Inside Endzeit: Texte zur Klimakrise (1) - Prolog über unsere alltägliche Gleichgültigkeit und den Sog der Verschleierung
Final Climatsy
26. Februar 2020. "Die nächsten zehn Jahre, liebe Theaterschaffende, sind also die wichtigsten seit Erfindung des aufrechten Gangs." Der Prolog zur sechsteiligen Artikelserie über das Theater in der Klimakrise.
Von Lynn Takeo Musiol und Christian Tschirner
Final Climatsy
von Lynn Takeo Musiol und Christian Tschirner
26. Februar 2020. Ein neues Jahrzehnt beginnt! Mit einem Januar wie Australien noch keinen hatte. Es herrscht Urlaubssaison, Buschbrände wüten. Vororte werden evakuiert, tausenden Urlaubern ist der Fluchtweg abgeschnitten. Einige sind an Strände geflohen, und warten, von den Flammen eingeschlossen, im seichten Wasser des Ozeans auf Rettung durch das Militär. Die Buschbrände sind so heiß, dass sie Tornados erzeugen. Zeitgleich zur Dürre in Australien gibt es in Jakarta Hochwasser, ausgelöst durch heftige Monsunregen. 400.000 Menschen müssen ihre Wohnungen verlassen. Im Großraum Jakarta leben circa 30 Millionen Menschen, etwa ein Drittel der Fläche liegt unter dem Meeresspiegel. There's nothing to fix, sie wird in den nächsten Jahren untergehen.
Endzeittrost
Am Wiener Burgtheater gibt's Trost für zahlendes Publikum: Die Endzeitoper Dies Irae – Tage des Zorns von Kay Voges, Alexander Kerlin und Paul Wallfisch verkündet, unter der Fassade technischen Spektakels, im gediegenen Tonfall abendländischer Selbstberuhigung: Apokalypsen würden allgemein überschätzt. Die Geschichte vom Ende aller Tage sei alt wie die Menschheit selbst und mit großer Regelmäßigkeit fielen die angekündigten Weltuntergänge seither aus. Die Propheten des Untergangs – einige von ihnen kommen in der Oper zu Wort – sind also falsche Propheten.
Auch der Funk- und Fernsehsoziologe Heinz Bude ist im Beruhigungsmodus. Er spricht an der Berliner Schaubühne, es geht um Ostdeutschland und den rasanten Aufstieg faschistischer Politiker. Menschen in Ost und West, so Bude, stellten im Moment die Frage, auf welche Art von Zukunft wir uns zubewegen. Anders als viele behaupteten, sei die Zukunft aus soziologischer Sicht aber nicht komplett ungewiss. Macht Euch nicht allzu viele Sorgen, soll das heißen, die meisten Dinge bleiben beim Alten.
Beide Thesen – die von der überschätzten Apokalypse und auch die vom soziologischen Trägheitsgesetz – klingen beruhigend und sind falsch. Zumindest, wenn man an Naturwissenschaft glaubt. Dann nämlich stehen wir vor dem Ende fast jeder Gewissheit. Die Veränderungen, die vor uns liegen, sind in ihrem Ausmaß unabsehbar. Offen ist einzig, welcher Anteil by design und welcher by desaster herbeigeführt werden wird. Bis 2030, so hat es der Weltklimarat vorgerechnet, muss der CO2-Ausstoß halbiert werden, um die Klimakrise noch einigermaßen in den Griff zu bekommen. Selbst wenn dies gelingt – die Zumutungen, die auf uns zukommen werden, sind gewaltig. Im Moment spricht allerdings wenig dafür, dass es gelingt. Und auch für den Fall eines Scheiterns haben Wissenschaftler*innen vom Weltklimarat einige Prognosen parat, zum Beispiel: In den nächsten 3 Jahrzehnten könnten bis zu 5 Milliarden (!) Menschen von Überschwemmungen, Wasserverschmutzung, Lebensmittelknappheit betroffen sein.
Das existenzielle Gefühl der Angst
Die Klimatolog*innen sind dabei nicht die einzigen Apokalyptiker*innen, die uns mit ihren düsteren Zukunftsprognosen den Spaß an der Gegenwart verderben. Wir befinden uns in einem Artensterben erdgeschichtlicher Dimension und glaubt man den Wissenschaftler*innen des Weltdiversitätsrates, ist das mindestens so bedrohlich wie der Klimawandel selbst. "Egal, ob wir den Klimawandel leugnen oder nicht“, schreibt Naomi Klein im Freitag, "wir alle wissen auf einer ganz grundsätzlichen Ebene, dass das Leben auf diesem Planeten in eine Krise geraten ist, dass die einzige Heimstätte, die wir haben, verschwindet. Niemand, egal wie viel Fox News er sieht, ist vor dem existentiellen Gefühl der Angst gefeit, das sich gerade einstellt." Profiteure dieser Angst sind konservative und rechte Politiker*innen fast überall auf der Welt. Sozialpädagogische Beruhigungspillen wirken dagegen nicht mehr.
Der Beziehung von Klima und Mensch gehe, so Amitav Gosh in "Die große Verblendung", eine fatale Verkrustung des Weltbezugs voraus. Der Siegeszug einer instrumentellen (westlichen) Vernunft führe dazu, dass das Verhältnis Natur und Kultur nicht mehr als das einer wechselseitigen Abhängigkeit begriffen werden könne. Das Wesen des Klimawandels setze sich aus Phänomenen zusammen, die aus einem verdinglichten, auf technische Beherrschbarkeit konzentrierten Denken verbannt wurden. Weder atmosphärische oder biologische Kippmomente noch gesellschaftliche Veränderungen könnten daher ausreichend imaginiert werden
Sterbende Natur gratis
Wie wir selbst gehören unsere Theaterkolleg*innen in Ost und West eher nicht zu den Fox News Zuschauer*innen. Wie wir selbst rechnen sie sich der politischen Linken zu, oder sind – selbst wenn sie mit dieser Zuschreibung hadern – maßgeblich von linken Diskursen geprägt. Die wissenschaftliche Faktenlage erkennen wir, wie die übergroße Mehrheit der Bevölkerung, an. Merkwürdigerweise bleiben wir angesichts einer Zukunftsperspektive, die jede linke oder auch nur liberale Utopie, jeden Emanzipationsgewinn der letzten hundert Jahre elementar bedroht, eher indifferent. Die Auseinandersetzung mit der drohenden Katastrophe wirkt hilf- und kraftlos, wenn sie sich nicht gar, wie Gosh es formuliert, im "Sog der Verschleierungsmethoden" befindet, "die uns daran hindern, die Realitäten unserer Misere zu erkennen".
Wird die Klimakrise im Kulturbetrieb thematisiert, dann in der Regel als wohldosierte, marktkonforme Partizipation, oder auch: als überdosiertes excitement-package. Überschwemmungen konnten bei der letztjährigen Biennale in Venedig for free zum Ausstellungspaket dazu gebucht werden. Einige Werke waren allerdings aus Sicherheitsgründen nicht zugänglich. 2015 ließ Olafur Eliasson grönländische Eisblöcke vor der Tate Modern in London platzieren, um Besucher*innen die Klimakrise erfahrbar zu machen – absterbende Natur im urbanen Raum. Der künstlerische Zugriff erfolgt in der Regel über Wirkungen, selten über die Veranschaulichung von Zusammenhängen und Abhängigkeiten. Wird die Forderung nach klimabewussten Produktionsweisen an die Künstler*innen selbst gerichtet, wird nach ihrer Verstrickung in das Problem gefragt, ist mit Wutausbrüchen zu rechnen. Angesichts einer Situation, in der zehntausende Wissenschaftler*innen vor dem Zusammenbruch der Lebensmittelversorgung ganzer Kontinente warnen, ist von Endzeithysterie oder gar Einschränkung der Kunstfreiheit die Rede.
Unsere kognitive Dissonanz
Was sich als Apokalypseblindheit äußert, ist vermutlich Symptom kognitiver Dissonanz: Unsere Wahrnehmungen, Gedanken, Wünsche sind in unlösbare Widersprüche zueinander verstrickt. Der dadurch hervorgerufene, unangenehme Gefühlszustand soll durch Verdrängung und Schuldzuweisung so schnell als möglich überwunden werden. Besonders unangenehm ist dieser Zustand bei Gefährdung eines positiven Selbstkonzepts, also dann, wenn Informationen auftauchen, die uns selbst als dumm, unmoralisch oder irrational dastehen lassen.
Uns interessiert nun die Frage: In welcher Hinsicht lassen uns Klimawandel und Artensterben als derart dumm, unmoralisch oder irrational dastehen, dass wir unfähig sind, angemessen zu reagieren? Von welchen Überzeugungen, Hoffnungen, Werten werden wir uns verabschieden müssen, um Indifferenz, Lähmung, Pfadabhängigkeit zu überwinden? Denn ob es uns gefällt oder nicht, mit Beginn des neuen Jahrzehnts sind wir in ein Endspiel eingetreten: Artenvielfalt und klimatische Bedingungen der nächsten Millionen Jahre werden sich in den nächsten 10 Jahren entscheiden. Die nächsten zehn Jahre, liebe Theaterschaffende, sind also die wichtigsten seit Erfindung des aufrechten Gangs.
Wir (die wir an die Wirksamkeit naturwissenschaftlicher Methoden der Weltbeschreibung glauben) müssen unsere eigenen Vorstellungen, Werte und Lebenspraxen unter die Lupe nehmen. Der Klimawandel stellt nicht nur, wie Gosh schreibt, "die Idee der Freiheit, das vielleicht wichtigste politische Konzept der Neuzeit, vor gewaltige Herausforderungen." Auch unsere Vorstellungen beispielsweise von Staat, Eigentum, Arbeit, Klasse, Grenze, Fortschritt, Geschichte und Natur gehören auf den Prüfstand, wenn wir, die wir uns gern unserer Rationalität und Selbsterkenntnis rühmen, nicht als die Großen Verblendeten in die Geschichte der Überlebenden eingehen wollen.
"Es gibt sehr viele schreckliche Dinge!" seufzt Clov in Becketts Endspiel. Mit Hamm müssen wir ihm leider antworten: "So viele sind es vermutlich bald gar nicht mehr!"
Lynn Takeo Musiol wurde 1991 in Leverkusen geboren. Sie studierte Soziologie, Islamwissenschaften und Internationale Kriminologie. Zuletzt arbeitete sie als kuratorische Assistent*in beim Berliner Herbstsalon des Maxim Gorki Theaters, ab der kommenden Spielzeit wirkt sie als Dramaturg*in am Schauspielhaus Düsseldorf. Seit 2019 ist sie Stipendiat*in der Akademie der Künste in Berlin.
Christian Tschirner wurde 1968 in Lutherstadt-Wittenberg geboren. Er absolvierte eine Ausbildung zum Tierpfleger, später ein Schauspielstudium an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch". Er erhielt ein Engagement als Schauspieler in Frankfurt/Main, wurde dann freier Regisseur und Autor. Seit 2009 ist er Dramaturg, zunächst am Schauspiel Hannover, ab 2013 am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Seit dieser Spielzeit 2019/2020 ist er leitender Dramaturg der Berliner Schaubühne.
Die Artikelserie Inside Endzeit von Musiol/Tschirner wird in den kommenden Wochen vierzehntägig Mittwochs auf nachtkritik.de erschienen.
Mehr zum Thema: Im April 2019 beschrieb Christian Tschirner auf nachtkritik.de: Wie schlechte Klimapolitik und rechte Demagogie unheilvoll zusammenhängen.
Weitere Essays und Theaterrezensionen zum Thema finden Sie in unserem Dossier Theater und Klimakrise.
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Der hier hoffentlich mehr an Resonanz erfahren wird, als "Wachstum oder Zukunft" vom April 19.
"Jetzt böte sich nochmals eine Chance" (s.Kulturwandel).
Inwieweit Theatermacher*innen aber tatsächlich gewillt sind aus ihrer Indifferenz und/oder Bequemlichkeit herauszutreten, eigene Ängste kreativ umzusetzten und MUT machend für & mit Zuschauer*innen darüber zu interagieren, bleibt abzuwarten.
Andere (Psychologists/Psychotherapists for Future) sind da schneller.
Ja, guter Artikel, ein bisschen spät. So an die zwanzig Jahre etwa gibt es dazu wirkungsvolle(re) Texte, aber wahrscheinlich sind deren Verfasser*innen wegen frustrierender Nicht-Verbreitung inzwischen in der Psychiatrie unter dauerhaften Psychopharmaka-Gaben morgensmittagsabends...
Und was die onkelhafte sozialpsychologische Diensttherapie von Herrn Bude an der Schaubude - ähm-bühne, angeht, hat ja der Herr Tschirner jetzt alle Möglichkeiten, die durch eine weniger blasenhafte Behäbigkeit zu ersetzen.
(...)
Aber als Dramaturg an einem der renommiertesten Theater Europas, muss man sich die Frage erlauben, wie die Schaubühne das Thema reflektiert.
Liegen Ihnen krasse brisante Theatertexte vor,
die sich des Themas annehmen, und schauen Sie sich diese überhaupt an? Oder landen die - weil nicht von renommierten Verlagen vertreten - gleich im digitalen Müll_korb?
(Anm. zur Kürzung: Der Kommentar wurde auf die zentralen Fragen eingekürzt. Es fielen vorauseilende Unterstellungen weg. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow / Redaktion)
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Liebe Fridays,
es handelt sich hier nicht um Zensur, sondern um die Praxis eine moderierten Forums. Damit sinnlose Schuldzuschreibungen unterbleiben, wie Sie sie unternehmen, wenn Sie einen Mitarbeiter einer Institution für die Praxis der gesamten Institution verantwortlich machen und rhetorisch in Haft nehmen wollen.
Mit freundllichem Gruß
jnm / Redaktion nachtkritik.de
In diesen damaligen Urzeiten war zB das inzwischen wieder zugewachsene "Ozonloch" ein Thema und irgendwo in meinem Hinterhirn schwebt ein in den 90igern gelesener poetischer Text zur Eis & Nordpolproblematik.
Wissen andere mehr? Ich meine Texte... AutorInnen?