Vortrag über die Situation des Feuilletons - Kulturberichterstattung, Theater und Theaterkritik unter den Bedingungen des digitalen Epochenwechsels
Zeiten der Selbstermächtigung
10. Dezember 2014. Wie verändert die Digitalisierung die Produktionsbedingungen des Feuilletons und der Theaterkritik? Ein Vortrag vor der Intendantengruppe des Deutschen Bühnenvereins in Hofgeismar.
Von Esther Slevogt
Sehr geehrte Damen und Herren,
meine Überlegungen schließen direkt an den Vortrag von Christine Dössel, Theaterkritikerin der Süddeutschen Zeitung, "Über den Bedeutungsverlust der Printmedien und des Theaters in denselben" an. So war das von Thomas Bockelmann und Matthias Faltz ja auch geplant, denen ich noch einmal sehr herzlich für die Einladung danken möchte, auf dieser Tagung zu sprechen. Schließlich verdankt das Theaterportal nachtkritik.de, das ich mitgegründet habe und für das ich heute hier stehe, seine Existenz just diesem Bedeutungsverlust.
nachtkritik.de als letzter Strohhalm?
Denn es war die Erfahrung der schleichenden Marginalisierung der Theaterkritik im Feuilletondiskurs, welche die Schreibenden unter den Gründern von nachtkritik.de ursprünglich zusammengeführt hatte – und (was für uns die ausgesprochen existenzielle Folge dieser Entwicklung war) der mit dieser Marginalisierung verbundene Verlust von Publikations- und Verdienstmöglichkeiten. Nach dem Aufruhr, für den unser Erscheinen im Betrieb zunächst gesorgt hat, stehen wir inzwischen ein wenig als Krisengewinnler da. Die Theaterkritik verliert weiter dramatisch an Bedeutung im Printfeuilleton, dessen Königsdisziplin sie einst gewesen ist. Dagegen wächst die Bedeutung von nachtkritik.de noch immer stetig mit ihrer Nutzerzahl. Vielleicht aber nur deshalb, weil nachtkritik.de inzwischen eine Art letzter Strohhalm ist, an den sich die eine Seite dieser langen und turbulenten Beziehungsgeschichte zwischen dem Theater und der Theaterkritik noch klammern kann – also Sie, die Sie hier die Theater vertreten.
Mir scheint, dass die Krise, in der sich das Theater als öffentliche (und öffentlich geförderte) Institution befindet, eng mit der Krise des Zeitungsjournalismus zusammenhängt. Unter anderem haben die Theater viel zu lange ihre Spielpläne an den Interessen von Zeitungslesern ausgerichtet. Sie haben nicht bemerkt, dass die Zeitung das Statussymbol einer Schicht war, deren gesellschaftliche Bedeutung in dem Maße abnahm, wie die Vorstellungen an die daran geknüpfte Lebensform ihre Attraktivität und damit auch ihre gesellschaftliche Integrationskraft verloren. Sie haben nicht bemerkt, dass mit dieser Entwicklung die gesamte Hierarchie des bürgerlichen Repräsentationssystems ins Rutschen geriet: weil die Grundverabredung, wer für wen spricht oder wer von wem zum Sprechen (über wen) überhaupt ermächtigt ist, nicht mehr als allgemein verbindlich gelten konnte. Weil auch die Zeit, in der ein Theaterbesucher zum Beispiel seinen Ibsen daheim am Frühstückstisch mit dem Ehepartner reenacten konnte, längst unwiederbringlich vergangen ist. Ebenso, wie auch der bürgerliche Bildungskanon keine Säule mehr ist, auf der ein Theater seine Existenz und gesellschaftliche Relevanz gründen sollte.
Grundsätzlicher Erosionsprozess
Doch der Blick des Theaters auf die Welt ist weitgehend noch immer identisch mit dem Blick, den das Bürgertum darauf richtet: die Armen, Sozialschwachen, Unglücklichen, Fremden, das sind immer die Anderen. Und während der Blick des Bürgertums (und damit des Theaters auf die Welt) immer enger wurde, haben die Anderen sich von diesem Blick längst emanzipiert. Nicht an allem ist also die Digitalisierung schuld.
Waren das Zeiten, als Komponisten das Feuilleton noch komponierten!
Aus meiner Sicht muss das Verschwinden der Theaterkritik und mit ihr das des Theaterkritikers aus dem öffentlichen Diskurs als Symptom eines wesentlich grundsätzlicheren Erosionsprozesses gelesen werden: als Symptom der Auflösung des seit dem Beginn der Moderne geläufigen bürgerlichen Öffentlichkeitsbegriffs. Jener Öffentlichkeit also, die um 1800 das Theater zum wesentlichen Organ der Selbstverständigung erkor und deren Herausbildung in den frühbürgerlichen Debattierclubs und Lesezirkeln des späten 18. Jahrhunderts bis in die massenmedial strukturierte Öffentlichkeit des 20. Jahrhunderts Jürgen Habermas 1962 in seiner Habilitationsschrift "Strukturwandel der Öffentlichkeit" beschrieben hat. Dort hatte Habermas Öffentlichkeit als "Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute" definiert, welche die "obrigkeitlich reglementierte Öffentlichkeit" nun selbst für sich beanspruchen würden, "um sich mit dieser über die allgemeinen Regeln des Verkehrs in der grundsätzlich privatisierten, aber öffentlich relevanten Sphäre des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit auseinanderzusetzen".
Theater als gesellschaftlicher Ersatzschauplatz
Das wesentliche Forum der Auseinandersetzung und Selbstverständigung ist für das Bürgertum von Anfang an nicht allein das Medium Theater, sondern mit der Zeitung auch ein damals vollkommen neues Medium gewesen.
Die ersten Texte, die in der ebenfalls neu entstehenden publizistischen Sparte "Feuilleton" erschienen, behandelten das Theater, weshalb der Begriff "Feuilleton" am Anfang fast ein Synonym für Theaterkritik war. Denn die sich im 19. Jahrhundert neu herausbildende bürgerliche Gesellschaft hat sich als Akteur einer politischen Öffentlichkeit wesentlich am Sprechen, Schreiben und Lesen über Theater geschult. Dabei muss man vielleicht auch einmal das Janusgesichtige dieser Entwicklung feststellen: dass dieses Bürgertum sich nämlich in dem Maße das Theater als gesellschaftlichen Ersatzschauplatz erkor, wie es – bis zur Gründung der Weimarer Republik – von der wirklichen politischen Gestaltung dieser Gesellschaft ausgeschlossen war, deren ökonomische Grundlage freilich die Produktivkraft dieses Bürgertums war. Dass es nicht selten theatralische Aktivität schon für gesellschaftspolitisch relevante Aktivität hielt, obwohl der Raum des Als-Ob niemals verlassen wurde.
Feststellen muss man aber auch – gerade mit Blick auf heutige Finanzierungsfragen des Kulturjournalismus –, dass Feuilleton-Inhalte im Content-Portfolio einer Zeitung noch niemals den primären Zweck erfüllten, Geld zu verdienen. Vielmehr verboten die Presse- und Zensurgesetze Anfang des 19. Jahrhunderts, Privatanzeigen und Geschäftsnachrichten im politischen Teil der Zeitungen zu platzieren. So schuf man mit dem Kulturteil einen Ort dafür. Die Kulturberichterstattung war also die redaktionelle Rahmung für den Anzeigenteil. Die bürgerliche Feuilletonromantik blendet diese ökonomische Genese des Genres gerne aus. So, wie auch die Tatsache, dass sich bürgerliche Öffentlichkeit im Frühkapitalismus in einem wesentlich von den Gesetzen des Marktes geprägten Diskursraum etabliert hat. Dass dieser Diskursraum nichts anderes als der Markt gewesen ist.
Die Leitkultur ist tot
Im Prozess der bürgerlichen Neubestimmung von Diskurskontrolle und Öffentlichkeitsbildung hat der Theaterkritiker von Anfang eine paradigmatische Rolle gespielt: als Inkarnation des aufgeklärten (bürgerlichen) Subjekts, das als eine Art Anwalt einer neuen gesellschaftlichen Instanz namens Öffentlichkeit jetzt der alten (feudal strukturierten) Welt reflektierend gegenübertrat; der nicht nur sein (ökonomisches) Glück, sondern auch das Wort selbst in die Hand nahm. Der Aufstieg der Zeitung (und mit ihr des Feuilletons) zum zentralen Informations- und Selbstverständigungsmedium des Bürgertums verlief fast parallel zum Aufstieg des Theaters zum Leitmedium einer neuen bürgerlichen (und städtischen) Hochkultur. Mittler und damit wesentlicher Ermöglicher der Interaktion beider Sphären, also zwischen dem alten Medium Theater und dem neuen Medium Zeitung, ist der Theaterkritiker gewesen. Erst durch die Interaktion mit dem Medium Zeitung konnte das Theater am Beginn des 19. Jahrhundert seine neue gesellschaftliche Rolle ausdifferenzieren.
Gehörten früher zum Bildungskanon: Goethe und Schiller. Heute ist man sich
da nicht mehr so sicher.
Diese neue Form von Öffentlichkeit trug nicht zuletzt wesentlich dazu bei, dass sich – lange, bevor es einen deutschen Nationalstaat gab – im medialen (virtuellen) Raum eine relativ homogene kulturelle Identität des deutschen Bürgertums ausbilden konnte, zu dessen identitätspolitischer Folie auch der kulturelle Kanon gehörte, den das Theater im Zuge seiner Interaktion mit dem Zeitungsfeuilleton zur Leitkultur modelliert hatte. Jetzt, zweihundert Jahre später, hat diese Leitkultur ihre identitätsstiftende Funktion ebenso verloren wie das Zeitungs- oder Theaterabonnement.
Tragischer Held eines Schauspiels im erweiterten Diskursraum
Vielmehr ist diese einst so bedeutsame identitätspolitische Errungenschaft des Bürgertums längst zum Ausschlussinstrument geworden, ihr Bildungskanon ebenso wenig noch konsensfähig wie ihre Repräsentationspraxis. Im Theater kann man zur Zeit Theaterstilen und Repräsentationsformen sozusagen auf offener Bühne beim Vermodern zusehen. Zeitungen und Theater kämpfen um ihre Existenz oder zumindest um ihre gesellschaftliche Legitimation. Die Privat- und Einzelwesen hingegen, die vor zweihundert Jahren noch zum Publikum versammelt die Sphäre des Öffentlichen definierten, haben im Internet längst neue Sphären und Praktiken von Öffentlichkeit etabliert. Haben grundsätzlich neu zu verhandeln begonnen, was Öffentlichkeit überhaupt noch sein könnte.
"Ich gehöre zur Öffentlichkeit", schrieb Gerhard Stadelmaier im Februar 2006 in einem Zeitungstext unter der Überschrift Angriff auf einen Kritiker, der im Jahr vor der Gründung von nachtkritik.de die sogenannte "Spiralblockaffäre" auslöste: "Wer Kritiker attackiert und beleidigt und anpöbelt, attackiert und beleidigt, bepöbelt das Publikum: die Öffentlichkeit des Theaters." Ich werde die Einzelheiten des Falles hier nicht rekapitulieren, der für mich persönlich zum Aha-Erlebnis wurde, dafür dass das Repräsentationsverhältnis, auf dem das Selbstverständnis dieses (im übrigen sehr geschätzten) Kollegen begründet war, seine Gültigkeit längst verloren hatte. Der Kritiker war in diesem Augenblick selbst zum tragischen Helden eines Schauspiels im erweiterten Diskursraum geworden, dessen Regeln sich nicht mehr an die alten Verabredungen halten wollten und in dem längst mehr als nur die vierte Wand gefallen war.
Der neue Guckkasten ist der Computerbildschirm
Die Diskursökonomie des Netzes hat Kommunikationsstrukturen egalisiert und Informationsstrukturen enthierarchisiert. Es sind ganz neue, niedrigschwellige Zugänge möglich geworden, durch die jeder Einzelne recht umstandslos selbst zum Player in dieser Öffentlichkeit werden kann. Sie oder er braucht für diese Partizipation kein Zeitungs- oder Theaterabonnement und erst recht keinen Theaterkritiker mehr, sondern höchstens noch ein Facebookprofil oder einen Twitteraccount. Jeder kann sich im Internet sein Informationsportfolio selbst zusammenstellen, nach Neigung und Interessen. Per Facebook und Twitter, Myspace oder Youtube, Instagram, Pinterest, Blogs, eigenen Webauftritten (um nur einige der unzähligen Formate und Möglichkeiten des Netzes zu nennen) ist jeder Einzelne umstandslos dazu in der Lage, sein eigenes Publikationsorgan zu gründen. Die Software gibt es umsonst im Netz. Den Vertrieb erledigt ein geschickter Umgang mit sozialen Netzwerken. Nichts anderes haben letztlich auch wir in einem Akt der Selbstermächtigung mit der Gründung von nachtkritik.de getan.
Internetnutzerinnen und -nutzer sind also längst emanzipiert von der vorsortierten thematischen Kompaktauswahl der Zeitungen oder auch der Stadttheaterspielpläne (ebenso von der kuratierten Warenvorauswahl der mit diesem Konzept gleichfalls ins Schlingern gekommenen Kaufhäuser). Der neue Guckkasten ist der Computerbildschirm, der dem Einzelnen längst weitere Erfahrungs-, Bildungs- und Informationsräume eröffnet, phantastische Ausflüge in die endlosen Wissensspeicher des Internets möglich macht. Die Menschen sind also auf die Theater als ästhetische und politische Erziehungsberechtigte ebenso wenig mehr angewiesen wie auf die Theaterkritik als Vermittlungsorgan dieser Frontalunterrichtskunstanstrengungen.
Die profanen Dinge: Facebook und Twitter
Dieser Sachverhalt aber ist in der Belle Etage der Hochkultur lange nicht zur Kenntnis genommen worden, wo man immer noch den Standpunkt vertrat (und womöglich im Stillen bis heute vertritt), es reiche bereits aus, das Publikum aufzufordern, den Computer wieder auszumachen und ins Theater zu kommen. Und wenn dann die Menschen dieser Aufforderung tatsächlich noch folgen, treffen sie (und hier sind freie ebenso wie institutionelle Theater gemeint) meist auf Künstler, die vor sie mit dem Anspruch auf die Bühne treten, ihnen die Welt zu erklären, die sie in Wahrheit längst selbst nicht mehr verstehen.
Das Theater Ulm – eines jener Theater,
die im Netz neue Wege ausprobieren.Diejenigen, die in den Theatern zuerst gezwungen waren, sich mit den neuen Spielregeln auseinanderzusetzen, die das Internet der Gesellschaft gegeben hat (und sie damit noch nachhaltiger verändern wird, als wir analog Sozialisierten uns das heute überhaupt vorstellen können), waren dann (paradoxerweise, muss man vielleicht sagen) nicht die Künstler und Dramaturgen, sondern die Mitarbeiter der Marketingabteilungen. Diese Mitarbeiter nämlich mussten ihre Häuser in einer sich fundamental verändernden Szenerie nach außen weiterhin vertreten, dort Theaterkarten verkaufen, neue Publikumsschichten erreichen und damit auch den neuen Vermittlungsmöglichkeiten und -techniken näher treten, die das Internet längst etabliert hatte. Sie mussten sich also mit diesen profanen Dingen wie Facebook und Twitter befassen – oft mit großem Weiterbildungs- und Austauschbedarf mit den Kollegen von den anderen Theatern. Von den eigenen Häusern wurden sie dabei weitgehend alleine gelassen, wo in der Regel in den luftdicht von der Realität abgeschlossenen Kantinenräumen, Dramaturgieetagen und auf den Probebühnen alles beim Alten blieb, man weiterhin auf die längst von ihren Publikationsorganen zu prekären Existenzen zusammengesparten Zeitungskritiker starrte, statt die neuen digitalen Möglichkeiten zu nutzen oder zumindest kennenzulernen.
Zukunftsdebatte muss öffentlich geführt werden
In letzter Zeit sind jedoch vereinzelte Suchbewegungen Richtung Netz zu beobachten. Nicht allein, dass überall Netz- und Computergame-Konferenzen, Twittertheaterwochen und Barcamps aus dem Boden sprießen. Inzwischen haben auch die Theaterkünstlerinnen und -künstler, Intendantinnen und Intendanten über die Folgen nachzudenken und zu diskutieren begonnen, welche die Digitalisierung für die alte Kulturtechnik Theater hat. Das Twittern aus Theatervorstellungen, das Streamen von Theateraufführungen wird erprobt oder doch wenigstens diskutiert. Manchmal allerdings ist mir die neue (und oft unkritische) Emsigkeit, mit der man sich von diesen Tools nun Rettung aus der Krise erhofft, ebenso unheimlich, wie die Ignoranz zuvor.
Doch bin ich weder Marketingfachfrau noch Netztheoretikerin, sondern against all odds noch immer Theaterkritikerin. Nur, dass meine Theaterkritiken im Internet erscheinen. Auch ist die Arbeit von nachtkritik.de selbst wesentlich von der Suchbewegung definiert, die Möglichkeiten des Theaters und des Schreibens darüber unter den Bedingungen des Digitalzeitalters neu zu denken und auszuloten. Dabei finden auch wir uns immer aufs Neue auf unbekanntem Gelände wieder – und können dann eigentlich nichts tun, als diese Herausforderung anzunehmen und mit Bereitschaft zum Risiko wie zur Erfahrung gleichermaßen unseren Weg weiterverfolgen, ohne das Ziel zu kennen.
Eins aber glauben wir bestimmt: Die Zukunftsdebatte muss öffentlich geführt werden. Die Gesellschaft muss teilhaben können an den Krisengesprächen und Relevanzzweifeln, an den Überlegungen, was für ein Theater es in Zukunft überhaupt noch geben kann. Vom Privatfernsehen haben wir's schließlich gelernt: Nur wer öffentlich an den Maden des Epochenwechsels würgt, wird am Ende vom Publikum zum Dschungelkönig gewählt.
Esther Slevogt ist Redakteurin und Mitgründerin von nachtkritik.de. Darüber hinaus gehört sie zum Organisations- und Kurator*innenteam der Konferenz Theater & Netz. Der Text ist die überarbeitete Version eines Vortrags, den sie am 1. Dezember 2014 auf einer Tagung der Intendantengruppe des Deutschen Bühnenvereins in Hofgeismar gehalten hat.
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Herzlichen Dank!!!
Den Widerspruch, welchen Esther Slevogt aufmacht, kann ich dagegen gut nachvollziehen. Es ist doch tatsächlich oft so, dass die großen Bühnen in ihren Marketingabteilungen spezielle, oftmals junge und IT-erfahrene Mitarbeiter beschäftigen. Welche aber mit den auf der Bühne gezeigten, künstlerischen Produktionen im Grunde kaum etwas zu tun haben. Ausser eben der Aufgabe, diese per facebook und twitter zu bewerben. Da frage ich mich dann schon, was der Sinn dieser neuen Informationstechnologien ist, wenn man sie nicht im Rahmen der Kunst in andere Kontexte stellt und darüber in ihrer (positiven oder negativen) Funktion befragt.
Und damit komme ich zum Internet, denn was ich oben geschrieben habe, hat Frau Slevogt sicher schon ebenso oft gehört, wie Sie es ignoriert hat. Es tut also eigentlich nicht viel zur Sache und ist auch nicht wirklich neu. Was das Internet aufdeckt, ist, dass die Demokratiesimulation im Theater, die Theaterbühne als Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzung heute eine völlige Chimäre darstellt. Die Rückkopplung mit der "Gesellschaft" zeigt: Da ist nichts, der Kaiser ist nackt. Auch das war natürlich nicht wirklich neu, aber die direkte Konfrontation mit Tatsachen ist eben etwas anderes, als ein Wissen um sie. Wer jetzt aber einen Prozess des Nachdenkens erwarten würde, hat das deutsche Subventionstheater nicht wirklich verstanden. Die Erkenntnis ändert nämlich genau: nichts. Deshalb war der Text für mich so aufschlußreich, und ich danke Ihnen dafür.
rettende und doch manchmal einsame Insel der unabhängigen Kunstfreiheit verlassen und schwimmen dem Sonnenuntergang der gefälligen Unterhaltungskultur entgegen.
Wo wird noch der anfängliche Gedanke, das Publikum ernsthaft mit sich selbst zu konfrontieren bis zum Schluss konsequent in die Tat umgesetzt? Sogenannte Kompromisse, zerreißen die Substanz der
kritischen Stücke, um nicht das sowieso zufriedene und gesättigte Stammpublikum zu verlieren, welches meist die einzige konstante Geldquelle der Theater ist. Somit hat das Theater als gesellschaftsbildene Institution an entscheidender Bedeutung verloren.
Dieser Umstand ist so traurig das seine Bedeutung, so scheint es, gar nicht erst Einzug in die Köpfe der Verantwortlichen gehalten hat. Das Privileg ein Medium zu besitzen, das in einer Demokratie auf
abstrakte Weise jede Seite der menschlichen Streitkultur ohne Zensur,
für alle sichtbar, hörbar und vor allem fühlbar macht, scheint nicht wertvoll genug zu sein, um den nötigen Mut aufzubringen, dieses kostbare Gut, vor der kapitalistischen und gefällig feigen
Versagensangst zu schützen.
Da stellt sich die Frage, ist das Theater dann überhaupt noch wert, erhalten zu werden, wenn die Grundmauern auf dem es einmal erbaut wurde nun an Substanz verloren haben. Der einstige unerbittliche
revolutionäre Gedanke, eine Fackel im Sturm der wütenden Winde der Gesellschaft zu sein, verwehte mit den zum Teil inhaltslosen Anzügen welche die Geschäftsetagen der Theater mit den vergangenen Jahren füllten. Nicht Inhalt sondern Verkaufszahlen sind wichtig geworden. Es ist klar das nicht nur, die Führung der Theater an der
Verwässerung ihrer Inhalte schuld ist, sondern auch die Politik und die gesamte Medienlandschaft, welche den Zuschauer mit den Jahren vor allem durch das Fernsehen eine Unterhaltungskultur als Norm verkaufte, welche einer geistigen Massenvernichtung der Vernunft
gleich kommt.
Und doch macht sich das Theater schuldig und in ihrer geschichtlichen Bedeutung hauptschuldig, indem sie dem Druck des wirtschaftlichen Zwanges nachgeben hat und somit sich selbst an den Kapitalismus verkauft hat.
Ein heuchlerischer Grundton der selbst beruhigenden Verantwortungsentsagung macht sich breit. Der Kampf um das Geld, ist der Tenor und nicht die eigentliche Aufgabe sich in die gesellschaftliche Meinungsbildung aktiv einzumischen. Der
Grundgedanke, ein Spiegel der Gesellschaft zu sein und somit wichtige
Inhalte nicht nur zu repetieren sondern auch wirksam an den Zuschauer
heran zutragen, bleibt individuelle Ermessenssache des Regisseurs
und ist nicht mehr eine selbstverständliche Grundhaltung der
Theaterleitung.
Theater sind Unternehmen geworden denen es wie ihre einzigen Feindbilder um Gewinne geht. Der Mensch, der eigentliche
Protagonist und Zentrum des Theaterkosmos ist nur noch Werkzeug um
den Profit zu stabilisieren und er ist somit ersetzbar geworden.
Haltung und Individualität ist bei Schauspielern nur noch kaum gefragt, meist sogar unerwünscht. Das Publikum diktiert mit seiner Kaufkraft den Spielplan und treibt somit das Karussell der gefälligen Bedeutungslosigkeit weiter an.
Dieser Entwicklung steht ein Umstand
bei, der es von Tag zu Tag schwerer macht, diesem Schrecken ein Ende
zu machen. Durch den anhaltenden wirtschaftlichen Wettbewerb, kann
ein ideelles Theater wie es eigentlich sein sollte nicht mehr existieren. Somit ist das Theater kein Einzelfall. Alles Ehrliche und
Wahrhaftige wird von der Scheinheiligkeit unserer Lächelpolitik
verschlungen.
Der einzige sinnvolle Kampf gegen diesen, für einen vernunftbegabten Bürger, unerträglichen Zustand, wäre nur noch von innen heraus. Der Künstler muss wieder Stellung beziehen, um der Kunst und seiner selbst willen. Die für mich unbegreifliche Geisteshaltung, der
Schauspieler wäre nur Befehlsempfänger und nicht auch ein mündiger
Mitgestalter, darf nicht länger geduldet werden. Durch solche fatalen Unterwürfigkeiten ist ein Verkommen und einseitiges Verdrehen der Kunst überhaupt erst möglich. Konflikte dürfen nicht
gescheut werden. Die kritische Auseinandersetzung aller Beteiligten
ist doch das eigentliche erkämpfte Gut welches, jetzt ohne Gegenwehr
im Boden der Verschwiegenheit verscharrt wird.
Wenige Veteranen der Kunstfreiheit verbrennen ihr Können im täglichen Windmühlenkampf gegen Tyrannen und Selbstdarstellern die den Gedanken der gemeinsamen Erschaffung von Kunst aus ihren Köpfen gestrichen haben.
Wir beschweren uns das die Theaterlandschaft nicht genug Geld hat und verdrängen dabei, dass das Argument, Theater wäre heute nicht mehr
kulturell relevant, von uns selbst geschaffen wurde. Schulklassen und
Kindergärten sind die einzigen relevanten Zielgruppen die es meinungs- und bildungstechnisch noch zu erreichen gilt. Und selbst dieses Vorhaben geschieht zum Teil auf einer nicht wirklich
befriedigende Weise. Quantität statt Qualität. Die einstige Magie des Theaters ist in ihrem Keim mit kitschigen Boulevardstücken erstickt worden. Die Unterhaltung ist das Maß aller Dinge und nicht mehr die Veränderung in den Köpfen der Zuschauer, die es einst zu erreichen galt. Der berühmte Reissack in China hat mehr an Aufmerksam verdient, als eines der halbherzig hin gespuckten Stücke
eines deutschen Städtetheaters.
So ist das einzige letzte wahrhaftige Stück welches sich zu lohnen schaut der Abstieg des Theaters selbst. Bringen Sie Taschentücher mit, solange sie noch Emotionen empfinden können, bevor sie der Oberflächlichkeit der Fernsehlandschaft komplett verfallen.
TOI, TOI,TOI !
Wir sind zwei Jahre nach dieser Rede und es hat sich vieles gewandelt. Onlinemedien sind etabliert inzwischen und haben ihr Publikum, Zeitungen leben immer noch, müssen sich überlegen, wie sie Leserschaft zurückgewinnen ohne als fakende Umsatzmacher vom Platz gepfiffen zu werden. Die Bewerbung der Online-Wahrnehmung über die sozialen Medien hat eine stetig sinkende Erfolgsquote - wenn man mich fragt: und das ist auch gut so! - denn der virtuelle Raum sortiert mittlerweile eben auch weg in privaten und öffentlichen. Die Vereinnahmung des privaten digitalen Raum für Werbung für öffentlichen digitalen Raum wird zunehmend mit Unlust der noch vor zwei Jahren braven Follower und Liker quittiert - selbst dieser eine Klick ist schon zu viel, der zeigen soll - ja, hab ich gelesenwahrgenommenhatgefallen... UND DAS IST AUCH GUT SO. Weil es uns lehrt: Das Internet hat dafür gesorgt, dass wir eine Verdopplung unserer Kommunikationsräume haben und BEIDE Räume sind mittlerweile in öffentliche und private Räume zu trennen. Und wir können die Kommunikationsräume nach GUSTO betreten und uns anpassen an den Raum-Geschmack oder die Gewohnheit des anderen, wir können telefonieren mit Leuten, die bevorzugt telefonieren, face to face mit Leuten sprechen, die bevorzugt face to face sprechen, SMS schreiben an Menschen, die das bevorzugen, Skypen mit Menschen, die genau so sich am freiesten fühlen in der persönlichen Begegnung und Briefe schreiben oder E-Mails an Leute, die eben das mögen. Wir haben unsere eigenen Präverenzen für unterschiedliche Kommunikations-Situationen/Themen und haben gelernt, uns zu freuen und es als menschliches Entgegenkommen, als Freundlichkeit zu werten, wenn diese von einem andern respektiert und geachtet werden... Und das alles hat Auswirkungen auch auf das Theater - aber das führt jetz hier zu weit - Eine tolle Rede!, wenn man bedenkt, dass sie 2014 gehalten wurde und auch wenn man bedenkt, wo-
Es ist für einen Weisen schwerer einen Narren zu spielen als umgekehrt. Wahrscheinlich spielen deshalb die Narren so gerne lieber den König...
Zum Thema des Bedeutungsverlustes von Theater:
Aus einem Leserbrief als Reaktion auf Veröffentlichungen im Spielzeitheft 2013/14 eines Stadttheaters:
"Es geht im Staatstheater (meint: Subventionstheater) durchaus nicht um Gefühls-Konsum, sondern um einen bargeldlosen aber deshalb nicht wertlosen Tauschhandel zwischen Publikum und Theater: Du gibst mir einen durch professionelle Ver-Anschaulichung beschleunigt zur Verfügung gestellten geistigen Wert, der meinen Geist zum Zwecke der beschleunigten Selbst-Erkenntnis mehrt, die mich nämlich einzig vergnügt und erquickt. Und ich schenke dir dafür meine Aufmerksamkeit und meinen Dank für die von dir erarbeitete sinn-volle Freude an meinem geistigen Wachstum. Das ist der Deal.
Und hier beginnt die Krise des Theaters!
SATZ: WENN DER DEAL NICHT FUNKTIONIERT, IST IMMER DAS THEATER SCHULD. NICHT DER KAPITALISMUS, NICHT DER STAAT, NICHT DAS PUBLIKUM, NICHT DAS WETTER: SONDERN EINZIG UND ALLEIN DAS THEATER. DAS IST: DIE REGIE ODER DIE DRAMATURGIE ODER DIE DRAMATIK.
Der Knackpunkt, (...), ist das gefühl der Freude am Leben: Das sogenannte Subventionstheater, zumindest das deutsche, gönnt dem Publikum nicht die Freude der Selbst-Erkenntnis. Es will ihm immer seine, die Theater-Welt-Erkenntnis überhelfen. Es will Handlungen nicht veranschaulichen, sondern interpretieren. Es will nicht mögliche Gefühle als Motivation für Handlungen zeigen, sondern bestimmte fixe Gefühle an bestimmte fixe Handlungn gebunden vorführen. Es gönnt dem Publikum nicht die ihm immanente Wahlmöglichkeit, eine eigene Haltung zum eigenen wie zum fremden Wert einzunehmen und generell nicht dem Publikum dessen eigene Möglichkeiten, also seine einzige unkaputtbare Freude im Leben... Es verlangt vom Publikum permanent, im Theater nur Freude an ihm, dem Theater, zu haben. Es ist damit lieblos gegen das Leben. Weil es Theater mit Welt und Welt mit Leben verwechselt. Und deshalb wird es auch vollkommen zu recht (...) verlassen. ..."
Aus meinen Papierbergen zwecks Exklusiv-Abschrift für Nachtkritik de. geborgen am Donnerstag, den 27. April, Tag des geistigen Eigentums. (Nehmt es bitte als heutige ersatz-Spende)