Freie Kunst in engen Räumen

29. August 2024. Am Sonntag wird in Sachsen und Thüringen gewählt. Kulturpolitisch wird der prognostizierte Ruck nach Rechts Folgen haben. Wie sie beim Festival Osten in Bitterfeld-Wolfen schon jetzt mit sich teils rasant verengenden Spielräumen umgehen mussten, berichten zwei der Kuratoren in ihrer Chronologie der Ereignisse.

Von Aljoscha Begrich und Christian Tschirner

Abschlusspicknick beim Osten Festival in Bitterfeld-Wolfen 2024 © Falk Wenzel

Juni 2023

In und um das seit Jahren leerstehende Kino in der Filmstadt Wolfen findet unser Festival OSTEN 2023 statt. Es ist die kleinere Ausgabe des Festivals – ein Wochenende vollgepackt mit Kunst, Performance, Film und Begegnung und zugleich Auftakt für die nächste, größere Ausgabe im Sommer darauf. Das Festival erforscht und feiert "den Osten" als Landschaft der Veränderungen für Mensch, Natur und Zusammenleben. Es will zum Austausch über Geschichte, Gegenwart und Zukunft "des Ostens" anregen, auch über Ostdeutschland hinaus. Was bedeutet Osten? Was ist spezifisch, was international? Was lässt sich aus der Vergangenheit lernen? Welche Ideen und Visionen gibt es für die Zukunft?

An diesem Wochenende stellen Künstler*innen einige der partizipativen Projekte vor, werben um Teilnehmer*innen, geben Workshops und verabreden erste Proben. Das Wetter ist herrlich, der Andrang groß und die Stimmung toll. Beim Abbau sprechen wir mit dem Oberbürgermeister. Er bedankt sich bei uns und wirkt gleichzeitig seltsam kraftlos. Er bezweifelt, daß er die Wahl gewinnen wird. Die Rechten seien einfach zu stark. Am Abend hören wir das Ergebnis der Bürgermeisterwahl im Nachbarort Raguhn-Jeßnitz: Mit 51 Prozent wird dort der erste AFD-Bürgermeister in Deutschland gewählt. 



September 2023

In Bitterfeld-Wolfen liegt der AFD-Kandidat 4 Prozent vor dem Zweitplatzierten, dem Amtsinhaber von der CDU. Es kommt zur Stichwahl. In der Bevölkerung regt sich Widerstand, schnell wird ein Bündnis für Demokratie und Toleranz geschmiedet, um einen AFD-Bürgermeister zu verhindern. Das Festival OSTEN unterstützt das Bündnis von Anfang an. Tatsächlich wird bei der Wahl der Amtsinhaber von der CDU, der Oberbürgermeister, mit 53 Prozent im Amt bestätigt. Die Freude ist groß. Nur 47 Prozent der Wähler:innen haben einen Kandidaten aus einer als gesichert rechtsextrem eingestuften Partei gewählt…

Januar 2024

Wir möchten die ehemalige Feuerwache der Stadt als Festivalzentrum nutzen. Die erste Begehung dazu fand bereits im Sommer statt. Die Bürgermeisterin begrüßte die Idee und erhoffte sich dadurch eine bessere Vermarktung der Liegenschaft, die verkauft werden 
soll. Danach beginnt ein langes Hin und Her, verschieben von Verantwortlichkeiten und Verzögerungen. Diese Situation erklärt sich, als wir herausfinden, dass die Vertragsschließung durch stadtinterne Diskussionen über die Nutzungsentgelte hinausgezögert wurde. In der Sitzung des Haupt- und Finanzausschusses vom 24. Januar 2024 fordern Vertreter der AFD und Pro Bitterfeld-Wolfen, die Stadt solle von uns ein Nutzungsentgelt für das leerstehende Gebäude erheben. 



Februar 2024

Wir stecken mitten in den Vorbereitungen für das Festival, das diesmal auf dem Gelände der ehemaligen ORWO-Filmfabrik in Wolfen stattfinden wird. Neben der Nutzung der ehemaligen Feuerwache, die im städtischen Besitz ist, wollen wir auch ein Konzert im Ratssaal 
des Rathauses Bitterfeld-Wolfen veranstalten, dem ehemaligen Firmensitz des IG Farben Konzerns. Der Oberbürgermeister erklärt uns im Gespräch, es sei unklug gewesen, dass sich das Festival bei seiner Wahl politisch exponiert habe. Es sei nun sehr viel schwieriger für ihn, das 
Festival zu unterstützen. Wie bitte? Ohne die Unterstützung des Bündnis für Demokratie und Toleranz wäre er vermutlich nicht mehr im Amt? Richtig, trotzdem sei die Lage nun sehr viel komplizierter geworden. Wir verstehen gar nicht richtig, was er meint. 



Osten Fstival 2024 06 01 Eroeffnung mit Anbaden c Falk Wenzel uDie Kurator*innen des Osten Festivals 2024, links Aljoscha Begrich, rechts Christian Tschirner, in der Mitte Anne Diestelkamp und Martin Naundorf © Falk Wenzel

Wenige Tage zuvor hatte es nach den Enthüllungen von Correctiv über ein Geheimtreffen von AFD-Politikern und Rechtsextremen in Potsdam, bei dem Pläne zur Deportation migrantischer Mitmenschen diskutiert wurden, auch in Bitterfeld-Wolfen eine Demonstration gegeben. Die mehr als 300 Teilnehmenden waren vom Team des lokalen AfD-Bundestagsabgeordneten Person für Person aus nächster Nähe abgefilmt worden. Der Bundestagsabgeordnete selbst hatte am Rand der Veranstaltung Teilnehmende beschimpft, gepöbelt und dem Oberbürgermeister, der auch 
gesprochen hatte, das Gesicht auf Zentimeterlänge herangeschoben, gedroht, das werde ein Nachspiel haben! 


Jetzt, im Gespräch im Rathaus, sollen wir zusichern, dass die auf dem Festival gezeigte Kunst politisch neutral sein wird. Wir verstehen nicht genau, was politisch neutral bedeutet. Der Oberbürgermeister erklärt uns, die Kunstwerke dürften keine explizit politischen Aussagen 
enthalten. Wir argumentieren, dass es in Deutschland Kunstfreiheit gebe und dass weder wir noch er die eingeladenen Künstler:innen zu einer – wie auch immer verstandenen – politischen Neutralität zwingen könnten. Alles andere sei Zensur. Zensur lehnt auch der Oberbürgermeister ab. 



Wenige Tage nach diesem Gespräch klingelt das Telefon: Der Oberbürgermeister will sich noch einmal erklären: Er wolle nichts einschränken, aber es dürfe keine Kunstwerke geben, die sich explizit gegen bestimmte Personen und Parteien stellen. Insbesondere im Ratssaal der Stadt, der normalerweise nicht für Veranstaltungen vermietet wird, müsse die Stadt ihr Neutralitätsgebot auch von uns verlangen. Das sagen wir ihm zu. Es bleibt ein mulmiges Gefühl über die Situation hier vor Ort. 



März 2024

Wir erhalten den ersten Entwurf des Nutzungsvertrages für die ehemalige Feuerwache. Das Nutzungsentgelt ist noch offen. 



April 2024

Am 8. April, einen Tag vor unserer Programmvorstellung, unterschreiben wir den Nutzungsvertrag über die Feuerwache mit der Stadt. Wir zahlen einen symbolischen Betrag von 1 Euro. An der Pressekonferenz geben wir bekannt, dass Oberbürgermeister Armin Schenk die Schirmherrschaft für die diesjährige Festivalausgabe übernimmt. Der Oberbürgermeister informiert am 11. April 2024 den Haupt- und Finanzausschuss der Stadt über den Vertragsschluss.

Mai 2024

Wir sprechen über die Anordnung der Kunstwerke auf dem Parcours des Festivalgeländes. Insbesondere diskutieren wir über zwei Werke von Studierenden: Mascha Breuer, aus der Klasse für Fotografie und Bewegtbild an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig möchte ein Foto aus ihrem Archiv zeigen, auf dem ein Kalb mit einem ins Fell rasiertem Hakenkreuz zu sehen ist. Die Arbeit setzt sich mit dem Zuwachs und der damit verbundenen Legitimierung und Normalisierung faschistischer/rassistischer Parolen und Symbole im öffentlichen Raum auseinander. Die Künstlerin möchte das Foto an einer Wand auf dem Gelände der Filmfabrik platzieren, die mit rechtsextremer Symbolik und Parolen übersät ist, unter anderem zwei eingeritzte Hakenkreuze. 



Osten Festival Feuerwache Wolfen c Martin NaundorfDie alte Feuerwache Wolfen, Veranstaltungsort des Osten Festivals 2024 © Martin Naundorf

Die ukrainische Künstlerin Alevtyna Melnychuk von der Städelschule in Frankfurt (Main) möchte Attrappen von Molotowcocktails und eine Anleitung zur Herstellung von Molotowcocktails zeigen, die zur Vorbereitung auf die drohende russische Invasion im frühen Ukraine-Krieg verbreitet wurden. Mit den Bierflaschen, wie sie von einer Bierbrauerei in Kyiv verteilt wurden, möchte sie, auf den plötzlichen Zusammenbruch der Normalität zivilen Lebens in ihrem Land verweisen. Wir sind uns bewusst, dass beide Arbeiten kontrovers diskutiert werden könnten. Wir entscheiden uns, sie trotzdem zu zeigen. 


Wir befinden uns inzwischen in der Aufbau-Woche des Festivals. Ein Mitarbeiter des Städtischen Kulturhauses kontaktiert uns. Ob es eine Genehmigung eines Kunstwerkes an den Türen des Hauses gebe. Eine Studentin zeigt die Vielfalt des kyrillischen Alphabets – das nicht, wie oft angenommen, nur im Russischen verwendet wird – mit dem Satz "Dies ist kein Russisch". Der Mitarbeiter habe Angst, dass wegen des Kunstwerkes das Kulturhaus angegriffen werde, weil "das wäre ja auch ein Zeichen einer vielfältigen Gesellschaft, dass Leute, die das Kunstwerk anders verstehen Steine werfen". 



2. Juni 2024

Das Festival ist eröffnet. Das angekündigte Unwetter kommt genau zum richtigen Zeitpunkt, als die meisten Zuschauer*innen schon bei unseren Führungen und damit im Trockenen sind. Wie erwartet, erregen die Kunstwerke der beiden Studierenden Aufsehen. Anwohnende rufen die Polizei. Eine Mitarbeiterin des benachbarten Kindergartens glaubt, es handele sich bei dem Foto mit dem Kalb um eine rechtsextreme Provokation oder ein rechtsextremes Kunstwerk (und bei uns um ein rechtes Festival?). Sogar die Feuerwehr wird gerufen. Sie stellt fest, dass es sich bei den Bierflaschen keineswegs um echte Molotowcocktails handelt. In den Flaschen ist Wasser, kein Benzin.

Gemeinsam mit den Anwohnenden, der Polizei, dem Ordnungsamt, der Feuerwehr diskutieren wir, was Kunst ist und was nicht. Die Polizei bescheinigt uns, dass es sich bei beiden Werken erkennbar um Kunst handelt, und dass daher – anders als bei den Nazi-Schmierereien neben dem Kunstwerk – von ihrer Seite kein Handlungsbedarf bestehe. Die Hakenkreuze und Parolen werden von der Polizei überklebt und übermalt. Das Verhältnis zur lokalen Polizei und auch der Kindergärtnerin von nebenan ist gut und konstruktiv, aber im Gespräch wird noch einmal sehr deutlich, dass es keine Selbstverständlichkeiten gibt beziehungsweise dass die Kommunikation hier anders funktioniert als an Orten wie Leipzig oder Berlin. Wir beschließen – in Absprache mit der Künstlerin – die Molotowcocktails nicht mehr zu zeigen, weil uns ohne ihre Anwesenheit die Kapazität fehlt, mit den Nachfragen dazu angemessen umzugehen. Die Kontroversen, die von Kunstwerken hervorgerufen werden, so denken wir, sollten auch verantwortungsvoll geführt werden.

3. Juni 2024

Der Dramaturg Carl Hegemann, der unser Festival besucht, kritisiert unsere Entscheidung. Er spricht von zunehmender Selbstzensur im Kunstbetrieb und erzählt begeistert davon, wie er vor 20 Jahren zusammen mit Christoph Schlingensief in einer Hamlet-Inszenierung in Zürich deutsche Neonazis auf die Bühne geholt hatte. Und wie erschrocken die Züricher:innen gewesen seien. Doch heute – in Ostdeutschland – Nazis auf die Bühnen zu bringen, schafft kaum Kontrast zur Realität: Sie sind allgegenwärtig und verbreiten überall ungefragt und lautstark ihre Meinung. Hegemann sieht nachdenklich aus. 



Aljoscha Begrich aus der Festivalleitung hatte mit Theaterregisseur Oliver Frljić vor sechs Jahren in einem Projekt am Maxim Gorki Theater Ähnliches versucht: Sie hatten das Wahlprogramm der AFD dramatisiert. Der Abend funktionierte nur in der sehr speziellen Bubble des Gorki Theaters. So wie Schlingensiefs Hamlet mit Neonazis vermutlich nur vor dem gesicherten Hintergrund liberaler Bürgerlichkeit einer Stadt wie Zürich funktionierte. In der Gorki Bubble funktionierte die affirmative Kritik. Als sich allerdings in einem Publikumsgespräch nach einer der Vorstellungen zwei Menschen als AfD-Mitglieder outeten und sich für die tolle Inszenierung bedankten, waren wir es, die erschraken. Auf so etwas waren wir nicht vorbereitet. Mit Rechten reden? Von Rechten Applaus? Das Gegenteil war ja beabsichtigt worden. Und was jetzt?

Wenig später wurde immer klarer, dass man zur Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus vielleicht besser dorthin gehen sollte, wo er kein Randphänomen ist. 2020 wurde der Verein Kulturpark e.V. von Christine Leyerle, Ludwig Haugk und Aljoscha Begrich gegründet und es begann die Arbeit am Festival OSTEN. Mit dem Umzug in ein gesellschaftlich und politisch 
derart verändertes Umfeld ändern sich allerdings die Rezeptions- und Funktionsweisen der Kunst: Die Rezeption autonomer Kunst setzt ein bürgerliches Kunstverständnis voraus. Und das, so stellen wir immer wieder fest, ist offenbar nicht oder nicht mehr vorauszusetzen. Möglicherweise ist auch hier der Osten Vorreiter einer allgemeinen Entwicklung: Versuche von Einflussnahme, Indienstnahme oder gar Angriffe auf die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit häufen sich überall im Land. Sie verschieben die Grenze des Sag- und Machbaren. Inzwischen ist ein Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit aus dem Ministerium für Bildung und Forschung nicht mehr so peinlich, dass es für einen Rücktritt der Ministerin reicht. Noch vor zehn Jahren ein undenkbarer Vorgang. 



6. Juni 2024

Der AfD-Bundestagsabgeordnete des Wahlkreises Bitterfeld-Wolfen erstattet Anzeige gegen uns. Er behauptet, das Kunstwerk von Alevtyna Melnychuk (das inzwischen nicht mehr zu sehen ist) verstoße gegen das Waffengesetz und rufe zum bewaffneten Angriff auf. Er fordert den sofortigen Abbruch des Festivals und den Rücktritt des Oberbürgermeisters. Das ist vollkommen haltlos, aber da es sich um einen Bundestagsabgeordneten handelt, verbreitet sich die Nachricht in allen Medien. Der Vorsitzende des Bürgervereins Pro Wolfen fordert, das Festivalzentrum in der Feuerwache unverzüglich zu räumen. Einen Tag später veröffentlicht der Bundestagsabgeordnete der AfD ein weiteres Statement: Seine Anzeige und seine Forderungen würden – wie immer – vermutlich zu nichts führen. Er fordere daher alle auf, bei der am 
Wochenende anstehenden Kommunalwahlen und der Europa-Wahl AfD zu wählen. Sie seien in der Lage abzuwägen, welche Veranstaltungen nach Bitterfeld-Wolfen gehörten und welche nicht. 



7. Juni 2024

In der offenen Diskussionsrunde "Frage des Tages” geht es um die Zukunft der Region Bitterfeld-Wolfen. Eine Reihe von Bürger:innen melden sich zu Wort. Sie sprechen über die vielen positiven Entwicklungen in der Region. Die Moderatorin des Gesprächs, Sylvie Küsten, spricht auch Viviana Medina an, eine Künstlerin des Festivals, deren kubanischer Vater als Vertragsarbeitender in der DDR gearbeitet hatte. Für sie und ihren Sohn, sagt sie sinngemäß, gäbe es, und das wüssten sicher alle hier, keinerlei Zukunft in dieser Region. Darauf herrschte betretenes Schweigen. Wir wissen nicht, was wir darauf sagen sollen. Wir sind mit einem Schlag aus dem von uns eigentlich gewünschten positiven Narrativ über den Osten herausgefallen. Aber genau so trostlos stellt sich die Lage ja dar. Was bedeutet das für die Zukunft unseres Festivals? Welche Sicherheitskonzepte bräuchten wir in Zukunft? Und für wessen Zukunft arbeiten wir hier? 



Osten Festival 2024 06 07 FdT Was kommt nach dem Osten c Falk Wenzel u"Was kommt nach dem Osten?", lautete hier die "Frage des Tages" © Falk Wenzel

8. Juni 2024

Einen Tag vor den Kommunalwahlen und der Europa-Wahl findet vor dem Rathaus Bitterfeld-Wolfen und damit direkt vor dem Festivalzentrum eine Auto-Demonstration gegen "die Ampel” statt. Angemeldet ist sie nicht von der AfD, sondern von einem Bündnis aus Dessau. Wir erkundigen uns im Vorfeld bei der Mobilen Beratung gegen Rechts (MBR), auf was wir uns einstellen müssen. Wir erfahren, dass es sich um ein lockeres Bündnis handelt, "Verschwörungstheoretiker, Russlandfreunde, Nazis und Alibi-Traktoren”. Vermutlich nicht gewalttätig, aber mit 250 Autos müssten wir schon rechnen. Nach Erkenntnissen der Mobilen Beratung steht das Festival selbst nicht direkt im Visier der Demo. Wir sind, naja, erleichtert.

Die MBR bietet an, als Beobachter an diesem Tag vor Ort zu sein und stellt für den Fall der Fälle eine Verbindung zur Hotline für Opfer Rechter Gewalt her. Die Sicherheitsfirma, mit der wir zusammenarbeiten, ist an diesem Tag nicht verfügbar. Ordnungsamt und Polizei sehen ohnehin kein Problem. Sie erklären, es habe inzwischen so viele Montagsdemos gegeben und dabei nie irgendeinen Zwischenfall. Bei uns ist an diesem Tag eine Puppenparade der amerikanischen Künstler:innen Oscar Olivo und Elsa Saade geplant. Die Polizei verspricht, die Autodemo ohne Kontakt an der Puppenparade vorbei zu führen.

So kommt es dann nicht. Die Route verläuft anders, als von der Polizei vorher kommuniziert und kreuzt die Route unserer Parade. Die Parade wird von der Polizei gestoppt und muss nun vom Straßenrand aus, eingepfercht auf einen kleinen Platz vor dem Kulturhaus, etwa 30 Minuten lang das Defilé der Autos abnehmen. Es ist ein heißer Tag. Die eigene Ohnmacht und der Anblick hunderter Fahrzeuge – SUV, Firmenfahrzeuge, PKW, LKW – hat etwas apokalyptisch-medidatives. 


Kaum jemand ruft und reagiert. Die Musiker:inner der Puppenparade spielen weiter, haben aber gegen den Sound der Autohupen und Lautsprecheranlagen, aus denen unablässig aggressive, rechte Propaganda quillt, keine Chance. Einige Teilnehmer:innen unserer Parade beginnen demonstrativ zu tanzen. Die meisten aber starren fassungslos in Richtung der Fahrzeuge. Eine POC-Künstlerin sagt später zu Recht, sie habe sich in dem Moment von uns nicht geschützt gefühlt. Andere Teilnehmer:innen sprechen von einem Gefühl des Ausgeliefertseins. Wir hatten versucht, uns so gut es geht auf diese Begegnung einzustellen, als sie dann stattfand, gerieten wir selbst in Panik und waren überfordert. 



Die Linedancer:innen aus Wolfen-Nord, die in der Performance "Tyrannosaurus Regina” von hannsjana mitwirken, sprechen uns an: Was wir von der Autodemo hielten. Mit politischen Diskussionen tendenziell eher zurückhaltend, lavieren wir rum; sprechen von Demokratie und 
Demonstrationsfreiheit. "Ich lass mir doch von diesen Arschlöchern nicht meine Stadt wegnehmen! Man muss die jetzt stoppen”, ruft plötzlich eine der Dancerinnen mit Cowboyhut. Und ja, ein einzelnes Paar fand den Weg von der rechten Demo zu uns, hat sich ein Programmheft geholt und Geld in die Spendenbox geworfen. Trotzdem: Die Begegnung mit diesem Autokorso und unsere Lähmung dabei scheinen uns symptomatisch für unseren Umgang mit den Rechtsextremen allgemein. 



9. Juni 2024

Parallel zur Europawahl findet in Sachsen-Anhalt die Kommunalwahl statt. Der in Sachsen-Anhalt vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestufte Landesverband der AfD und der ihr nahe stehende Bürgerverein Pro Wolfen bekommen zusammen über 50 Prozent der Sitze im Stadtparlament. Einige Festivalbesucher:innen sind 
geschockt und weinen: "Ihr könnt ja wieder gehen, aber wir müssen ja hier wohnen.” Eine andere sagt: "Ich bin Gewerbetreibende, aber ich will doch hier keine Steuern zahlen, wenn die dann das Geld bekommen!” Am meisten aber verunsichern uns an diesem Wochenende manche Gespräche mit wohlmeinenden Besucher:innen: Sie finden unser Festival toll, sie sind dankbar dafür, dass in ihrer Stadt und Region so etwas stattfindet. Aber nach etwa 5 Minuten benutzen sie Worte oder treffen Aussagen, die wir als so rassistisch empfinden, dass es uns die Sprache verschlägt. Das geschieht offensichtlich nicht in der Absicht zu provozieren – es scheint vollkommen normal. Weiter sprechen? Aber wie?

Von einer Brandmauer gegen rechts kann gar keine Rede sein. Wir sind überfordert. Wir machen ein Festival für gegenseitiges Interesse, aber auf welcher Ebene muss ich mich für primär rassistische und sexistische Positionen eigentlich interessieren? Es steht ja in unserer Satzung, dass wir das nicht wollen, aber rausgeschmissen haben wir keinen. Wo endet das Interesse und wo beginnt klare politische Gegnerschaft? Haben wir zu wenig Flagge gezeigt? 


11. Juni 2024

Ein paar Tage später ein Termin im Rathaus: Auch hier Überforderung. Es gibt in der nächsten fünf Jahren keine Mehrheit mehr in der Stadt für das Festival. Die Nutzung von städtischen Flächen und Gebäuden ist schwer vorstellbar. Aber auch Enttäuschung, daß sich das Festival so politisch entwickelt hat. Wir verstehen nicht, was gemeint ist. Ja, es hat politische Kunst gegeben, aber auch jede Menge vollkommen unpolitischer Angebote von Wasserrutsche über 
Bastelworkshops zu Konzerten. Zu politisch? Die Kunstwerke mit dem Hakenkreuz und den Molotowcocktails hätten nicht sein müssen, meint der Bürgermeister. Da erwarte er eine bessere Betreuung. Wir sagen, dass diese Prozesse betreut wurden und wir auf keinen Fall eine Debatte 
um Zensur wollten. Doch die Enttäuschung des Bürgermeisters ist echt. Er könne das Festival nicht mehr vor dem Stadtparlament verteidigen, das sei einfach nicht mehr möglich.

Osten Fstival 2024 06 01 Eroeffnung mit Anbaden 2 c Falk Wenzel uPerdu aus politischen Gründen? Poolbaden vor der Feuerwache © Falk Wenzel

Wir fragen, was außer vielleicht Hüpfburgen überhaupt noch möglich sein wird? Ja, auch das sei ein Problem, erklärt der Bürgermeister: Andere machten Stadtteilfeste mit Hüpfburgen und bekämen dafür überhaupt kein Geld. Auch deshalb würde das Festival kritisch gesehen. Der Neid sei schon da. Sogar der Umstand, dass wir von der Stadt und dem Landkreis gar kein Geld bekommen, kann in dieser Perspektive gegen uns verwendet werden: Die AfD fördert den Eindruck, dass in dieser Gesellschaft bestimmte Projekte "von denen da oben” Geld bekommen und andere eben nicht. Wir denken: ja, in einer Demokratie werden eher demokratiefördernde Projekte unterstützt, während Fackelmärsche und Sonnenwendfeiern nicht so gut ankommen. Das sagen wir aber nicht, sondern: Es stünde doch allen offen, Gelder zu beantragen. Unserer Erfahrung nach seien die Jurys der Stiftungen sogar sehr froh darüber, wenn Impulse aus den Regionen selbst kommen.

Wir schlagen vor, das Festival im Stadtparlament vorzustellen, noch einmal darzulegen, welche positiven Effekte sich für die Stadt in den letzten Jahren schon ergeben hätten. "Oh, nein, nicht zumutbar!” Wir verstummen entsetzt. Wir sehen einen Oberbürgermeister, der auch acht Monate nach seiner Wahl nicht vereidigt ist, weil die AfD die Wahl angefochten hat. Ein Bürgermeister, der keine Mehrheit im Parlament besitzt, der nicht sicher ist, ob die eigene Fraktion noch hinter ihm steht, der keine eigenen Impulse setzen kann, weil er seit Jahren von der AfD getrieben und in die Ecke gedrängt wird. Und so wie in Bitterfeld-Wolfen, denken wir, wird es nicht nur hier sein, sondern auch in Staßfurt, Nordhausen, Rostock, Guben, Bautzen…Vieles, was in den Metropolen diskutiert wird, kommt hier nicht mehr an. Oder nur noch als Fratze, als groteskes Feindbild. 



15. Juni 2024

Das letzte Festivalwochenende hat begonnen. Der Fonds DaKü legt mit seinen bundesweiten Foren für Kunst, Freiheit und Demokratie auch einen Stopp bei uns in Bitterfeld-Wolfen ein. Das Motto lautet: Die Kunst, viele zu bleiben. Wir sind stolz und froh, Teil dieser bundesweiten Aktion zu sein. Aber wir haben auch ein mulmiges Gefühl. Der Fonds kommt mit einem Truck vorbei, der als Bühne genutzt wird und den ein großes goldenes Herz ziert. Sie wollen laut, bunt, scheinend sein. Doch so ein Truck, der aus der Hauptstadt kommt und sich für einen Tag als mobile Bühne für Reden und Workshops auf eine Industriebrache stellt, kann auch missverstanden werden. Menschen, die kurz mal vorbei schneien, in welcher Absicht auch immer, sind hier nicht sehr beliebt. Der Fonds DaKü steht vor der Herausforderung, ein Programm zu machen, das an so unterschiedlichen Orten wie den Sophiensaelen Berlin und am Rathaus in Bitterfeld-Wolfen funktioniert. Aber zwischen den Zeichen, Wörtern und Symbolen, die an den Sophiensaelen verstanden werden, und denen, die hier verstanden werden, liegen – so fürchten wir – Welten. Schon wieder Selbstzensur? Oder begründete Vorsicht? 



Zusätzlich hat sich der Kulturminister Sachsen-Anhalts, Rainer Robra, an diesem Tag angekündigt. Dieser Besuch ist für uns sehr wichtig, weil wir als freies Projekt, ohne kontinuierliche institutionelle 
Förderung, von Landesmitteln abhängig sind. Wie die allgemeine Spannung, steigen auch die Temperaturen. Die Eröffnung des Tages ist schön: Sehr viele Menschen von lokalen Initiativen sind gekommen. DAS HELMI probt parallel mit Menschen mit Behinderung der örtlichen Diakonie eine Geisterbahn-Szene. Die Kinder feiern unsere Wasserrutsche. Vor dem Plakat des Fond DaKü werden Reden gehalten. DIE KUNST, VIELE ZU BLEIBEN, steht dort. Aber sind wir überhaupt noch Die Vielen oder ist das Autosuggestion?



Das Gespräch mit dem Kulturminister läuft gut. Er ist sehr angetan vom Festival, betont seine Bedeutung und sagt, wir hätten bei der Wahl am Sonntag gesehen, dass Plakate "gegen rechts” als Angebot nicht reichten. Das Unvermögen, dieses allgemeine "gegen rechts” in konkreten politischen Vorhaben zu konkretisieren, ist sicher ein Kern des Problems. 



Der Tag nimmt ansonsten einen schönen Verlauf. Am Abend gibt es ein Punkkonzert der lokalen Punkband AbRAUM und als nach dem Ende des Public Viewings Fußballfans kommen und zu Mitternacht gemeinsam mit den Punks, Kindern, Linedancerinnen und queeren Hipstern und Fußballfans mit Deutschlandfahnen rutschen, haben wir doch das Gefühl, alles sei vielleicht gar nicht so schlimm und Kunst kann richtig sinnvoll sein.

16. Juni 2024

Das Festival geht mit einem Abschlusspicknick mit über 300 Menschen aus Bitterfeld-Wolfen zu Ende. In vielen Redebeiträgen wird deutlich, wie wichtig das Festival gerade jetzt für die Stadt ist – als Ort der Begegnung, des Austauschs, der Selbstvergewisserung. Ein Möglichkeitsraum, der Hoffnung macht, weil er zumindest temporär neue und andere Form von Gemeinschaft und Zusammenleben entwirft. Das klingt manchmal geradezu nach moralischem Auftrag, der das Festival und uns zu überfordern droht.

Osten Festival 24 06 08 Ewigkeitsprobleme Radtour 1 C Falk Wenzel uEine Radtour auf der historischen Route einer der ersten DDR-Umweltdemos vor 40 Jahren regte zum Nachdenken über die "Ewigkeitsprobleme" an © Falk Wenzel

Zwei Tage später sitzt der AfD-Bundestagsabgeordnete, der uns angezeigt hatte, im Stadtparlament. Er hat ein Doppelmandat und nutzt es in der ersten Sitzung, um das Festival anzugreifen. Er zitiert Sätze aus Interviews, die belegen sollen, dass der Trägerverein des Festivals nicht neutral und nicht förderwürdig ist. Das deckt sich mit der Strategie seiner Partei, die Gemeinnützigkeit von Vereinen in Frage zu stellen, weil sie sich politisch gegen Rechts engagieren. Eine Strategie, die erfolgreich ist: Viele Vereine im Osten fahren ihr politisches Engagement herunter, weil sonst der Entzug der Gemeinnützigkeit droht. 



Juli 2024

"Die vornehmste Aufgabe aller Kunst besteht darin, kulturelle Identität zu pflegen. Die deutsche Identität ist so auch das Resultat deutscher Kunst, vor allem der sich im öffentlichen Raum vollziehenden Bühnenkunst”, so steht es im AfD-Wahlprogramm in Sachsen-Anhalt. Und "kulturelle Identität fördern", das ist in etwas auch das, was wir auf unserem Festival versuchen, wenn Menschen bei uns über ostdeutsche Identitäten sprechen, über Mutterschaft, queere Geschichte oder die Herkunft von Vornamen.

"Bestenfalls", so das AfD Wahlprogramm mit einer Bestandsaufnahme weiter, "wird auf unseren Bühnen noch nichtssagende Unterhaltung, Abseitiges oder Internationales ohne Bezug zu unserem Land gezeigt". Ja, da ist vielleicht was dran. Lokale Bezüge, konkrete Geschichten der Menschen vor Ort, das ist auch das, was uns interessiert. "Die AfD will mit Staats- und Steuergeld nur noch solche Kunst fördern, die ihrer eigenen deutschen Kultur grundsätzlich bejahend gegenübersteht", heißt es in ihrem Wahlprogramm. "Wir sind, wie unsere Haushaltsanträge gezeigt haben, gewillt, auch massive Einschnitte zu vertreten. Eine Agitation gegen das eigene Volk muss nicht durch den Staat, der aus diesem Volk besteht, finanziert werden. In dieser Hinsicht wie auch in weiteren Punkten der kulturpolitischen Ausrichtung ist uns die kulturpolitische Wende, die Ungarn unter Viktor Orban vollzieht, Vorbild und Inspiration." – Okay. Man kann sich auf das Schlimmste gefasst machen.

Ende Juli 2024

Das kuratorische Team trifft sich zum Nachgespräch. Über 20% hattte die AfD in Bitterfeld-Wolfen beim ersten OSTEN Festival vor zwei Jahren.. Heute sind es über 40 Prozent. Haben wir irgendwas erreicht? Ist die Vorstellung, Kunst könne irgendetwas zum Erhalt demokratischer Strukturen beitragen, überhaupt richtig? Natürlich kann sie das nicht allein. Wie es jetzt steht, ist sogar zu befürchten, dass sie als erstes unter die Räder kommt. Einerseits, weil vermutlich bald wieder gespart werden soll, andererseits, weil sie sich gesellschaftlich exponiert. Nicht nur im Osten Deutschlands ist die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit erheblichen Angriffen ausgesetzt. Und leider nicht nur von Seiten der AfD. Wirft das, was wir in Bitterfeld-Wolfen erleben, 
einen Blick auf unsere gesamtdeutsche Zukunft? Und wenn ja, wie können wir unsere Erfahrungen analysieren, teilen und weitergeben? Wie können wir in einem hoch kompetitiven Kulturbetrieb Strategien der Solidarität und des Widerstands entwickeln? Viel Zeit haben wir vermutlich nicht 
mehr.
 

Aljoscha Begrich und Christian Tschirner stammen beide aus der DDR. Unterschiedliche Wege führten sie nach Frankfurt/Main, wo sie sich 2001 am Theater kennen lernten. Seit dem gemeinsame Arbeiten in verschiedenen Rollen, sie arbeiteten unter anderem als Dramaturgen am Schauspiel Hannover und kuratierten 2022 das Projekt "ReEDOcate me!" In der Floating 
University. Für das Festival OSTEN waren sie 2024 im kuratorischen Team beteiligt. 


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Anmerkung: In einer früheren Version dieses Artikels wurde behauptet, die AfD habe in Bitterfeld-Wolfen zur Zeit der ersten Ausgabe des OSTEN Festivals 12,6 % der Wählerstimmen erreicht. Richtig ist, dass die AfD bei der Landtagswahl 2021 im Landkreis Bitterfeld-Wolfen 25,2 % erreicht hat (22,7 % bei der Bundestagswahl 2021). Eine Erwähnung des Bitterfelder Kulturpalast wurde auf Wunsch der Autoren ex post entfernt.

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Kommentare  
Essay Osten: Wertschätzung + Fragen
Liebes Osten-Team,

vielen Dank für den spannenden Einblick in eure Arbeit (und für eure Arbeit selbst)! Mich würde noch interessieren, in wie weit entspricht die Kritik des AfD-Stadtrats dem allgemeinen Stimmungsbild in B-W entspricht? Die Kritiken zum Festival (siehe Nachtkritik, siehe auch Carl Hegemann) haben ja explizit hervorgehoben, wie stark verwurzelt eure Projekte in Wolfen waren, wie eng ihr mit lokalen Initiativen zusammengearbeitet habt. Wie schätzt ihr die Wertschätzung ein, die daraus erwachsen ist? Was würde passieren, wenn die Bürger*innen abstimmen dürften, ob das Festival weiter stattfindet? Ich erlebe im ländlichen Raum oft auch eine große Dankbarkeit, dass jemand sich hertraut und ein kulturelles Angebot schafft. Würden sich die Wolfener*innen lieber für keine Kultur entscheiden - oder woher soll das Alternativangebot denn kommen? Wie sähe sie aus, die rechte Kunst, die die AfD fördern will - und wer wird sie machen? Mein Denken stellt das alles auf den Kopf. Ich kann gar nicht so viel analysieren, wie ich schreien möchte. Danke euch.
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