantastische, euphorisierende Arbeit macht. Wir glauben, wir werden ein bedeutender Mosaikstein von vielen sein. Was es bei uns gibt, ist diese Spielstätte zum Anfassen, mit Schauspieler*innen, die Repertoiretheater machen. Wir bringen das Hardware-Commitment mit. Das heißt auch, an anderer Stelle etwas wegzunehmen und das ist immer auch ein schmerzlicher Vorgang, den man intern vermitteln muss. Ein paar Testballons in Deutschland sind auch schon wieder ziemlich sang- und klanglos verschwunden. Wir wollen mehr sein als ein solcher Testballon.

odysseus1 Konrad Fersterer Theaterproduktion für die Bühne und parallel fürs Internet: "Odysseus.live" von Cosmea Spelleken im September 2022 am Staatstheater Nürnberg © Konrad Fersterer

Senkl: Ich glaube, es gibt einen wachsenden Verbund von Häusern, die das mit großer Leidenschaft vorantreiben. Unsere Rolle als XRT sehe ich als Netzwerkknotenpunkt. Es ist Teil dieses Konzeptes, den überregionalen Austausch mit anderen Häusern voranzutreiben und das, was wir erarbeitet haben, zum Beispiel über Open Source, auch zugänglich zu machen und unser Know-how zu teilen, während wir immer auch schauen: was machen andere, was für uns interessant sein könnte?

Sie werden in Nürnberg mit Netztheater-Regisseurin Cosmea Spelleken oder dem VR-Kollektiv CyberRäuber zusammenarbeiten. Welche Tendenzen im digitalen Theater und welche Gruppen finden Sie darüber hinaus momentan spannend? Was sollte man sich in dem Bereich ansehen?

Senkl: Vor Corona gab es bereits viele Jahre lang ein recht kleines, aber umtriebiges Geflecht an Leuten, die sich früh mit Konzepten von Spielen und Theater und digitalen Mitteln im Theater befasst haben, darunter auch Gruppen wie die eben CyberRäuber, aber auch Arne Vogelgesang, Laokoon, Anna Kpok, Machina eX, Invisible Playground, die Komplexbrigade oder onlinetheater.live. Ich finde es gerade sehr spannend zu verfolgen, wohin sich diese Gruppen oder Leute bewegen. Spannend sind auch die Häuser, die mittlerweile versuchen, Digitalität am Theater langfristiger zu verfolgen. Neben Dortmund, Augsburg und dem Volkstheater in Wien denke ich da zum Beispiel an das Schauspiel Köln und das Staatstheater Oldenburg – und natürlich an die Produktionshäuser der freien Szene. Daneben gibt es zahlreiche jüngere, sehr viel experimentellere Versuche, digitales oder hybrides Theater anders zu denken: Ludwig Technique, die wir zu Gast hatten an der Akademie für Theater und Digitalität, haben bereits während Corona darüber nachgedacht, theatrale Erlebnisse wortwörtlich in einer "Pizzaschachtel" auszuliefern. Luise Ehrenwerth hat darüber nachgedacht, wie man Kostüm und Digitalität beispielsweise durch elektrisch leitfähige Stoffe oder Augmented Reality Marker auf Kostümen neu denken kann. Theater hat sich in Wahrheit immer weiterentwickelt – neue Technologien ermöglichen neue Erzähl- und Spielweisen. Gerade die Bereiche, in denen Theater auch praktisch forscht, in denen nicht nur angewandt, sondern auch konkret mitgestaltet, mitgeformt und entwickelt wird, die interessieren mich besonders.


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