Hospitantin bei Jürgen Gosch: Sophie Diesselhorst beobachtet 2007/08 die Proben zu "Onkel Wanja" und "Die Möwe"
Vermischte Realitäten
10. April 2023. Am 13. April startet in der Reihe "Der historische Stream" ein Special zu dem legendären, 2009 verstorbenen Regisseur Jürgen Gosch - darunter die Streams seiner beiden späten Meisterwerke "Onkel Wanja" und "Die Möwe". Eindrücke von den Proben in den Jahren 2007 und 2008.
Von Sophie Diesselhorst

10. April 2023. Fünfzehn Jahre sind ein stolzes Alter für eine Theater-Inszenierung. Dass Jürgen Goschs "Onkel Wanja" und "Die Möwe" im Gosch-Special auf nachtkritik.plus als "Historische Streams" gelabelt sind, ist trotzdem ein bisschen eine Mogelpackung, sind beide Abende doch noch immer im Repertoire des Berliner Deutschen Theaters.
2008 sind sie entstanden, Onkel Wanja Anfang, Die Möwe Ende des Jahres: "Onkel Wanja" in einem hellen Kasten (mit während der Vorstellung trocknendem Lehm bestrichen), "Die Möwe" vor einer schwarz geteerten hohen Wand. Diese Bühnenbilder von Johannes Schütz waren neben Tschechows Text das einzige "Konzept", mit dem Gosch damals die Proben eröffnete.
Tschechows Figuren
Ich hatte die Ehre und Freude, bei beiden Arbeiten als Regie/Dramaturgie-Hospitantin dabei zu sein. Das bedeutete: Kaffee kochen, zuweilen auf mehr oder weniger konventionelle Besorgungstouren geschickt werden. Einen "schönen" (!) Blumenstrauß kaufen. Oder mit den anderen Hospitant:innen Äste und Zweige von Büschen und Bäumen im Hinterhof des Deutschen Theaters abreißen, weil (bei "Onkel Wanja") die Idee aufgekommen war, Astrow für seine klimakrisenprophetischen Ausführungen einen "echten" Wald aus Holz und Blättern an die Hand zu geben. Diese Idee wurde schnell wieder verworfen, die Äste und Zweige kamen auf den Müll, Astrow dürfte sich im Grabe umgedreht haben.
Vor allem aber bedeutete das Hospitant:innen-Sein, zuschauen zu dürfen, ja, sich dazu geradezu verpflichtet zu fühlen: als stellvertretendes Publikum zu beglaubigen, was hier aus der leeren Bühne und einer genauen Lektüre des Stücktexts in sechs Wochen Probenzeit entstand. "Du musst ein Werk schaffen", sagt Serebrjakow zu Wanja in "Onkel Wanja". Doch darum ging es Gosch gerade nicht. Der Pakt zwischen Regisseur und Ensemble bestand darin, Tschechows Figuren – nicht zum Leben zu erwecken, sondern: zu zeigen, dass sie echt sind. Sie leben. Sie sehen aus wie Ulrich Matthes, Meike Droste, Corinna Harfouch, Jirka Zett, Kathleen Morgeneyer, Bernd Stempel und all die anderen.
"Sprich das mal so, als ob es das nicht als geschriebenen Text gäbe", sagte Gosch während der "Möwe"-Proben zu einem der Schauspieler, zu einem anderen: "Nach einer Woche Probe können Sie keine Ahnung von der Figur haben. Ich auch nicht. Wir können nur hoffen, dass wir bis zur Premiere die Spur einer Ahnung haben."
Unsichtbare Umstände
Es war also wie ein kollektives Kennenlernen. Eine Theatergruppe lernt eine Figurengruppe kennen. Für den Regisseur funktioniert dieses Kennenlernen sehr stark über das Verstehen der Beziehungen zwischen den Figuren. Nicht nur derer, die gerade miteinander im Dialog sind. Deshalb müssen auch fast immer alle auf der Bühne sein. Gosch achtet während der Proben oft besonders auf die, die gerade nicht spielen. Nach einer Szene zwischen Arkadina und Trigorin sagt er "Sehr schön, Meike!" und beginnt ein Gespräch über Mascha – wie alt ist sie eigentlich?
Umstände spielen eine Rolle, die auf der abstrakten Bühne von Johannes Schütz natürlich nicht abgebildet sind: "Geh mal zu ihm hin, es ist doch Abend, es ist dunkel, und wenn du so weit weg bist, siehst du gar nicht, dass er blass ist." Die Schauspieler spielen also nicht nur die Figuren, sie spielen auch die Bedingungen mit, unter denen die Figuren Tschechows Regieanweisungen zufolge agieren. (Goschs Texttreue ist nicht unbedingt, aber Tschechows Text und eben auch seinen Regieanweisungen wird stets das erste Wort erteilt.)
Der Regisseur als Zuschauer
Die Realitäten werden vermischt, Schauspieler:innen von Jürgen Gosch mal mit ihrem Namen, mal mit Figurennamen angesprochen. Die meisten Anmerkungen macht er im großen Kreis, nur manchmal geht er nach vorne, um mit einzelnen zu sprechen, ohne dass alle anderen mithören. Seine leise Höflichkeit ist Legende, aber er ist auch insistent und hat ein widersprüchliches Verhältnis zur Wiederholung.
"Endlose Wiederholungen, bis wann? Nicht unbedingt, bis er zufrieden ist" steht in meinen Notizen von den "Möwe"-Proben. Einer Schauspielerin wirft er vor: "Sie probieren nicht, Sie wiederholen nie etwas, Sie spielen immer Varianten." Zu einem anderen sagt er: "Du musst das ernst nehmen, was ich dir sage, aber du musst es dann auch wieder vergessen. Ich bin schnell satt, wenn ich eine Sache mehrere Male gesehen habe, finde ich sie langweilig."
Da ist er wieder, der Regisseur als Zuschauer. Er will eben nicht andere beeindrucken ("ein Werk schaffen"), sondern vor allem: sich selbst nicht langweilen. Auch das Publikum nicht, das irgendwann an seiner Stelle da sitzen wird. Deshalb wird durchaus auch technisch gearbeitet, am Tempo, daran, dass Texte und Pausen sitzen. Die Schauspieler:innen werden regelmäßig dazu angehalten, nach vorne zu sprechen, damit sie verstanden werden (sie sprechen ohne Mikroports, was ja mittlerweile beinahe eine Seltenheit ist).
Realitäten der Spieler*innen
Grundsätzlich legt Gosch großen Wert darauf, beim Probieren in der Chronologie des Stücks zu bleiben. Beim zweiten Durchgang wird nicht penibel darauf geachtet, dass alles wie beim ersten ist. Man verlässt sich auf die Erinnerung der Spieler:innen – und ihre Lücken. Dadurch ergeben sich automatisch neue Lösungen. Immer weiter wird über die Ausstattung nachgedacht, immer wieder werden Änderungen vorgenommen, und dabei wird kein Aufwand gescheut. In der "Möwe" tragen Koch und Arbeiter am Anfang einen Stein auf die Bühne. Gosch will keinen unten abgeflachten "Theaterstein", wie ihn die Werkstätten bereitgestellt haben. Ein weiterer Stein wird auf die Bühne geschleppt, der weniger geschliffen aussieht. Gosch entscheidet sich für diesen Stein, obwohl er nahezu untransportierbar ist.
Und natürlich die Kostüme. Auch hier verblendet Gosch die Realitäten der Spieler und ihrer Figuren, indem er sie zunächst in ihren Alltagsklamotten zu den Proben erscheinen lässt. Diese Klamotten sind ihm aber dann bald schon nicht "russisch" genug. Überhaupt ist "der Russe an sich" ein stehender Begriff auf den Proben. Und zwar in seiner klischiertesten Version. Der Russe, der am Samowar sitzt, Wodka trinkt und komische braune Hemden trägt.
Produktive Irritation
Aber wenn Gosch den Spieler:innen zuruft: "Achtet drauf, dass es russisch bleibt", dann ruft er sie nicht dazu auf, ein Zerrbild zu reproduzieren oder eine Karikatur. Er stellt vielmehr eine veräußerlichende Gegenbewegung her zu den innerlichen Prozessen der Figuren-Aneignungen. Denn das "Russisch-Sein" haben ja dann alle diese Figuren wieder gemeinsam, es ist eine Art kleinster gemeinsamer Nenner. Es steht damit auch für ihre Eigenständigkeit als Figuren: Als "Russen an sich" sind sie Andere, von außen betrachtet.
Dass die Schauspieler:innen die Aufforderung, ins Klischee zu tauchen, als (mehr oder weniger) heikel empfinden werden, ist von Gosch eingepreist. Zum "Russen an sich" haben sie ja auch biografisch unterschiedliche Verhältnisse – in den Ensembles sowohl von "Onkel Wanja" als auch der "Möwe" sind sowohl alte Weggefährt:innen von Gosch aus DDR-Zeiten dabei als auch Spieler:innen, die zur Zeit des Mauerfalls noch zur Schule gingen, in Ost und West. Der jeweilige Umgang mit dem "Russen an sich" treibt sie auf dem Weg der produkiven Irritation noch weiter in den individuellen Ausdruck.
Jürgen Gosch feuert sie darin an – "Gut, Meike, gut, Simone, schön, Christoph", ruft er oft begeistert in die Szenen hinein, ohne unterbrechen zu wollen – und ist dabei allergisch schon gegen den Anflug von Theater-Klischees wie Kontrollverlust = Sex. Für Albernheiten, kleine Peinlichkeiten, Skurrilitäten hat Gosch hingegen große Muße und freut sich kindlich daran.
Kein Verfallsdatum
"Es wird viel gelacht auf den Proben, auch Gosch selbst lacht viel – nicht nur in lustigen Situationen – stolzes Lachen, zufriedenes Lachen, sympathisierendes Lachen, Galgenhumor-Lachen? Eine Mischung aus alledem? Häufig endet eine Probe mit lauter Fragezeichen." (Aus meinen Probennotizen)
Bei der "Möwe" nahm Gosch das "Probieren" so ernst, dass die Premiere tatsächlich der erste komplette Durchlauf war.
Dass diese beiden Inszenierungen so lange Jahre gespielt werden würden in fast der gleichen Besetzung, also auch noch etliche Lebenserfahrungen der Spieler:innen mit auf den Buckel nehmen würden, konnte bei der Premiere niemand wissen. Aber es war schon damals klar, dass hier kein Produkt mit einem Verfallsdatum entstehen soll, sondern eine Versuchsanordnung, die bei jedem neuen Durchlauf möglichst viel Spontaneität fordern würde. Jede Vorstellung eine Sisyphus-Arbeit, aber eine, die sich lohnt, für alle Beteiligten, die, die spielen und die, die zuschauen.
Sophie Diesselhorst, geboren 1982 in Berlin. Sie studierte Philosophie am University College London und Kulturjournalismus an der UdK Berlin. Um ihr Studium herum hospitierte sie dreimal bei Jürgen Gosch, bei der Schimmelpfennig-Uraufführung "Reich der Tiere" am DT Berlin, bei "Onkel Wanja" und "Die Möwe". Seit 2011 ist sie Redakteurin bei nachtkritik.de.
Hier geht's zu mehr Infos zum Gosch-Special auf nachtkritik.plus und zu den Streams.
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1993 hospitierte ich bei Peter Zadek am Berliner Ensemble. Brötchen schmieren für Eva Mattes und Gert Voss. Und zuschauen. Hatte alles einen Sinn.
Schöne Rest-Ostern noch.
In den Notaten eines anderen Hospitanten (Przemek Zybowski) von den "Wanja"-Proben kommt dieser sehr nette Satz vor: "Gosch fände es schön, wenn man mitbekäme, daß die Männer unter den Mützen auch schwitzten."
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Liebe Astrowa,
das ist uns aus rechtlichen Gründen leider nicht möglich.
Herzliche Grüße aus der Redaktion!