"Das muss echt sein!"

25. November 2021. Seit #MeToo mit den Vorwürfen gegen Harvey Weinstein ins Rollen kam, wird in der Filmindustrie aktiv an Strukturen gearbeitet, die Machtmissbrauch vorbeugen sollen. Zum Beispiel ist ein neuer Beruf entstanden: Intimitätskoordinatorin. Im Theater gibt es das noch nicht. Das aber muss sich ändern.

Von Magz Barrawasser

Die Arbeitsstrukturen im Theater begünstigen eher das Ja- als das Nein-Sagen © Anete Lusina

25. November 2021. Wir müssen über Sex reden. Nein, nicht in der Kantine oder auf der Bühne, sondern auf der Probebühne. Genauer gesagt müssen wir dort über Szenen mit intimem Inhalt sprechen und wir müssen über diese Szenen sprechen, bevor sie geprobt werden.

"Aber für die anderen ist es doch auch okay, nackt zu sein!"

Seit einiger Zeit widmen auch wir Theaterschaffende uns dem großen Themenbereich des Machtmissbrauchs. Spätestens seitdem der pandemiebedingte Stillstand der Theatermaschinerie den Reflektionsraum öffnete, haben wir erkannt: Die Definitionsmacht des Angebrachten liegt all zu oft bei denen, die in der Machtpyramide weiter oben stehen.

Doch wenn sich zwei Figuren auf der Bühne küssen, dann sind es allen Theaterverabredungen zum Trotz die Lippen der Schauspielenden, die sich treffen – sollte es uns gemeinsam dann nicht ein größeres Anliegen werden, dass auch die Schauspielenden mit darüber entscheiden, wie dieser Kuss aussieht? Also: Lasst uns über Liebe, Sex und Zärtlichkeit im szenischen Kontext reden, bevor es handgreiflich wird. Lasst uns über intimitätssensibles Arbeiten sprechen.

"Bietet mir doch einfach mal was an!"

Die Frage, was intim ist, kann jede*r nur für sich selbst beantworten. In der Regel wird es intim, wenn man sich körperlich nah kommt oder wenn unbedeckte Haut sichtbar wird. In pandemischen Zeiten auch, wenn man sich gegenseitig anatmet oder Spucke fliegt. Die Grenzen der Intimsphäre sind nicht nur in unterschiedlichen Kulturen verschieden, sie sind auch subjektiv je nach Gegenüber unterschiedlich und es gilt, genau das mitzudenken beim Proben von Küssen, simulierter Sexualität, körperlich exponierenden Spielmomenten, simulierter sexualisierter Gewalt und (partieller) Nacktheit.

"Hast du damit jetzt ein Problem oder was?"

Um intimitätssensibel zu arbeiten, muss deswegen seitens der Regie der kommunikative Raum soweit geöffnet werden, dass ein Nein ausgesprochen werden darf. Es ist keine Bremse, keine persönlicher Affront, es ist eine Absicherung für alle Beteiligten, mit der im Vorfeld Einvernehmlichkeit hergestellt werden kann. Denn nur, wenn ein Nein ausgesprochen werden kann, können wir sicher sein, dass ein Ja auch wirklich ein Ja ist.

Um diesen Zustand zu gewährleisten, gibt es in der internationalen Filmbranche seit einigen Jahren das Berufsbild der Intimitätskoordination. Sie leitet stets im Sinne der künstlerischen Vision als neutrale Drittpartei die Entwicklung intimer Momente – im Prinzip genau so wie eine Stuntkoordinatorin den Sprung vom Garagendach mitentwickelt. Branchenriesen wie Netflix oder HBO arbeiten zunehmend mit Intimacy Coordinators zusammen, deren Ausbildung auf erste Überlegungen zurückgehen, die die Stuntfrau / Schauspielerin Tonia Sina Campanella bereits 2006 zum Thema "Staging Intimacy" prägte. 2015 forschte Bewegungscoach Ita O'Brien zum Thema "Sicherheit am Set" und fand große Missstände im Bereich der Erarbeitung von intimen Szenen. Im US-amerikanischen Kulturraum entstanden daraufhin kleinere Netzwerke, um bei der Erarbeitung von szenischer Intimität, sexuellem Kontext und Nacktheit am Filmset zu unterstützen.

"Zieh dir / ihm / ihr jetzt mal das T-Shirt aus!"

Die internationale Filmbranche schenkte den Ideen zunächst wenig Beachtung – bis 2017 der Weinstein-Skandal an die Öffentlichkeit kam. Solidarische Proteste machten schnell deutlich, dass sich hier die Spitze des strukturellen Eisbergs zeigte, #metoo brachte auch im Arbeitskontext der Kulturindustrie sexualisierte Übergriffe ans Licht. In der Welle der Veröffentlichung dieser Form des Machtmissbrauchs wurde deutlich, dass es (nicht nur, aber auch) bei der Entwicklung intimer Szenen vermehrt zu grenzverletzendem Verhalten kommt. Der Bedarf an professioneller Unterstützung wurde an den Filmsets erkannt und auf der Suche nach Handlungsoptionen bekam das bereits bestehende Arbeitsfeld der Intimitätskoordination nun größere Aufmerksamkeit.

In Deutschland trat 2019 Julia Effertz in den medialen Fokus und machte das Thema hierzulande publik. Im April 2021 nahm das Medienboard Berlin Brandenburg, einer der wichtigsten deutschen Filmförderer, die Kosten für Intimitätskoordination in seinen Förderungskatalog auf – das Berufsfeld der Intimitätskoordination scheint in der deutschen Filmbranche anzukommen.

"Ach komm, das ist doch nur gespielt."

Da das Theater in Sachen Zeitgeist zuweilen ja nicht gerade das schnellste Medium ist, ist es kaum verwunderlich, dass die Entwicklung von szenischer Intimität bisher noch sehr oft vom Zufall abhängt: Wenn man Glück hat, hat man ein sympathisches Gegenüber für die Kussszene und bespricht in der Garderobe, ob die szenischen Berührungen in Ordnung sind. Wenn man Glück hat, reagiert die Regie offen auf Vorschläge für die körperliche Nähe. Wenn man Glück hat, steht beim Blitzumzug nicht jedes Mal jemand auf der Seitenbühne und guckt zu.

Allein, dass so selten darüber geredet wird, sollte uns stutzig machen. Schon die Schauspielausbildung etabliert, immer "Ja!" zu sagen. "Ausprobieren!" ist die Maxime der Probebühne und wenn die Regie sagt "So machen wir das!", dann machen wir das so, denn den Menschen, die Regie führen, wird von Beginn an beigebracht: "Du entscheidest."

Die Machtpyramide steht also auch auf der Probebühne und der Konkurrenzdruck des überlaufenen Marktes tut das Übrige dazu. Als Schauspieler*in die Probe zu unterbrechen oder einen Einwand zu haben ist im Protokoll nicht vorgesehen – "Führst du jetzt hier Regie?!" – und die Angst, als schwierig, (genderübergreifend) divenhaft oder unflexibel zu gelten, lässt so manche eigene Grenze bröckeln.

"Bei mir hat sich noch niemand beschwert!" 

Liebe Regie, Du bist qua Definition in einer machtvollen Position. Es kann eine Hürde darstellen, dir gegenüber Bedenken zu äußern – auch wenn jemand einen Grund dazu hätte. Es liegt in deiner Verantwortung, damit einen besseren Umgang zu finden als viele Kolleg*innen vor dir. Und auch wenn du oft denkst, alles selber zu können, ist es doch z.B. bei tänzerischen Momenten selbstverständlich, einen Profi für die Choreographie dazu zu holen um das körperliche Verletzungsrisiko zu minimieren. Warum gilt das nicht auch für intime Szenen? Denn hier kommt ja neben dem körperlichen auch das mentale und emotionale Verletzungsrisiko hinzu.

Die Antwort ist einfach: Zeit und Geld. Und ein noch nicht flächendeckend ausgeprägtes Problembewusstsein. Zudem ist die Agenda des Kulturwandels lang und die Mischung aus frei- und festangestellten Theaterschaffenden macht einen kontinuierlichen Veränderungsprozess komplex.

wasted14 805 MarcLontzekSzenenfoto aus Magz Barrawassers Inszenierung von Kae Tempests "Wasted" am Landestheater Detmold (Februar 2021) © Marc Lontzek

Nun denn. Warten wir darauf, dass die Theaterleitung anruft und sagt: "Es ist alles geregelt. Unsere festangestellte Intimitätskoordinatorin erwartet deinen Anruf?" Besser nicht. Chelsea Pace, Mitgründerin des US-amerikanischen Netzwerks "Theatrical Intimacy Education" schlägt im Buch "Staging Sex" einfache, effektive Übungen und kommunikative Werkzeuge vor, mit der die anleitende Person eine Probe mit intimem Inhalt besser gestalten kann. Übertragen auf das deutsche Theatersystem lässt sich dadurch aus der Regie zwar keine neutrale Drittpartei im Sinne der Intimitätskoordination machen, aber viele von uns, viel mehr als bisher können im ersten Schritt zu Verbündeten werden, die signalisieren: Ich trage mit die Verantwortung dafür, dass es weniger grenzüberschreitendes Verhalten auf unseren Proben gibt.

"Die Szene funktioniert nicht, das knistert nicht zwischen euch. Macht das mal heißer."

Für intimitätssensibles Arbeiten bieten sich Teilbereich an, mit denen sich die Regie auseinandersetzen sollte:

– Professionelle Sprache und transparente Kommunikation, mit der Handlungen, Körperteile und Bewegungen desexualisiert, erwachsen und wertfrei benannt werden. Zur Transparenz gehört auch das rechtzeitige Disponieren von Proben mit intimem Inhalt, um allen Beteiligten Vorbereitungszeit zu ermöglichen (z.B. um Bedeckung oder Wärmequellen bereit zu legen, Einsichtmöglichkeiten auf die Probebühne zu schließen oder schlicht eine Zahnbürste einzupacken.)

– Das Ermöglichen von Einvernehmlichkeit, in der sich Schauspielende gegenseitig die Erlaubnis zur Berührung bestimmter Körperstellen geben. Chelsea Pace stellt dafür einfache, praktische Übungen vor, mit denen die Optionen festgelegt und je nach Personenkonstellation effektiv angepasst werden können.

- Choreographien, mit denen die szenische Intimität simuliert wird und mit denen keine Berührung oder Bewegung dem Zufall überlassen wird.

- Die bewusste Trennung von Kompetenzen, Arbeitsfeldern, privaten und beruflichen Bereichen, um das Setzen von Grenzen überhaupt erst zu ermöglichen.

- Das Wissen um den Kontext, aus dem die Intimität entsteht – denn nur wenn allen klar ist, was eine Szene für Handlung und Figurenentwicklung bedeutet, kann sie gemeinsam im besten Sinne leidenschaftlich gefüllt werden.

- Und bitte: Niemals auf die Probebühne springen und vorspielen. Das ist generell ja schon oft merkwürdig, aber wenn es um simulierte Intimität geht, ist es schlicht keine Option. Auch und vor allem nicht mit Assistent*innen.

Even a little bit better is better

Ja, all das bedeutet für viele Regisseur*innen eine Umgewöhnung. Aber selten hat sich etwas verändert, weil alle so weiter gemacht haben wie bisher.

Es ist super, wenn wir Regisseur*innen uns in den Diskursveranstaltungen alle einig sind – doch Arbeitsstrukturen und Privilegien anzuprangern muss auch heißen, sich beherzt an die eigene Nase zu packen: Wenn wir einen Kulturwandel wollen, muss sich unsere Arbeitsweise und Haltung (weiter) verändern.

Es liegt an uns, unsere Position dafür einzusetzen. Es liegt an dir, damit auf der Probebühne anzufangen.

 

Magz Barrawasser ist Theaterregisseurin und kulturpolitische Netzwerkerin. Sie wurde westdeutsch, weiblich und weiß sozialisiert und stellt sich aus dieser Position heraus viele Fragen zur Zukunft der (Sprech-)Theaterstrukturen. Ihre Gedanken zu diesem Artikel wurden angeregt durch die Arbeit von Ita O‘Brien, Julia Effertz, Chelsea Pace und den Mitarbeitenden von TIE, sowie Texten aus "Theater und Macht. Beobachtungen am Übergang". Das englische Zitat stammt aus dem Buch "Staging Sex" von Chelsea Pace. Die deutschen Zitate stammen aus langjährigem Zuhören in Gesprächen mit Kolleg*innen.

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Kommentare  
Intimitätskoordination: konstruktiv
Liebe Magz, danke für den praktischen Beitrag zu der Debatte. Dem eigenen Willen zu einer Verbesserung der Bedingungen, steht oft das eigene Unwissen limitierend entgegen. Dabei ist ein erfolgreicher Umgang mit den intimen Bühnensituationen durchaus entscheidend, ob oder ob nicht die Stimmung im Team und damit das ganze Theatrale Konstrukt funktioniert. Durch deine konkreten Hinweise wird es einfacher, konstruktive Arbeitsweisen zu finden und die eigene Haltung und Position zu reflektieren. Ich werde es in jedem Fall probieren ... danke dafür J.V.Neumann
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