Reportage: Als Statistin bei den Salzburger Festspielen
Tanz den Teo
27. August 2024. Als Kritikerin war sie viele Sommer lang bei den Salzburger Festspielen im Einsatz, sah von der Stadt nur die Spielstätten und Hotelzimmer. Seit zwei Jahren ist die Autorin nun als Statistin dabei – und macht hinter den Kulissen ganz neue, intensive Erfahrungen.
Von Barbara Villiger Heilig
27. August 2024. Heute frisiert mich Ramona, wie das Namensschild auf einem der zwölf Spiegel unserer provisorischen Maskenabteilung besagt, im Schüttkasten hinter der Pferdeschwemme, wo auch Kartenbüro und Orchesterprobensaal untergebracht sind. Während Ramona meine Zöpfchen am Kopf feststeckt, die später der Perücke Halt geben müssen, plaudern wir. Wir sind gleich alt, sie hat im Lauf ihrer Freelance-Berufstätigkeit wiederholt bei den Salzburger Festspielen gearbeitet, auch in Hallein auf der Perner-Insel, als Peter Stein dort "Libussa" inszenierte. Ramona verzieht das Gesicht: Sie wollte bei einer Probe zuschauen, doch der Regisseur warf sie hinaus.
Schlagartig kommt mir die "Libussa"-Premiere in den Sinn. Eine eher albtraumhafte Erinnerung. Anfahrt im Shuttle zwischen Kritikerkollegen, die mit Hintergrundwissen bzw. Klatsch prahlten; ein kaum je gespieltes Stück, zu dem ich keinerlei Zugang hatte; hinterher die nächtliche Schreiberei unter Zeitdruck in einem stickigen Altstadthotel. Auch an ein Interview mit Peter Stein, damals Schauspielleiter bei den Festspielen, erinnere ich mich. Er verkündete unter anderem, Kritiker hätten hinter Kulissen oder in Kantinen nichts verloren, ihnen obliege es einzig, die fertige Inszenierung zu beurteilen. Oder wie er sagte: "das Resultat".
Als Statistin ohne Scheuklappenblick
Mein Leben als Theaterkritikerin führte mich viele Sommer lang nach Salzburg. Außer den Spielstätten, Hotelzimmern und Freibädern kriegte ich von der Stadt kaum etwas mit. Der Job zwang zu einem eng fokussierten Scheuklappenblick: Auf die Bühne, in den Computer. Jene Zeiten sind vorbei. Unterdessen bin ich, schon zum zweiten Mal, als Statistin hier. Nach dem letzten Jahr mit "Falstaff" von Christoph Marthaler und Anna Viebrock dieses Jahr im "Don Giovanni" von Romeo Castellucci, einer sanft retouchierten Wiederaufnahme aus dem Pandemie-Jahr 2021.
Damals sah ich eine Übertragung via Stream, nun bin ich eine der knapp 150 Frauen des "Flock Choir": lauter Ex-Geliebte des Titelhelden, von diesem verführt und sitzen gelassen. Bei der allerersten Probe, draußen am nördlichen Stadtrand in einer Halle des Messezentrums, hält Castellucci vor versammelten Beteiligten eine Ansprache, in der er das ideologisch Problematische dieses musiktheatralischen Meisterwerks benennt: In Leporellos Registerarie, die den "Katalog" von Don Giovannis Verflossenen festhält, würden die Frauen zu bloßen Nummern degradiert. Wir sollen ihnen durch unsere Bühnenpräsenz ein Gesicht geben: nicht einfach als Opfer des Täters mit seiner unersättlichen Begierde, sondern als Replik in Fleisch und Blut. Sagt es und verschwindet: Castellucci probt mit dem Solistenensemble, wir – besagter "Flock" – proben mit der Choreographin Cindy Van Acker.
Mini-Charakter oder Teil eines Körper-Korpus
Schade, denke ich enttäuscht. Aber das Gefühl verschwindet bei der Arbeit umgehend. Die Aufgabe unterscheidet sich komplett von der letztjährigen, als wir, eine Handvoll Statistinnen und Statisten, zwischen Falstaff & Co. kleine Einzelrollen spielten, stumm natürlich, aber individualisiert, mit rollenspezifischen Kostümen: eigentliche Mini-Charaktere. Wohingegen wir nun eine uniforme Grossgruppe bilden, einen Korpus aus Körpern, die sich zu immer neuen Mustern formen. Wir, das sind weibliche Wesen zwischen knapp 8 und gut 80 Jahren. Schulmädchen, Studierende, Berufstätige, Mütter, Grossmütter, Witwen, Rentnerinnen. Aus Salzburg und Umgebung und teilweise von weiter her.
Die Gründe, bei der Statisterie mitzumachen, variieren. Mich beeindruckt die mittlere Altersgruppe: junge Tänzerinnen, angehende Sängerinnen, hochmotiviert und zielorientiert. Viele studieren am Mozarteum, für sie zählt jede Bühnenerfahrung. Fachsimpeln, Abläufe durchspielen, Namen aufschnappen, Stars aus nächster Nähe erleben, Chor- und Orchestermitglieder kennenlernen: Für angehende Profis kann Networking den Weg in die Zukunft öffnen. (Wie viele von ihnen werden es schaffen, frage ich mich leicht beklommen.) Ich selbst bin aus purer Neugier da, vermutlich um meine ehemalige Kritikertätigkeit zu ergänzen um das, was dem "Resultat", siehe oben, vorausgeht: das Entstehen eines Bühnenwerks, seine materielle Umsetzung – in allen Details.
Labyrinth hinter den Kulissen
Wo sich für mich der Festspielbezirk früher beschränkte auf Foyers und Zuschauersäle, beginnt nun dahinter, daneben, ringsherum ein durchlässiges Labyrinth aus Seiten-, Hinter- und Unterbühnen sowie überhaupt dem ganzen Festspielhaus, in das nur Einlass erhält, wer sich mit einem Badge als Insider ausweist. Labyrinth ist kein zufällig gewählter Begriff. Das Innere des Festspielhauses wirkt wie ein gewachsener Organismus, man verirrt sich sofort in den zahllosen Abteilungen, Werkstätten, Bürobereichen, Teppichetagen, Garderoben, Treppenhäusern... (Damit ist übrigens bald Schluss, denn diesen Herbst noch beginnt der große Umbau.)
In Salzburg scheinen alle froh zu sein, für ihre Musik dasein zu können, die Restwelt findet anderswo statt.
Vorerst aber proben wir in der Messe, wo in benachbarten Hallen parallel auch andere proben. An der Kaffeebar grüßt mich Bogdan Volkov. Er war im "Falstaff" dabei, nun singt er als Fürst Myschkin die Hauptrolle in Der Idiot. Wenn wir Pause haben, hören wir ihm und seinen Bühnenkollegen zu, wie sie mit der Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla ihre Partien einstudieren. Ein Ensemble, bestehend unter anderem aus ukrainischen, russischen, slowakischen, belarussischen, litauischen und polnischen Sängerinnen und Sängern. Ob es keine Spannungen gebe in Anbetracht der weltpolitischen Lage, will ich von den beiden beteiligten Statisten wissen, die ich ebenfalls aus dem "Falstaff" kenne. Die Frage wird dezidiert verneint: Es herrsche absolute Harmonie. In Salzburg scheinen alle froh zu sein, für ihre Musik dasein zu können, die Restwelt findet anderswo statt. – Dieser Eindruck bestätigt sich auch im "Don Giovanni".
Proben für die Pizzaschnitte
Unterdessen haben wir – die Frauenschar – mit Cindy Van Acker und Maxi Lehmann, einer Regieassistentin, unsere Szenen eingeübt, aneinandergehängt, zusammengesetzt. Videoaufzeichnung der ursprünglichen Produktion halfen dabei. Was zuerst unmöglich schien, klappt besser und besser: Nach Zentimetergröße in Untergruppen aufgeteilt, die sich auch farblich abstufen – in Nuancen von Weiß/groß bis Fuchsia/klein –, formieren wir uns zu bewegten Gebilden, die Namen tragen wie "Spinne", "Pizza", "Raclette", "Spiegelei". Die Pizza ist eigentlich eine Pizzaschnitte und wird alternativ auch "Trichter" genannt, da von der Spitze her immer zwei Frauen – eine nach rechts, eine nach links – abgehen, bis alle von der Bühne sind. Es gibt auch eine doppelte Diagonale, genannt entweder "Dégradé", weil darin die erwähnte Farbabstufung voll zur Geltung kommt, oder "Zickzack" beziehungsweise "Reißverschluss", weil wir paarweise nebeneinander zu stehen kommen.
Je nachdem, wer fehlt (nie sind alle da), geht es manchmal schief. Gleich anschließend folgt der heikelste Moment: In Windeseile müssen wir auf der Seitenbühne schwarze Capes und Langhaarperücken fassen – ein Heer von Ankleiderinnen wartet – und uns für den Friedhof aufreihen, den wir in dieser Verkleidung darstellen. Zwischen uns schleichen Don Giovanni und Leporello durchs Halbdunkel, bis wir sie in Bedrängnis bringen und mit unseren wogenden Haaren ("Headbanging") davonjagen.
Segnungen der Theatertechnik
Beim Umzug von der Messe auf die Bühne hatte uns der technische Direktor Andreas Zechner mit Sicherheitsinstruktionen gebrieft. Immer sachlich, immer freundlich, zählt er zu denen, die mich während der Vorstellungen aufatmen lassen, sobald sie hinter Kleiderständern, Requisitengestellen, Bühnenbildteilen auftauchen. Das technische Personal bleibt zwar fürs Publikum unsichtbar, verdient aber genauso viel Applaus wie die musikalische Besetzung.Schwarz gekleidet, häufig in T-Shirts ihrer Herkunftsbühnen ("Schauspiel Leipzig", "Wiener Staatsoper"), manche verkabelt, führen diese Angestellten einen Plan aus, den nur sie kennen.
Oben leuchten digitale Nummern auf: Sie bezeichnen "die Umbauten", erfahre ich auf Nachfrage. Aktiviert wird die Anzeige von Paul Suter, dem Chefinspizienten. Er steht oder sitzt an seinem Pult unter den beiden Bildschirmen – Bühne und Orchestergraben –, vor sich die Partitur mit eigenhändig notierten Einsätzen, Auftritten, Abgängen etcetera, die er sukzessive über Knopfdruck, Mikro-Ansage oder Handzeichen signalisiert. Rechts auf dem Pult stellt er Süßigkeiten bereit. Für alle, nicht nur für die Kinder, welche in ihren dunkelrosa Kleidchen eine Traube bilden um Paul herum. Wundernasen, die alles wissen wollen: Ob Don Giovanni wohl Pizza mit Nutella möge?
Warten die Solisten hier auf ihren Auftritt, werden sie von den Fans unter den Statistinnen ins Gespräch verwickelt. Julian Prégardien, unser Don Ottavio, dessen zwei Söhne auch einmal von der Seitenbühne zuschauen, erzählt, er habe schon mit vier Jahren Sänger werden wollen und mit sieben Jahren ein "Don Giovanni"-Video aufgenommen, seine Lieblingsoper bis heute. Ruben Drole, unser Masetto, wird regelmäßig von Lisa Brica begrüßt, einer Statistin mit Trisomie, die spontan und ohne jegliche Schwierigkeiten kommuniziert (beim Schlussapplaus nach der Premiere stürmt sie nach vorne, Leporello und Don Giovanni bei den Händen fassend). Lisa steht nicht das erste Mal auf der Bühne, sie ist auch nicht die einzige Statistin mit einer Behinderung – Inklusion findet bei Romeo Castellucci ohne viel Aufhebens statt.
Teo hat sie angelockt
Nach und nach bekennen einige Statistinnen, sie seien "wegen Teo" hier. Teodor Currentzis, der berühmt-berüchtigte griechische Dirigent mit russischem Pass, wurde aufgrund von Putins Angriffskrieg mancherorts gecancelt. In Salzburg kann er weiterhin auftreten, statt mit seinen MusicaAeterna-Ensembles aus Russland neu mit dem aus westlichen Mitgliedern bestehenden Orchester und Chor namens Utopia. Freilich: Als im Studentenheim, wo ich nebst vielen Festspielbeteiligten wohne, Feueralarm ausbricht und wir uns beim Haupteingang versammeln, bis die Feuerwehr eintrifft, komme ich mit einer Gruppe ins Gespräch, die stolz mitteilt, sie gehörten zum MusicaAeterna-Chor aus St. Petersburg.
Zwei italienische Balletttänzerinnen aus dem "Flock", amüsierten sich hinter der Bühne dabei, die eloquente Körpersprache des Dirigenten zu imitieren, zu stilisieren, zu exorzieren.
Mein persönlicher Eindruck von Currentzis beschränkt sich auf das Erlebnis dessen, wie er musiziert. Von der Bühne aus über den Orchestergraben begegneten wir während der Vorstellungen seinem Blick quasi auf Augenhöhe. Auf der Seitenbühne hingegen standen wir fasziniert vor dem Bildschirm und schauten zu, wie er auf Mozarts Musik zu schweben oder zu schwimmen schien, sich in ihr auflöste, sie massierte, knetete, konturierte, aufwirbelte, zurückdimmte oder hervorlockte und damit die Ausführenden in sein hin- und mitreißendes Spiel zog. Nicht nur sie: Fanny Deponti und Elena Rebeccato, zwei italienische Balletttänzerinnen aus dem "Flock", amüsierten sich hinter der Bühne dabei, die eloquente Körpersprache des Dirigenten zu imitieren, zu stilisieren, zu exorzieren: Tanz den Teo.
So viel zum "Don Giovanni". Der Festspielsommer bot natürlich viel mehr, auch für mich: Beleuchtungsproben bei Peter Sellars im blinkenden Felsenreitschule-Casino von "Der Spieler", Stefan Kaegis und Sasha Waltz' "Spiegelneuronen" als Testpublikum, Riccardo Muti mit Bruckner und "Jedermann" dank geschenkten Karten, unzählige Besuche im Café Bazar, wo ich die Kritiker:innen unter den Gästen neidlos beobachtete. Ein Kapitel für sich wäre "die Leinwand", so genannt von der meist zahlreich heranpilgernden Lokalbevölkerung, die allabends auf dem Kapitelplatz verfolgt, was an neueren oder älteren Festspielproduktionen im Großbildschirmformat geboten wird. Beim Vorbeikurven auf dem Fahrrad schnappte ich jeweils ein paar Takte auf: etwa den Schluss eines "Don Giovanni" von 1954.
Barbara Villiger Heilig ist promovierte Romanistin. Sie war von 1991 bis 2017 Redaktorin und führende Theaterkritikerin im Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung und gehörte dem Kritikerteam der Sendung "Literaturclub" des Schweizer Fernsehens an. 2017 wechselte sie zum Online-Magazin "Republik". Heute arbeitet sie als Freelance-Kulturjournalistin.
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