Die unsexy Lösung

von Falk Schreiber

10. Dezember 2020. 2005 war Andrea Breths "Don Karlos" vom Burgtheater zum Theatertreffen eingeladen, konnte allerdings aus technischen Gründen nicht in Berlin gezeigt werden. Damals wurde als mögliche Lösung diskutiert, dass alle interessierten Theatertreffen-Besucher*innen einen extra gecharterten Flug nach Wien buchen könnten und nach der Aufführung zurück. Easyjet als Taxi zur Theaterbühne. Das war, bevor es so etwas wie "Flugscham" im breiten Bewusstsein gab.

Inzwischen hat der ökologische Diskurs im Zuge von Fridays For Future oder Extinction Rebellion Aufwind gekriegt, und das Nachdenken über Nachhaltigkeit rückt in die Mitte auch der Kulturpolitik. In wichtigen Debattentexten der jüngeren Zeit wurde das Thema Fliegen in den Mittelpunkt gesetzt. "Flugscham" spielt dabei eine große Rolle. Im jüngst erschienenen Essay-Band "Why Theatre?" beschreibt der Choreograf Jérôme Bel unter dem Titel "Saving The World", wie er in seiner zur Ressourcenschonung heruntergekühlten Pariser Wohnung friert, während gleichzeitig zwei seiner Assistent*innen ein Flugzeug in Hong Kong besteigen, wo sie eine Neueinstudierung seines Stücks "Gala" überwachten, und zwei weitere Assistent*innen im Flieger nach Lima sitzen, um dort ebenfalls "Gala" einzustudieren. "That's when I tell myself that I'm a hypocrite."

"Fliegen ist nicht das größte Problem"

Bel formuliert hier eine der westeuropäischen Wohlstandswelt entstammende Haltung, der die international produzierende Regisseurin Monika Gintersdorfer jüngst auf nachtkritik.de mit Blick auf das globale Nord-Süd-Gefälle im Koproduktionswesen widerspricht. Das sind Positionen des internationalen Gastspielbetriebs, die aber vielleicht einen Komplex auslassen, der emissionstechnisch weitaus wichtiger ist: den stationären Betrieb.

32633406307 ab59cfe5f2 kFlugscham allein reicht nicht © Fridays For Future 

Denn unter Umständen verstellt die Konzentration auf Flugmeilen und individuelles Verhalten den Blick aufs Ganze. Zoom-Meeting (wie hoch liegt eigentlich der ökologische Fußabdruck einer Videokonferenz?) mit Jacob Sylvester Bilabel, Leiter des im September gegründeten Aktionsnetzwerks Nachhaltigkeit, das sich die Förderung nachhaltiger Kulturproduktion auf die Fahnen geschrieben hat. An dem Netzwerk sind Institutionen wie das Humboldt Forum, die Green Music Initiative oder die Kulturpolitische Gesellschaft beteiligt, aber auch der Deutsche Bühnenverein.

Obwohl Bilabel selbst aus dem Musikmanagement kommt, werden hier auch Strategien fürs Theater verhandelt. "Viele Theater haben erstmal den Reflex, dass sie sich um das kümmern, was auf den ersten Blick am schlimmsten aussieht", meint Bilabel – und am schlimmsten sieht eine ungehemmte Reisetätigkeit aus. "Fliegen ist aber nicht immer das größte Problem."

Bilabel Jacob Sylvester 1200 daniel pasche uJacob Sylvester Bilabel © Daniel PascheDie Frage ist, inwiefern Reisen emissionspraktisch ins Gewicht fällt. Das ist in der Regel dort der Fall, wo Mobilität zentral im Arbeitsalltag ist. Was im Theater allerdings gar nicht zutrifft – Theater ist auch im stärker mobil orientierten Festivalbetrieb meist auf einen Ort bezogen. Die große Mehrzahl der Emissionen entsteht nicht auf Reisen, sondern vor Ort, bei den Immobilien. Hier steckt das größte Energiesparpotenzial. Um jedoch Immobilien entsprechend zu sanieren, braucht man erst einmal eine Analyse des Bestehenden. "Der richtige Ansatz ist, dass man über ein sauberes Verständnis des Status quo eine Strategie ermittelt, die es einem ermöglicht, innerhalb der nächsten zehn Jahre die Emissionen zu halbieren – und die es einem auch ermöglicht, innerhalb von 30 Jahren einen klimaneutralen Betrieb zu führen." Bei Theatergebäuden – oft alt, denkmalgeschützt, nicht nach energieeffizienten Kriterien gebaut – bewegt man sich schnell in einem extrem komplexen Gefüge.

Clubs als Vorbild

Schon alleine das Nutzen von grünem statt konventionellem Strom könne hier viel helfen, weit mehr als öffentlichkeitswirksamer Reiseverzicht. Nur dass solch ein Wechsel für ein Theater gar nicht so einfach durchzuführen ist – oft wird beispielsweise in einer Immobilie gespielt, bei der die Nutzungsrechte nicht unbedingt die Wahl des Stromanbieters beinhalten. Hier greifen Bilabel und das Aktionsnetzwerk Nachhaltigkeit unter die Arme, nicht als Dienstleister, sondern als Austauschplattform verschiedener Akteure, die vor ähnlichen Problemen stehen.

Eine kostenintensive, klimagerechte Sanierungsabsicht stößt immer wieder an das Vorurteil, der Kulturbereich verursache ohnehin nur verschwindend geringe Anteile an den gesamtwirtschaftlichen Emissionen. Dagegen formuliert das Aktionsbündnis in seiner Präambel, dass es auf "beispielhafte Aktionen" mit "Vorbildcharakter für die nötige Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen" abzielt. Auch in seinen Reformen in der Musikindustrie lag Bilabels Fokus entsprechend darauf, das Bewusstsein zu verändern. So leitet er seit über zehn Jahren die paneuropäische Green Music Initiative, die unter anderem im Everywh2ere Project emissionsfreie Wasserstoff-Brennstoffzellen für Festivals und Filmproduktionen entwickelte, beim Eurovision Song Contest 2015 in Wien das Nachhaltigkeitsmanagement organisierte, was half, rund 300.000 Liter Diesel einzusparen, und im Green Club Index Project das Thema Energieeffizienz für Spielstätten erstmals sektorenspezifisch aufbereitet und in Pilotprojekten mit mehr als 50 Clubs in ganz Deutschland angeboten und umgesetzt hat.

Es geht um die Basis der Kulturproduktion

Ein Problem der fälligen Sanierungsarbeit liegt für die Theater in der Lastenteilung mit den Trägern. Für die Umrüstungsarbeiten haben die Häuser einen nicht zu unterschätzenden Verwaltungsaufwand zu schultern, wenn sie ihre Immobilie klimagerecht sanieren lassen. Die Heizkosteneinsparungen schlagen sich dann allerdings nicht im Theateretat, sondern im Etat der Träger nieder. Bei Stadttheatern ist das in der Regel die Kommune.

rick lam 2bCEHNTW324 unsplashVielleicht wenigstens den Stromanbieter wechseln? © Unsplash

Im Aktionsnetzwerk Nachhaltigkeit geht es nicht um symbolische Aktionen, sondern um etwas, das sich sperrig als "Betriebsökologie" bezeichnen lässt, nicht um das Ergebnis, sondern um die Basis der Kulturproduktion. Es geht um Häuser, Arbeitsbedingungen, Betriebspraxis statt um Kunst, die dort entsteht. Es ist der Apparat, in dem, so Bilabel, 80 Prozent der Emissionen entstehen. Da lässt sich schon einiges erreichen, und hierbei will das Aktionsnetzwerk Nachhaltigkeit helfen: durch Erfahrungsaustausch.

Ganz ohne Symbolproduktion wird das nicht gelingen. Der Wechsel des Stromanbieters ist nicht gerade ein sexy Thema, und die mangelnde Sexyness dieses Themas wird im Übergangsfeld zwischen Theaterbetrieb und Kunstproduktion spürbar: Betriebswirt*innen und Techniker*innen sehen das Problem und wissen, wie man es innerhalb der Betriebsökologie anpacken kann, Künstler*innen sehen zwar das Problem ebenfalls, interessieren sich aber in der Regel kaum für Betriebsökologie. Zwar ist man sich am Theater darüber im Klaren, dass die Klimakatastrophe auf den Nägeln brennt. Aber wie macht man dieses Thema sichtbar? Theater denken auf den Effekt hin, und der Einbau einer emissionsarmen Lüftungsanlage nimmt sich aus Theatersicht ästhetisch schmalspuriger aus als der öffentlichkeitswirksame Verzicht aufs Fliegen. Bilabels Job ist nicht zuletzt, klarzustellen, dass aus Klimasicht die unspektakuläre, unsexy, womöglich sogar untheatralische Lösung am besten zum Ziel führt.

 

Falk Schreiber 2018Falk Schreiber, geboren 1972 in Ulm. Studierte Politik und Literaturwissenschaft in Tübingen und Gießen. 2001 bis 2018 Theater- und Kunstredakteur bei kulturnews und umagazine.de, lebt in Hamburg. Schreibt regelmäßig über Darstellende und Bildende Kunst für Theater heute, Hamburger Abendblatt und Stuttgarter Zeitung. Mitbegründer des Bloggerkollektivs Les Flâneurs und der Plattform für experimentelle Tanzkritik Viereinhalb Sätze. Mitglied diverser Fachjurys, unter anderem bei der Hamburger Kulturbehörde (Förderbereich Tanz) und dem Festival Hauptsache frei. falkschreiber.com

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