Investigativtheater - Calle Fuhr und Jean Peters im Interview
Zum Verstehen verführen
5. August 2024. Immer öfter werden journalistische Recherchen auf Theaterbühnen präsentiert. Jean Peters und Calle Fuhr gehören zu den profiliertesten Vertreter:innen dieses neuen "Investigativtheaters". Ein Gespräch über sein Potenzial und die Gefahren, die in ihm stecken.
Interview von Elena Philipp und Esther Slevogt
6. August 2024. In der vergangenen Saison gab es vielbeachtete Kooperationen zwischen Theatern und Journalist*innen: Das Kraftwerk von Correctiv und dem Staatstheater Cottbus, Geheimplan gegen Deutschland von Correctiv mit dem Volkstheater Wien und dem Berliner Ensemble oder Aufstieg und Fall des Herrn René Benko von Dossier und dem Volkstheater Wien. Hier bildet sich ein neuartiger Zusammenschlusses von Journalismus und Theater heraus, der auch neue Theaterformen hervorbringt. Warum erlebt das Investigativtheater solch einen Aufschwung?, wollten wir von Calle Fuhr, der als Autor und Theatermacher mit den Investigativmedien Dossier und Correctiv kooperiert, und Jean Peters, Journalist und Autor bei Correctiv, wissen.
Calle Fuhr und Jean Peters, was macht das Medium Theater für den Journalismus interessant?
Jean Peters: Klassischer Journalismus soll aufklären und Fakten in ihrem Kontext verständlich machen. Ich würde noch eins draufsetzen: Fakten sind nicht nur im Kontext besser verständlich, sie sind im gemeinschaftlichen Erleben eigentlich erst zu verdauen. Dem steht die Medienwirklichkeit der meisten Menschen gegenüber: Man swipt alleine auf dem Smartphone durch die Timelines. Wir werden täglich aggressiv mit Headlines beballert und müssen jedes Mal entscheiden: Lese ich das oder versuche wenigstens, schnell die wichtigsten Informationen aus dem Text zu filtern? Das ist eine Bedrohung für unsere Gemeinschaft, weil Orientierung nicht mehr leicht möglich ist. Dem Journalismus ist mit dem Untergang der Zeitungen auch das Medium für seine Kernaufgabe verloren gegangen: Aufklärung. Theater ist eine von vielen Antworten: Hier kann man in Ruhe eine Geschichte erzählen und am Schluss wissen wir: Es gibt Zeugen für das gemeinsame Erleben.
Calle Fuhr: Diesen aufmerksamkeitsökonomischen Aspekt teile ich. Im Theater haben wir die Möglichkeit, uns mit ungeteilter Aufmerksamkeit einem komplexen Thema zu widmen, ohne parallel 700 andere Sachen zu machen. Wo passiert das noch? Gemeinsam live auf eine Reise zu gehen, hat mittlerweile Einzigartigkeitscharakter, und das ist für mich erst einmal ein starkes Argument, um große Recherchen auf die Bühne zu bringen.
Was bewirkt Ihrer Ansicht nach das gemeinsam erlebte, voreinander bezeugte Theatererlebnis, gerade in Bezug auf die vermittelten Inhalte?
Jean Peters: Ich glaube, das Gemeinschaftliche weckt ein soziales Verpflichtungsgefühl dem Thema gegenüber. Wir nehmen Informationen anders auf, in Ruhe und in voller Länge, mit all ihren Ambivalenzen. Wenn ich alleine einen komplexen Text lese, ist es ein anderer Text, als wenn ich ihn im Theater gemeinsam mit anderen erlebe. Das Theater hat die Ruhe der Entwicklung und des Abholens, der Kontextualisierung und der Metaebenen. Im Journalismus ist es genau anders herum. Du quetschst alle wichtigen Fakten im Text nach oben und versuchst, mit einem Erdbeben anzufangen. Dann baust du drei Hooks und versuchst die Leser*innen mitzuziehen. Und wenn du gut bist, schaffst du am Ende ein Armageddon. Das ist brutal.
Das ist ja eine ziemlich kulturpessimistische Sicht. Sie gehen also von einer Gesellschaft beziehungsweise einer Öffentlichkeit aus, die gar keine komplexen Informationen mehr aufnehmen oder verarbeiten kann?
Calle Fuhr: Doch, das kann sie auf jeden Fall. Gleichzeitig bringt Correctiv halt super lange Stories und Dossier hundertseitige Magazine heraus. Und da sollten wir uns schon die Frage stellen: Wer liest das denn wirklich? Die wenigen, die es tun, reichen nicht, um gesellschaftlich etwas in Gang zu setzen. Verschiedene Ausspielformate finde ich daher wahnsinnig sinnvoll.
Jean Peters: Wie können wir Informationen so vermitteln, dass die Menschen mit diesen Informationen handeln können? Wie bereiten wir die Informationen auf, damit sie demokratisch handeln können, sich organisieren, den Kontext verstehen, sich verabreden und Entscheidungen treffen?
Ihr Anliegen ist also, mit Investigativtheater gesellschaftlich etwas zu bewegen. Wie gehen Sie konkret vor?
Jean Peters: Mein Job als Journalist hier bei Correctiv ist, aufzuklären. Das wird bei Correctiv auch wirklich hochgehalten. Dieser Informationsauftrag ist für das eigene Mindset sehr wichtig. Doch wir wissen auch, dass Aufklärung keine Einbahnstraße mehr ist. Wahrheit ist komplex. Widersprüchlich, stetig gebrochen. Um Aufzuklären braucht es also viele Perspektiven, viele Formen, viele Medien … Mit der "Geheimplan"-Recherche etwa haben wir versucht, viele Medien und Perspektiven auf das Geschehene einzubeziehen, also was in Potsdam bei diesem Treffen passiert ist. Was das für unsere Gesellschaft bedeutet.
Und wie verstehen Sie Ihren Auftrag als Theaterautor, Jean Peters? Im "Geheimplan"-Stück gibt es ja durchaus steile Formulierungen, da fällt der Begriff "Faschos" und die auktorialen Figuren im Text nehmen eine starke Haltung gegen die AfD ein. Das klingt eher aktivistisch und nach einem expliziten Engagement gegen Rechts und nicht nach nüchternem Investigativ-Journalismus.
Jean Peters: Das Stück war schon eine Verarbeitung der Recherche und nicht die Recherche selber. Da nehme ich die Theatergänger*innen schon ernst, denn sie vergessen nicht, dass sie im Theater sind, einem grundsätzlich künstlerisch ausgerichteten Ort. Und traditionell nutzen wir das Theater ja auch, um Dinge zu verhandeln. In der Redaktion haben wir etwa über die faschistischen Begriffe diskutiert, ob wir sie im Stück reproduzieren können. Es gibt die Szene, in der Martin Sellner …
… der österreichische Rechtsextreme, der die politische Idee der "Remigration" bekanntgemacht hat und als Vortragender am Potsdamer Geheimtreffen teilgenommen hat …
Jean Peters: … in der die Figur des Martin Sellner ständig unterbrochen wird: "Stop mal, ‘assimilierte Staatsbürger’ kannst du so nicht sagen, das ist ein Fascho-Begriff". Und dann debattieren die Figuren auf der Bühne, ob sie diese menschenfeindliche Terminologie durch ihre Dokumenation in der Darstellung reproduzieren. Die Szene basiert tatsächlich auf einer Debatte in der Correctiv-Redaktion. Im Theaterstück wird auch deutlich, was der politische Plan einer "Remigration" eigentlich für uns in unseren sozialen Beziehungen bedeutet, wenn sich eine Figur richtig aufregt und fragt: Was soll das?
Wenn Sie sagen, dass Sie im Theater mit faktenbasierten, top recherchierten Geschichten möglichst viele Leute erreichen und zum gesellschaftlichen Handeln anregen wollt: Wie steht es denn dabei um die Zugangsschwellen? Via Smartphone kann man relativ barrierefrei auf Inhalte zugreifen. Anders im Theater: Man muss eine Eintrittskarte kaufen, es gibt einen kulturellen Code, den man beherrschen muss, damit einen die Informationen überhaupt erreichen.
Calle Fuhr: Na ja, beim Smartphone zahle ich ja auch, nur anders: mit meinen Daten – und mit einer Isolation aus direkter physischer Interaktion. Und im Theater geht es natürlich auch um eine Vermittlungsarbeit. Doch gerade wenn wir uns hier zusammentun, seien es Correctiv und das Theater Cottbus oder Dossier und das Volkstheater in Wien, erreichen wir Synergieeffekte. Leute, die den Newsletter von Dossier lesen, werden neugierig, weil das Recherchemedium etwas im Theater macht. Und Volkstheater-Abonnent*innen die eigentlich ihr Abo nur haben, um einmal im Jahr ihren Schiller zu sehen, werden auf Dossier aufmerksam. So können wir unsere Reichweiten potenziell schon mal verdoppeln.
Apropos Schiller: Der Investigativ-Journalist hat ja durchaus auch ein Schiller’sches Moment, in dem Pathos, mit dem er der verrotteten Welt entgegentritt ...
Jean Peters: Ich habe eine Vision, was das angeht. Bei Correctiv wurde ich eingestellt, um neue investigative Methoden und Formen des Journalismus aufzubauen. Eine dispositionelle Frage ist, wie man die Abläufe einer zwei-, dreimonatigen journalistischen Recherche mit den Abläufen im Theater zusammenbringt, die oft ein Jahr Planungsvorlauf und mindestens sechs Wochen Probenzeit vorsehen. Wir bauen dazu ein Netzwerk von Theatern und Kultureinrichtungen deutschlandweit auf. Mit der "Geheimplan"-Recherche haben wir das jetzt einmal geschafft. Daraus wollen wir lernen und Debattenräume erweitern.
Wenn man Recherche- und Probenräume zusammendenkt, formatieren sich Theater und Journalismus ja auch gegenseitig. Wird das im Ergebnis nicht unter Umständen ein Problem? Geht nicht etwas verloren, wenn die jeweiligen Entwicklungs- und Produktionsprozesse synchronisiert werden müssen für das Ergebnis auf der Bühne?
Calle Fuhr: In der Theorie möglicherweise, aber in der Praxis habe ich das noch nicht erlebt. Im Gegenteil: Wenn ich eine Story nur lese, denke ich meist: "Oh, noch etwas Schlimmes ist hochgegangen!" oder "Ach, das jetzt auch noch!" Aber im Theater spürt man den Rechercheweg mit und sieht, dass hier ein Sachverhalt aufgedeckt worden ist. Das macht die Übersetzung dieses Vorgangs in der Inszenierung zu einer Art Heldengeschichte: Ihr seid rausgegangen in die Welt, habt gesagt, irgendwas stimmt da nicht, und dann seid ihr drangeblieben und habt es ans Tageslicht gebracht!
Jean Peters: Das finde ich aber total schwierig. Ganz konkret beim "Geheimplan" hat Lolita Lax, meine Co-Autorin, darauf bestanden, mich als den unter Rechten Recherchierenden in das Stück mit reinzuschreiben: wie ich als James Bond in diesem Potsdamer Hotel undercover unterwegs bin. Das war mir unangenehm und dann haben wir uns darauf geeinigt, dass es sehr clownesk wird und trottelmäßig. Und die Recherche muss natürlich unabhängig vom Probenprozess laufen, da formatiert nicht nichts gegenseitig, nein. Das wäre ja absurd.
Also war der Eindruck korrekt, den viele hatten: dass der Recherchierende vor Ort nur Jean Peters gewesen sein konnte, der als Aktionskünstler beim Peng!-Kollektiv schon als Google-Manager oder Shell-Pressesprecher aufgetreten war.
Jean Peters: Ja. Aber mich selbst als Held da reinzuschreiben, finde ich unsinnig. Das ist Selfie-Journalismus, wie das schon 2014 ein Kollege von der taz [Michael Sontheimer, zum Artikel] genannt hat. Hält sein Handy hoch, als würde er ein Selfie schießen und sagt in der Diktion zwischen Kriegsreporterin und Influencer: Ich bin hier gerade in Syrien und möchte jetzt erstmal über meine Gefühle reden. Abgesehen von Eitelkeiten führt aber auch die klassische Heldenerzählung, wie sie so viele Produkte durchzieht, zu einem Heilsversprechen genialer Einzelkämpfer. Das ist eine Fiktion, eine gefährliche noch dazu.
Calle Fuhr, wie sehen Sie das?
Calle Fuhr: Jean ist beim "Geheimplan" Investigativjournalist und Theaterautor in einer Person. Ich bin bei den Kooperationen mit Correctiv oder Dossier alleiniger Autor und sage: Ihr gebt mir diese Recherche und ich suche den Weg, das für Theatergänger*innen so spannend wie möglich zu erzählen. Wenn du dich selbst da reinschreibst, dann kann das eitel wirken. "Guck mal, hier meine Heldengeschichte, wie ich die OMV kaputt gehauen habe in Österreich, na klar."
… Das war in dem Stück "Die Redaktion", 2021 im Wiener Volkstheater aufgeführt, wo es um Machenschaften des staatlichen österreichischen Öl-, Gas und Chemiekonzern OMV ging ….
Calle Fuhr: Genau. Aber wenn ich sage, hey Leute, die haben hier eine richtig wichtige Sache aufgedeckt, dann ist das wieder etwas Kooperatives, eine Errungenschaft. Diese Recherche sichtbar zu machen ist kein Sich-in-den-Vordergrund-Drängen. Ich bin quasi als Theatermacher ein Übersetzer dieser Vorgänge.
Generell geht es dem Investigativtheater, das dem journalistischen Scoop nahe steht, also um eine wirkungsbewusste Gestaltung von Vorgängen. Auch Journalismus inszeniert. Wann schwächt die Inszenierung die Fakten oder weckt beim Publikum die Frage, ob etwas wahr oder erfunden ist? Wie wandeln Sie auf dem schmalen Grat zwischen Fakt und Fiktion, Glaubwürdigkeit und Spannungsaufbau?
Calle Fuhr: Indem wir hinterfragen, was wir tun, und besser werden. Bei meiner Cottbusser Arbeit "Das Kraftwerk" bin ich mir zum Beispiel gar nicht mehr sicher, ob es so klug war, eine fiktive Schnitzeljagd-Whodunnit-Geschichte um die Fakten herum zu bauen, ohne dem Publikum einen Faktencheck anzubieten. In meinem Stück "Monopoly" für das Osten-Festival in Bitterfeld, das in der Spielzeit 2024/25 ans Theater Magdeburg wandert, habe ich das jetzt geändert und einen Faktencheck mit allen Quellen online zur Verfügung gestellt. Damit wir diesen schmalen Grat zwischen Fakt und Fiktion wirklich treffen, können wir in der Arbeit noch genauer und transparenter werden. Das Skript anbieten, den Text Open Source stellen, wie ihr das ja beim "Geheimplan" auch gemacht habt, Jean. Das schafft Glaubwürdigkeit.
Jean Peters: Beim "Geheimplan" gibt es den Theatertext, der bewusst auch fiktionalisiert, um klarer einzuordnen. Wer die Fakten haben will, geht auf die Correctiv-Webseite und liest die komplette Recherche.
Aber gibt es nicht einen Grundkonflikt zwischen faktenbasiertem Journalismus und künstlerischen Erzählstrategien auf dem Theater, wo die Wege zur Wahrheitsfindung aus dramaturgischen Gründen auch mal manipuliert werden?
Jean Peters: Da muss ich eine Anekdote erzählen. Ich habe kürzlich einen ehemaligen BILD-Chef, getroffen und der sagte, "wirklich beeindruckende Recherche, aber diese Inszenierung fand ich zu viel". Da habe ich innegehalten, ihm in die Augen geguckt und gelächelt. Da hat er es selber gemerkt, dass sie bei BILD ständig Fakten inszenieren und zu Kampagnen bauen. Er schaute kurz auf den Boden und juckte sich am Ohr. Die verfolgen eine eigene politische Agenda, verdrehen Fakten, trampeln auf den Ärmsten der Gesellschaft herum. Bei Correctiv ist das Ziel und die Umsetzung mit künstlerischen Mitteln natürlich grundsätzlich anders als bei der Bild Zeitung. Fakten müssen so eingebettet, also kontextualisiert und emotionalisiert werden, dass das Publikum die Komplexität besser versteht. Und wenn Sie auf das Wort Manipulation bestehen sollten, würde ich hier ein Paradoxon beschreiben: Wir manipulieren zur Selbstbestimmung und zum gemeinschaftlichen Erkenntnismoment. Die Bild Zeitung manipuliert durch Affektansprache.
Einen Zug ins Volkstheaterhafte hatte die Inszenierung des "Geheimplans" ja durchaus. Da kommt der Kasper mit der Pritsche und haut den Mächtigen ordentlich auf die Birne.
Jean Peters: Hey, nichts gegen Volkstheater! Aber es war ja auch wirklich genau so. Da ist ein Kasperle bei dem Geheimtreffen herumgelaufen. Ich habe übrigens zehn Jahre als Kinderclown gearbeitet.
Calle Fuhr: Weil du sagst, es war ja so einfach, du bist da eben mal langgelatscht mit deiner Spionage-Uhr: Das ist etwas, was wir beim Theater immer wieder merken, wenn wir uns an scheinbar unbezwingbare Themen wagen. Am Ende ist es doch gar nicht so komplex, wenn man einmal durchgestiegen ist. Beim René-Benko-Stück habe ich die Mechanismen, wie aus einem kleinen Vermögen durch das geschickte Hantieren mit Immobilien-Bewertungen ein immer größeres wird, ja auch erklärt. Natürlich ist das vereinfacht, wenn ein Papierkügelchen beim Hütchenspiel für die Millionen steht, die ein Unternehmen zwischen seinen Tochterfirmen hin und her bucht. Aber das Prinzip dahinter ist eben oft auch nicht übermäßig komplex. Gerade auch bei Korruption, das haben wir bei Dossier immer wieder gemerkt. Das hat etwas total Selbstermächtigendes, diese Mechanismen zu verstehen und erklären zu können. Am Ende sind es immer Menschen, die handeln, keine Roboterhirne. Sie sitzen zusammen am Tisch, trinken Bier oder einen edlen Wein und dealen und zocken. Aber zurück zur Frage: Ich würde da jetzt mal die These in den Raum stellen, dass auch die seriöseste journalistische Erzählung narrativen Mechanismen folgt, wie Jean es vorhin beschrieben hat.
Wie halten Sie es also mit Fakt und Fiktion?
Calle Fuhr: Beim faktischen Zugang des Journalismus wird oft die Perspektive, die die schreibende Person hat, nicht sichtbar gemacht, und so getan, als gäbe es diese Perspektive nicht. Aber selbst wenn ich scheinbar ganz nüchtern Fakt eins, Fakt zwei, Fakt drei auswähle, erzähle ich ja auch eine Geschichte.
Jean Peters: Ich würde gerne ein paar Schritte weiter gehen. Wir sprechen gerade über das journalistische Einmaleins von vor 50 Jahren. Aber heute gibt es Elon Musk, der via X den öffentlichen Diskurs mit gestaltet, und es gibt Facebook mit profitorientierten Algorithmen oder TikTok mit Geo-Strategien aus China. Unsere Informationsgesellschaft wird gerade in nie gekannter Dimension auf Steroids umgebaut, von riesigen Tech-Konzernen, die Heere von Psychologen beschäftigen, um herauszufinden, wie man noch mehr Aufmerksamkeit aus den Menschen saugen kann. Diese Firmen sind sehr mächtig, und diesem Umbau der Öffentlichkeit stehen wir gerade gegenüber. Das heißt, für mich ist die Frage nicht: Wollen wir jetzt dazu einen Kommentar verfassen oder einen objektiven Bericht? Sondern die Frage ist: Wie gestalten wir das alles mit? Wie können wir die Gesellschaft so auf Informationen bauen, dass die Menschen mit diesen Informationen demokratisch handeln können?
Die Plattform "Übermedien" behauptete kürzlich, in der "Geheimplan"-Recherche seien Fakten manipuliert worden.
Jean Peters: Ja, ich bin wirklich verwundert, was da passiert ist. Die Kritik ist oberflächlich und argumentiert journalistisch unsauber. Im Prinzip übernimmt sie rechtsextreme Perspektiven, was ihr eigener Autor Andrej Reisin nun in einem weiteren Text auch ideologisch treffend eingeordnet hat. Wir verfügen über eine solide Quellenlage, die über das im Artikel Dargestellte hinausging. Vieles ist bereits dort direkt und nachvollziehbar belegt. Was im Raum besprochen wurde, haben wir belastbar überprüft. Um unsere Quellen zu schützen, können wir jedoch nicht alle Belege offenlegen. Auch das sind Basics von Journalismus.
Wir haben uns mit der aus unserer Sicht nicht sehr stichhaltigen Kritik auseinandergesetzt. Ich habe dazu auf Twitter auch nochmal im Detail geantwortet.
Sie haben von alternativen Ausspielmöglichkeiten für Inhalte gesprochen. Das verstärkt sich optimaler Weise gegenseitig, durch die unterschiedlichen Formen und Formate. Was ist da die Idee?
Jean Peters: Es geht darum, einen Raum zu schaffen, in dem sich Gesellschaft bilden kann. Wir wollen die Lust daran wecken, Gesellschaft zu gestalten. Auf Grundlage der Informationen, die wir journalistisch aufbereitet haben und die dann weitergetragen werden. Das ist meine Vision – und das kann Theater sein. Theater im klassischen Sinne, als Bühneninszenierung, aber auch im weiteren Sinne, so wie ich das mit Peng! erforscht habe, wenn auch mit anderen inhaltlichen Ansätzen. Mit Correctiv entwickeln wir gerade zum Beispiel einen journalistischen Escape Room, da hat man plötzlich eine ganz andere Zielgruppe, das ist interessant.
Wir haben noch gar nicht darüber gesprochen, wie Sie, Calle Fuhr, zum Journalismus oder auf journalistische Themen fürs Theater gekommen sind?
Calle Fuhr: Das war ein Zufall. Ich habe am Volkstheater Wien das Bezirksformat übernommen, und wir wollten an diesen sehr unterschiedlichen Orten – von der Volkshochschule bis zum Minikeller – Themen für die Stadt machen. Kay Voges hatte schon in Dortmund mit Correctiv zusammengearbeitet und fragte, ob es auch in Österreich eine solche Rechercheplattform gibt. So sind wir auf Dossier gestoßen und haben relativ schnell gemerkt, hier funkt ein Spirit, auch in dieser Stadt, die teilweise sehr langsam ist, und es war gut, ein bisschen Tempo aufzunehmen. Im ersten Projekt, "Heldenplätze", haben wir ältere Recherchen von Dossier neu aufgearbeitet. Da habe ich Feuer gefangen und überlegt, wie man das inhaltlich noch näher an die Gegenwart heranholen kann. Welche Themen kann man behandeln, die erst mal überhaupt nicht ins Theater passen? Wie schafft man es, ein Öl-Unternehmen und dessen Gutachtenaffären auf die Bühne zu kriegen? Oder René Benko: Er hat als Figur etwas Theatrales, aber die Figur und wie sie auf ihrer Yacht herumsteht, die interessiert ja nicht. Interessant ist der Mechanismus dahinter, die Leute, die ihn stützen, die ihn mit aufgebaut haben. Das auf die Bühne zu bringen!
Sie haben dafür eine Inszenierungsweise gefunden, mit viel Ironie und Komik als Showmaster, der die Fakten wie bei einem Stand-up-Format präsentiert.
Jean Peters, Sie haben Erfahrung mit performativen Zusammenhängen außerhalb des Theaters, sind mit Peng! als aktivistischer Performer in der Öffentlichkeit aufgetreten. Inwiefern spielen diese Erfahrungen in Ihren Job als Journalist hinein? Das klassische Konzept besagt ja, dass Journalist*innen eben nicht sichtbar sind, sondern quasi neutral und objektiv. Sie verschwinden hinter den Texten.
Jean Peters: Ich glaube, dass ich bestimmte Selbstverständlichkeiten nicht mitbringe und dadurch manche veraltete Grenzen geflissentlich übersehen kann. Manche meiner Tanzschritte, um jetzt mal so ein Bild zu schaffen, sind aus der Aktionskunst. Wenn ich etwas herausfinden will, überlege ich: Wie komme ich da abseits von klassischen Presseanfragen und Quellengesprächen außerdem noch ran? Mein Job bei Correctiv ist es, neue Methoden und neue Wege sowohl der Erzählung als auch der Investigation zu finden.
Gibt es denn Themen oder Vorgänge, die auf dem Theater nicht funktionieren? Oder ist das immer nur eine Frage, wie man etwas darstellt?
Jean Peters: Es gibt zwei Dinge, die man generell nicht nur im Theater, sondern überall schwer erzählen kann: Finanzen und Tech. Diese beiden Themen produzieren etwas, dass ich vorsichtig als eine Art gesellschaftliche Massenhypnose bezeichnen würde. Ich meine den Begriff ironisch, denn natürlich gibt es keine Verschwörung und wir sind keine Zombies. Trotzdem habe ich Folgendes beobachtet: Spräche ich jetzt mit Euch über CNT Server und Malware, über Subprime-Hypotheken oder Collateralized Debt Obligations (CDOs), würdet Ihr sehr wahrscheinlich müde werden und einschlafen. Das Gehirn schaltet bei einem Großteil der Gesellschaft beim Thema Tech und Finanzen einfach ab, statt neugierig zu werden. Tatsächlich aber gibt es eine neue Branche, die Milliarden mit Finanztechnologien verdient. Elon Musk und Peter Thiel, diese rechtsliberalen Milliardäre, haben mit Fintech ihr Geld gemacht. Es gibt komplexe Verschleierungsstrategien von Korruption. Auch beim Thema Bankenregulierung und Finanzspekulation beobachte ich die Strategie, Menschen mit vermeintlicher Komplexität zu ermatten. Dabei ist alles menschengemacht. Als Investigativer fräst du dich dann da durch, übersetzt es, machst dir diese ganze Mühe. Das ist die Arbeit des Journalismus – aber auch die des Theatermachens. Da treffen wir uns.
Calle Fuhr: Gerade an die zwei Themenfelder, die du genannt hast, müssen wir ran, Finance und Tech. Da haben wir auch, was das narrative Handwerk betrifft, wahnsinnig viel aufzuholen. Ich habe mit "Monopoly" in Bitterfeld gerade einen Abend über die Schuldenbremse gemacht, was als Thema ja erstmal nicht nach der Bühne schreit. Am Ende ist es fast eine Comedy Show geworden, weil so abstrus ist, was wir uns da ins Grundgesetz geschrieben haben.
Jean Peters: Zu verstehen, was passiert, ist die Aufgabe des Journalismus. Und das zu einem richtig guten Abend zu machen, ist die Aufgabe des Theaters. Leider hat investigativer Journalismus meist überhaupt kein Interesse, sein Publikum zu verzücken, so null, wir wollen, dass es versteht – das ist eigentlich die Haltung: Miese Laune produzieren. Zum Glück gibt es noch das Theater.
Also folgt Investigativtheater dem Ansatz, zum Verstehen zu verführen und zum Durchschauen anzustiften?
Jean Peters: Ja. Und zu inspirieren. Was alles passieren kann, wenn die Neugierde geweckt wird! Das Publikum soll Lust haben auf den Abend, weil wir einen Drive schaffen. Und wir wollen ja auch nicht beim Theater stehen bleiben, sondern überlegen, wie man Massenmedien nutzen kann, um investigativen Journalismus zu stärken. Wie könnte man zum Beispiel einen ARD-Tatort investigativ interessant machen? Wir könnten einen QR-Code angeben, und dann können die Leute Belege und Dokumente ansehen, und dadurch entsteht die Geschichte weiter.
Das klingt wie die ganz große Vision: die Unterhaltungsbranche hacken, um gesellschafts- und demokratiepolitisch relevante Informationen ins System einzuspeisen.
Jean Peters: Wir sind gerade an den Rändern eines Systems angekommen, das ein dringendes Update braucht. Die Frage ist – wohin: etwa Richtung kapitalistischer Faschismus? Oder gibt es irgendwelche Wege, wie wir die Demokratie noch mal stärken und neu vertiefen können? Das wird etwas sein, von dem wir noch nicht wissen, was es ist und wie es aussieht, und das braucht gerade richtig Anpacke.
Calle Fuhr: Ich glaube, es geht darum, Potenzial auszuschöpfen, das brach liegt. Nehmen wir die viel beschworene Polarisierung der Gesellschaft: Wenn 700 Menschen zusammen in einem Raum sitzen und über denselben Witz lachen, dann baut das eine Front ab. Und wenn man danach im Publikumsgespräch wirklich miteinander in den Austausch kommt, dann ist das Theater ein Raum, der Brücken bauen kann. Eine Polarisierung wird sich natürlich nicht durch einen Theaterabend auflösen, und eine Inszenierung wird nicht Leute von der AfD zurück zu einer demokratischen Partei bekehren. Aber zumindest kann das Theater ein Raum sein, in den man vielleicht auch seinen latent verschwörungstheoretischen Onkel das nächste Mal mitnimmt.
Calle Fuhr ist Autor, Performer und Regisseur. Am Volkstheater Wien, wo er die Bezirks-Spielstätten leitete, hat er mit Dossier zusammen "Die Redaktion" und "Aufstieg und Fall des Herrn René Benko" geschrieben, gemeinsam mit Correctiv "Das Kraftwerk" am Staatstheater Cottbus auf die Bühne gebracht.
Jean Peters gründete das Peng!-Kollektiv mit und inszenierte dort unter anderem einen fingierten Aussteigerverein für Geheimdienstmitarbeiter, der sich zwischen Realität und Fiktion bewegte. Als Correctiv-Journalist recherchierte er vor Ort in Potsdam für die Recherche "Geheimplan gegen Deutschland" und schrieb als Co-Autor das Theaterstück mit, das Anfang 2024 am Berliner Ensemble, in Streams an vielen Theatern als szenische Lesung gezeigt und seitdem in etlichen Theatern, Schulen und Kneipen reinszeniert wurde.
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Dokumentartheater gab es auch vor 50 Jahren schon. Die Aussagen im Interview zeigen auch nicht, was an dem Ansatz jetzt neu sein sollte. Für mich ist das alter Wein in - vielleicht - neuwertigen Schläuchen.
Dokumentarisches Theater hat schon seinen Reiz, wenngleich die Kraft des Theaters meiner Meinung da oft nicht ausgeschöpft wird.
https://cointernational.de/6-06-2024-calle-fuhr-inszeniert-alphabet-am-kasemattentheater-luxemburg/
https://www.tageblatt.lu/kultur/buehnenreif-in-26-szenen-autor-und-regisseur-calle-fuhr-bringt-den-klimawandel-ins-theater/
https://www.lessentiel.lu/de/story/kulturlandschaft-das-stueck-alphabet-zeigt-die-dringlichkeit-der-klimakrise-103117876
https://www.wort.lu/kultur/beim-klimawandel-hilft-nur-satire/13693266.html
doch bereits 2022 hatte er im Kasemattentheater Luxemburg die GIPFELSTÜRMER inszeniert
Der Schauspieler und Jurist Marc Limpach leitet das Theater
Was am investigativen Theater neu ist, hat Calle Fuhr im Nachtkritik Podcast sehr anschaulich erzählt.
Es kann eben doch die volle Kraft des Theaters ausschöpfen.
Beste Grüße und viel Spaß beim Hören!
https://www.nachtkritik.de/?view=article&id=23232:theaterpodcast-63-dokumentartheater&catid=1877
Es hat also durchaus mit Imagination zu tun #4, und mit dem Erschaffen fiktiver Welten, über die man jedoch gern die absolute Deutungshoheit haben möchte und deshalb behauptet, es sei Dokumentartheater.
(...)
Was für eine tolle Beschreibung. Das bringts auf den Punkt