Thomas Ostermeier über die Zukunft des Theaters
Ein paar Narren im Dienst der Gesellschaft
1. Juli 2013. Die westlichen sogenannten Demokratien eint eine simple Tatsache: Zur Aufrechterhaltung des Gemeinwesens erhebt jeder Staat Steuern. Dieser von der Gesellschaft abgeschöpfte Reichtum wird in demokratischen Institutionen verteilt – nach Maßgabe dessen, was diese für richtig und wichtig erachten. Dies klingt zunächst einmal banal. Trotzdem finde ich es wichtig, sich vor Augen zu führen, in welchem Maße unsere Gesellschaften von der Grundverabredung ausgehen, dass es so etwas wie öffentliche Aufgaben gibt, die wiederum dem einzelnen Individuum oder den Unternehmen ermöglichen – ja, was eigentlich? Glücklich zu werden? Erfolgreich zu sein? Zu lernen? Andere Ideen und Menschen zu treffen?
Natürlich braucht ein Wirtschaftsstandort Infrastruktur, um den Unternehmen die Möglichkeit zu geben, Profite zu machen. Ebenso evident erscheint die Notwendigkeit des gesamten Bildungssektors, um qualifizierten Nachwuchs heranzuziehen. Bei der Frage der Finanzierung von kulturellen Einrichtungen wird es schon komplizierter.
Das Verständnis dafür, wie eine bürgerliche Gesellschaft zu organisieren ist, kommt uns mehr und mehr abhanden. In den 1980er Jahren trat der Neoliberalismus von Chicago aus seinen Triumphzug an. Zu den wichtigsten Errungenschaften dieser Geisteshaltung gehört die Deregulierung der Finanzmärkte, aber auch die Privatisierung von Aufgaben, die bisher in öffentlicher Hand lagen. Diese Ideologie geht von einem einfachen Wunsch aus: Je mehr wir die Steuerforderungen des Staats an seine Bürger und Unternehmen mindern, desto größer ist der Betrag, der in den Taschen der Bürger und Unternehmen verbleibt. Ich erwähne diese Phänomene der Wirtschaftsgeschichte deshalb, weil ich glaube, dass ein Teil der Legitimationskrise des Theaters ebenfalls hier seine Wurzeln hat. Beim Triumphzug des Neoliberalismus machte sich das Denken breit, dass nichts etwas wert ist, was auf dem Markt keinen Profit bringt.
Utopien, gesellschaftlicher Reichtum und nüchterne Zahlen
Tragischerweise war die alte westeuropäische Linke traditionell auch eher institutionsskeptisch, um nicht zu sagen staatsfeindlich. Deswegen befindet sie sich in dem schmerzhaften Zustand, den Staat gegenüber den Angriffen der Marktgläubigen zu verteidigen. Trotzdem kann ich der idealtypischen Vorstellung, dass der Reichtum einer Gesellschaft unter den Beteiligten dieses Sozialwesens gerecht verteilt wird, durchaus etwas abgewinnen. Ich würde sogar so weit gehen, dass das eine sehr utopische Sicht auf Gemeinwesen darstellen kann, denn im Hintergrund leuchtet natürlich der Traum auf, dass alle Güter und aller Reichtum einer Gesellschaft auch all ihren Mitgliedern in gleicher Weise gehören.
Von dieser Utopie sind wir meilenweit entfernt. Die Ideologie des Marktes hat sämtliche Überlegungen in dieser Richtung unter Totalitarismusverdacht gestellt. Aber bleiben wir einfach bei der bürgerlichen Variante der Verteilung von gesellschaftlichem Reichtum. Kurz nach der deutschen Reichsgründung 1870/71 und ihrer wirtschaftlichen Prosperität (plus Krise) in der sogenannten Gründerzeit wurde all das erfunden oder zumindest institutionalisiert und somit in die Verantwortlichkeit der öffentlichen Hand gelegt, was heute stark bedroht ist: Nahverkehr, Schulen, Universitäten, Bibliotheken, Parks und Grünanlagen und natürlich auch Kultureinrichtungen. Das zu Macht und Einfluss gekommene Bürgertum wollte seine gewonnene Vormachtstellung in repräsentativen und dem Gemeinwohl dienenden Einrichtungen zeigen. Der Staat wurde als Ausdruck eben jenes bürgerlichen Selbstverständnisses erachtet.
Heute erscheint vielen neoliberalen Wortführern der Staat nur noch als Verhinderer wirtschaftlicher Prosperität. In Deutschland hat in den letzten zwanzig Jahren ein massiver Kulturabbau stattgefunden, zum Beispiel im Theater. Seit 1992 mussten insgesamt 18 Theater in Deutschland schließen oder fusionieren. Verschärfend kommt in dieser Debatte die Tatsache hinzu, dass in der öffentlichen Auseinandersetzung immer so getan wird, als verschlängen die Kulturhaushalte unwahrscheinliche Summen am Anteil der Gesamthaushalte. Die nüchterne Realität der Zahlen spricht eine andere Sprache. In Berlin liegt der Anteil der Ausgaben für die Kultur am Gesamthaushalt der Stadt bei 2 Prozent, der Anteil der Theater einschließlich der Opern bei 1,1 Prozent, das Schauspiel allein nur bei knapp 0,5 Prozent. Nicht viel anders verhält es sich in den Großstädten der Nachbarländer. In Wien, das ja eigentlich dafür bekannt ist, wie stark es seine Kulturinstitutionen fördert, beträgt der Kulturetat lediglich 2,1 Prozent des Haushalts. Und ein Blick nach Frankreich zeigt, dass 2013 der Anteil der Kultur am Gesamthaushalt 2,53 Prozent beträgt, 3,2 Prozent weniger als 2012.
Champagnersaufende Subentionsschmarotzer?
Trotz dieser Zahlen wird die Förderung von Kultur immer wieder unter dem Vorwand von Sparzwängen angegriffen. Diese in ihrer ursprünglichen Absicht nicht profitorientierte, aber dennoch nutzbringende Idee der Repräsentation eines neu gewonnenen bürgerlichen Selbstverständnisses wird über Bord geworfen. Vor einigen Jahren hatte ich in Berlin eine Podiumsdiskussion mit einem FDP-Bundestagsabgeordneten meiner Generation. Bevor wir auf das Podium stiegen, begrüßte er mich lächelnd mit den Worten: "Na, du champagnersaufender Subventionsschmarotzer?" Das ist das Klima, das sich im Moment europaweit breitmacht.
Besonders verheerend ist im Theatermilieu eine Entwicklung der letzten zehn Jahre. Unter dem Vorwand, für freie unabhängige Strukturen zu sein, werden die Akteure der unterschiedlichen Milieus aufeinandergehetzt. Fürsprecher des freien oder Off-Theaters behaupten, dass sie das viele Geld, das die Institutionen verschlingen, viel effizienter einsetzen. Dabei ist ihnen gar nicht bewusst, dass sie sich so zu Apologeten des neoliberalen Zeitgeists machen: Von uns bekommt ihr mehr Kunst für weniger Geld. Dass sie dadurch bei vielen Stadtkämmerern oder Kulturpolitikern offene Türen einrennen, ist auch klar.
Freie Theaterstrukturen klingen zunächst jünger, wilder, romantischer, schlichtweg attraktiver. Aber Gelder, die ich als Politiker für ein Projekt, eine Truppe oder eine zeitlich begrenzte Theaterunternehmung zur Verfügung stelle, kann ich, wenn dieses Projekt abgeschlossen ist, für andere Künstler einsetzen oder gänzlich in meinem Etat einbehalten. Dieser neoliberale Traum von Flexibilität bedeutet aber, dass die unterstützten Projekte kurzfristig Erfolg haben müssen. Langfristige künstlerische Entwicklungen, die am Theater so wichtig sind, werden dadurch unmöglich. Aus Projektgeldern finanzierte Arbeitsverhältnisse sind prekärer als feste Engagements. Sozialabgaben werden selten abgeführt, der Krankenversicherungsstatus ist ungeklärt. Die künstlerische Arbeit leidet, weil man oft nebenbei noch etwas dazuverdienen muss.
Eine andere Erzählung der Gesellschaft
Johan Simons [hier zu einer Stellungnahme Simons' zum Repertoire-Betrieb], mit dem ich vor einem Jahr in der Akademie der Künste auf einem Podium saß und der viele, viele Jahre die wichtigste freie Gruppe der Niederlande, Hollandia, leitete, berichtete, dass nach seinem Weggang von Hollandia die Förderung komplett eingestellt wurde und auch keine andere Gruppe dieses Geld bekam. Das wäre ungefähr so, wie wenn man die Förderung der Schaubühne nach dem Weggang Peter Steins eingestellt hätte.
Die Chance, die darin liegt, dass institutionalisierte Theaterbetriebe über Generationen hinweg von der öffentlichen Hand finanziert werden, sehen viele Künstler jedoch nicht. Sie bieten uns Arbeitsmöglichkeiten, Produktionsmittel, um unsere andere Erzählung einer Gesellschaft zu vermitteln. Es wäre fatal, diese Orte vonseiten der Künstler aufzugeben, da wir sonst in den ökonomischen Krisen, die vor uns liegen, wesentlich schneller angreifbar sind.
So viel zu den materiellen Voraussetzungen des Theaterschaffens heutzutage. Schwierig wird es natürlich, wenn wir in dieser Situation, in der unsere materielle Sicherung beständig angegriffen wird, uns auch noch in einer inhaltlichen oder ästhetischen Krise befinden.
Die affirmative Ästhetik des kapitalistischen Realismus
Das Theaterschaffen wurde in den letzten Jahren von dem Diskurs über die Postdramatik beherrscht. Die in den 1970er/80er Jahren aufgekommenen neuen Theaterformen stellen kurioserweise in vielen Stadttheatern und Festivals das ästhetische Glaubensbekenntnis dar. Die Poetologie dieses Genres geht davon aus, dass dramatische Handlung nicht mehr zeitgemäß ist; der Mensch sich nicht als handlungsmächtiges Subjekt begreifen kann; es genauso viele subjektive Wahrheiten im Zuschauerraum gibt, wie Zuschauer anwesend sind, aber keine objektivierbare, für alle gültige Wahrheit hinter den Ereignissen auf der Bühne steht; unsere Wirklichkeitserfahrung komplett fragmentiert ist und diese Wirklichkeitserfahrung nach einem Ausdruck auf der Bühne sucht.
Eine komplexe Welt, vielschichtige Erfahrungen, die sich in der Verwendung vieler Medien ausdrücken: Körper, Tanz, Bild, Video, Musik, Projektion, Dokumentation, Autobiografie, Wort. Dieses Sampeln von Bruchstücken liefert mir den Beweis, dass meine Wirklichkeitserfahrung richtig ist, nämlich dass die Komplexität der Welt undurchdringbar ist und somit auch die Frage nach politischer Verantwortung, und erst recht nach Schuld, nicht zu beantworten ist.
Ich habe das vor ein paar Jahren kapitalistischen Realismus genannt. Die Anlehnung an den Begriff des sozialistischen Realismus deshalb, weil der sozialistische Realismus auch die affirmative Ästhetik des real existierenden Sozialismus war. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Ästhetik ebenso affirmativ ist: In einer Welt der neoliberalen Doktrin kann den Profiteuren dieser neuen Glaubensrichtung nichts Besseres passieren, als dass behauptet wird, es gäbe keinen Schuldigen mehr, alles sei so komplex und verschachtelt, dass Verantwortliche nicht mehr zu benennen seien.
Krise des traditionellen Schauspiels
Ich sage auf keinen Fall, dass dies für alle Vertreter des Postdramatischen gilt. Es gibt vor allem im Dokumentartheater, etwa bei Rimini Protokoll oder Milo Rau, das genaue Gegenteil: Investigative Arbeit, die oft das Journalistische streift und garantiert aufhellender und erhellender ist als der Großteil dessen, was man in normalen Stadttheateraufführungen sieht.
Aber ich denke, dass diese Form des dokumentarischen Theatermachens mit Experten des Alltags auch ein Phänomen der Krise des traditionellen Schauspiels ist. Traditionelle Schauspielkunst und Pflege des klassischen Repertoires hat in weiten Teilen den Bezug zur sozialen Wirklichkeit verloren. Die Menschen im Parkett erkennen ihre alltäglichen Wirklichkeiten auf der Bühne nicht wieder. Viele Darsteller schöpfen ihre Fantasie nicht mehr aus ihrem eigenen Leben und Erleben, sondern orientieren sich mehr und mehr an bewunderten Vorbildern.
Insofern berichten Experten des Alltags kompetenter von der Wirklichkeit als normale Schauspieler – obgleich doch die ureigenste Aufgabe des Schauspielers genau darin bestehen sollte. Das beginnt bei der Ausbildung der Schauspieler und ihrer Weiterbildung im Beruf. Brecht forderte als Regisseur am Berliner Ensemble seine Schauspieler auf, in die Wirklichkeit hinauszugehen, Gerichtsverhandlungen zu besuchen, in Betrieben zu hospitieren, um kompetent über das Verhalten der Menschen in ihrer Zeit berichten zu können.
Wovon man erzählen kann
Ich versuche meine Schauspieler immer wieder aufzufordern, von ihren eigenen Biografien und Beobachtungen in ihrem Umfeld zu erzählen. Wie wirken sich die sozialen Abstiegsängste unserer Zeit auf das Verhalten der Menschen aus? Was bedeutet der Leistungsdruck in unserer Gesellschaft für unsere emotionalen Beziehungen und Sehnsüchte? Wie ordnen wir unser privates Leben diesem Diktat unter? Wie oft zerbrechen Beziehungen an dieser gesellschaftlichen Wirklichkeit des flexiblen Menschen? Warum haben wir ein hochelaboriertes Vokabular, um über unsere Partnerbeziehungen und Psychologien des Alltags zu reden, besitzen aber ein wenig elaboriertes Vokabular für unsere politischen Wirklichkeiten ("Scheißsystem")?
Warum verhandeln wir die verheerenden sozialen und politischen Entwicklungen der letzten 20 Jahre nicht mit der gleichen Leidenschaft? Obwohl sie doch unsere Beziehungen und Psychologien so immens beeinflusst haben. Flexiblere Arbeitszeiten, Digitalisierung des Alltags, ständige Erreichbarkeit in einer Welt der flexiblen Arbeitsverträge, in der wir nicht einmal sicher sein können, dass wir nicht von heute auf morgen ohne Arbeit dastehen. Das sind Lebenswirklichkeiten, die sich bis in das körperliche Verhalten der Menschen hinein beschreiben lassen. Woher sonst kommt der Boom der Zeitungsartikel über Krankheit, Müdigkeit, Depression, Burnout?
Die Installation des ökonomischen Denkens bis hinein in die kleinsten Kapillargefäße der Gesellschaft ist in den körperlichen und psychischen Deformationen des modernen Menschen ablesbar. Davon kann man auf der Bühne erzählen. Durchaus kompetent, wenn man seine Fantasie aus dem nährt, was um einen herum passiert.
Ein schöner Traum
Im idealen Theater steckt ein heimliches Versprechen, mit diesen eben beschriebenen Phänomenen der Wirklichkeit umzugehen. Zunächst sind die institutionalisierten Theater noch unabhängig von ökonomischem Erfolg. Theater könnte ein Ort sein, an dem man sich frei vom ökonomischen Legitimationsdruck artikuliert. Für das Selbstverständnis einer Gesellschaft eigentlich ein schöner Traum: Sie leistet sich ein paar Narren, die sie sich aus der Zeit des aristokratischen Hoftheaters ausgeliehen hat, die alle Freiheit besitzen, ebenjene Gesellschaft widerzuspiegeln, in Frage zu stellen, zu verlachen. Es könnte ein Ort sein, der durchaus eine reinigende Kraft besitzt.
Zumindest an der Schaubühne glauben jedenfalls nach meinem Gefühl viele vornehmlich junge Zuschauer, einen Ort zu betreten, an dem man wirklich noch frei und unabhängig spielen und nachdenken kann. Und an dem zugleich die beschriebenen Verwerfungen in den Körpern der flexiblen Menschen ihren Ausdruck auf der Bühne finden. Dazu kommt noch die simple Realität eines jeden Theatervorgangs: Er findet im Moment statt. Im dreidimensionalen Raum mit den anwesenden Körpern der Darsteller. Da kann man nichts im Nachhinein retuschieren oder im Schneideraum wie beim Film verändern. In unserer digitalisierten Welt, die meist vor zweidimensionalen Bildschirmen stattfindet, ist dieser unmittelbare Moment, virtuell glaubwürdig zu agieren, ohne sich in einer virtuellen Realität zu befinden, Auftrag und Herausforderung des Theaters.
Thomas Ostermeier, 1968 im niedersächsischen Soltau geboren und in Landshut/Niederbayern aufgewachsen, ist Theaterregisseur und seit Herbst 1999 der Künstlerische Leiter der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin.
Thomas Ostermeiers Text erschien zuerst im TEXT+KRITIK Sonderband "Zukunft der Literatur", München 2013, S. 42-50, und wurde in Le Monde diplomatique Nr. 10130 vom 14.6.2013 wiederabgedruckt. nachtkritik.de dankt Thomas Ostermeier sowie den beteiligten Verlagen für die Erlaubnis zur Wiederveröffentlichung.
Siehe zum Thema auch den Lexikon-Eintrag Stadttheaterdebatte.
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PS. Haben die östlichen sogenannten Diktaturen zur Aufrechterhaltung ihres Gemeinheitswesen keine Steuern erhoben?
Hier klingt alles so, als ob das Theater vor einer neoliberalen und digitalen "Revoltion" bewahrt werden müsste.
Zunächst einmal sollte man klären, was Ostermeier "unter Investigative Arbeit, die oft das Journalistische streift und garantiert aufhellender und erhellender ist als der Großteil dessen, was man in normalen Stadttheateraufführungen sieht.",
was er also unter "normalen Stadttheateraufführungen" und "normalen Schauspielern" versteht.
Auf der Bühne stehen die einen, wie die anderen und unterziehen sich dem immer selben analogen Vorgang. Wer dort oben steht, spielt graduell immer.
Überhaupt? Wo will Ostermeier hin? Will er eine Mehrheit, die brav das Normale verteidigt?!
Abgesehen von großen Namen, die eine längere Leine bekommen, wird die Stadt als Geldgeber (Landestheater stehen nur unwesentlich besser) immer die wirtschaftlichen Steuerzahler im Hinterkopf haben und für bürgerlichen Durchschnitt eintreten.
In diesem Zusammenhang von konservativ oder progressiv zu reden führt zu nichts: die alten Frontabsteckungen sind passè. Auf der Tagesordnung stehen soziale Schieflage, staatliche Willkür mit und ohne NSA, Vorstellungen einer Lebensgestaltung der nächsten zwei Jahrzehnte.
Ich persönlich empfinde die Böll-Rede im Zusammenhang mit der Eröffnung (und jetzt tatsächlich bitteren Schließung) des Wuppertaler Theaters übrigens immer noch interessanter als diesen Text von Ostermeier. Zumal, wenn man bedenkt, welch mitreissende und politisch eingreifende Texte die Schaubühne unter Peter Stein und auch noch unter der neuen Vierer-Schaubühnenleitung (Ostermeier, Hillje, Waltz, Sandig) mal verfasst hat. Das wirft in meiner Wahrnehmung u.a. auch ein problematisches Licht auf heutige Theaterleitungen. Es scheint beinahe so, als zögen hier viele in vorauseilendem Gehorsam - Entschuldigung - den Schwanz ein, anstatt angesichts der angeblich allgemeinen Finanznöte die Dringlichkeit der Umverteilung von Geldern in den Bereich der Kunst zu fordern. Das Theater war einmal und ist bis heute wesentlich für die spielerische Aushandlung und/oder Konfrontation zwischen Menschen im Kontext des Prinzips des Gemeinsamen, im Kontext einer Demokratie von unten. Wir leben eben nicht in Banken und Steuersystemen, sondern in lebendigen Städten.
"Und schließlich ist es selbstverständlich, dass, wenn irgendeine Regierungsform sich für diese Zwecke als schädlich erweist, das Volk das Recht hat, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen und sie auf solchen Grundsätzen aufzubauen und ihre Gewalten in der Form zu organisieren, wie es zur Gewährleistung ihrer Sicherheit und ihres Glücks geboten scheint."
(Hardt/Negri, basierend auf der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika aus dem Jahr 1776)
Ich finde weiterhin nicht, dass es genuine Aufgabe der Kunst ist, politisch zu sein. Wenn Künstler das wollen, bitte sehr. Aber sie darauf zu verpflichten, ist eine jener Einmischungen in die Belange der Kunst, die zum Verlust ihrer Freiheit geführt haben. Die Kunst wird heute über die Zuwendung oder Nichtzuwendung finanzieller Mittel auf viele sozialpolitische Ziele verpflichtet, die zu diskutieren und zu erreichen meiner Auffassung nach eigentlich die Aufgabe anderer gesellschaftlicher Kräfte ist. Warum soll die Kunst bilden? Es gibt doch (deutlich substantieller finanzierte) Schulen und Universitäten. Warum soll sie interkulturelle Arbeit leisten, wo es doch hervorragende Einrichtungen gibt, die das hochprofessionell (und vom Bildungsbürgertum oft unbeachtet) tun? Warum soll sie kritisch sein, wenn das doch die Aufgabe der Kritik (mithin der Presse) ist? Und warum soll Kunst für Lebensqualität in Städten sorgen, wo dies doch Aufgabe von Stadtplanern, Architekten und Kommunalpolitikern sein sollte, schließlich werden sie dafür entweder hochbezahlt oder gewählt (oder beides)? Die Kunst an der Erreichung dieser Aufgaben zu messen, heißt sie wissentlich scheitern zu lassen und sie dann umso leichter unter populistischen Vorwänden ihrer finanziellen Grundlagen zu berauben. Die Freiheit der Kunst besteht jedenfalls für mich darin, auch die Ansprüche an sie, die wir aufgeklärten Bürger an sie stellen, in Frage stellen zu dürfen. Um das aber zu können, braucht sie Orte, an denen und Zeit, in der sie das erproben kann. Dies denen entgegenzuhalten, die Kunst aus bestimmten politischen Erwägungen fördern und ihr damit "Aufgaben" aufnötigen, ist aus meiner Sicht dringend geboten.
Ich erlaube mir abschließend einen kurzen Kommentar zu Hardt/Negri: Es ist durchaus nicht "selbstverständlich", dass das Volk das Recht hat, seine Regierenden abzusetzen, wenn sie ihm zum Schaden gereichen. Vielmehr ist dieses Recht unter viel Blutvergießen erkämpft worden. Das Theater hat in diesen Kämpfen eine maximal untergeordnete Rolle gespielt. Eine große Rolle hat es dagegen bei der Überlieferung des Wissens um diese Kämpfe gespielt, die es fortlaufend kommentiert, ästhetisch unterlaufen oder überformt und als Material für seine eigenen ästhetischen und ethischen Kämpfe benutzt hat. Dadurch ist das Theater aber nicht freier geworden, im Gegenteil.
Eine sehr traurige Nachricht! Aber Danke für die Info! Lou
"In der Kultur der Affirmation geht es nicht um Überzeugungen, die müssen sogar dringend abgeschafft werden, weil sie blockieren, und vermutlich auch nicht mehr lesbar sind. Es geht um gar nichts Drittes, auf das man sich bezieht, über das man streitet, zu dem man sich verhält. [...]
Opportunismus ist für den Affirmationsmenschen und Netzwerker keine Schlechte, sondern eine notwendige Eigenschaft, die Flexibilität oder soziale Kompetenz genannt wird. Je mehr Bürgerrechte den Menschen entzogen werden, desto abhängiger müssen sie sich Mühe geben, die richtige Einstellung vorzuweisen. Die Bejahungskultur vor dem Hintergrund der ständigen Bedrohung, ausgeschlossen zu werden, bildet eine ähnliche Formenwelt und Struktur wie in früheren Jahrhunderten die höfische Kultur, wobei nicht ganz geklärt ist, durch wen oder was im Ökomomie-Absolutismus der Souverän repräsentiert würde."
Die Freiheit des Theaters bzw. der Kunst besteht darin, diese gegen jegliche Beeinflussung durch opportunistische Gedankenlosigkeit zu verteidigen. Kunst ist dazu da, das kritische und unabhängige Denken UND Fühlen zu fördern. Und/oder sonst gar nichts.
Um eines vorwegzunehmen: Thomas Ostermeier macht gutes, mitunter exzellentes Theater und Regierungen sind gegenüber Exzellenz-Offensiven, die gewiss auch etwas Elitäres haben, durchaus aufgeschlossen. Vielleicht liege ich falsch, aber Thomas Ostermeier ist gar nicht so unendlich weit von beispielsweise Daniel Barenboim entfernt, dem Senat und Kulturstaatsminister das Geld für seine Projekte geradezu hinterhertragen. Und ich hätte auch bei Thomas Ostermeier nichts dagegen. Exzellenz ist ein rares Gut, ebenso wie das Ringen um Erkenntnis, ob in der Musik oder im Theater. Mein Vorbehalt gegenüber Finanzierungen von der öffentlichen Hand „über Generationen hinweg“ wird allein daraus gespeist, dass solch eine Finanzierungsgarantie der Qualität „institutionalisierter Theaterbetriebe“ nicht unbedingt guttut.
Thomas Ostermeier hat noch nicht mitbekommen, dass die seit 2007 schwelende Finanzkrise eine Krise des Neoliberalismus ist. Der Triumphzug ist vorbei. Die Denke, „dass nichts etwas wert ist, was auf dem Markt keinen Profit bringt“, oder - zugespitzter formuliert -, dass nur der Profit etwas wert ist, hat zwingend zur Konsequenz, dass nichts mehr einen Wert hat. Es ist eine Phasenverschiebung: Wer mit Wissen und Können, Engagement und Leidenschaft seine Projekte verfolgt, ob als Regisseur, Architekt, Ingenieur oder Arzt, hat gute Chancen auf Erfolg und - auch finanzielle – Anerkennung. Er ist des Profites würdig, ganz anders als der Spekulant, der keine Projekte hat, außer dem Streben nach Profit. Den scheinbar anstrengungslosen Profiteuren, die durch geschickte Manipulation Geldströme auf die eigenen Mühlräder lenken, und die ihr eigenes Vermögen dadruch schaffen, dass Sie immense „allgemeine“ Schulden produzieren, diesen Kettenbrief-Jongleuren lag und liegt der Neoliberalismus zu Füßen. Doch die Stunde dieser tendenziellen Verderber sollte zuende gehen. Vielleicht kann gutes Theater dazu beitragen.
Ostermeier hat recht, wenn er es als eine Errungenschaft ansieht, dass sich das Theater im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert aus der Abhängigkeit feudalen Mäzenatentums befreien und zu einer Institution werden konnte, in der die Bürger ihre „Res publica“ verhandelten. Man muss diesen Ort nicht zu einer Latrine onanierender Figurenzertrümmerer verkommen lassen.
Die Schauspieler müssen nicht „in Betrieben hospitieren“. Wenn man Brecht mag, sollte man abklopfen, wie beispielsweise „Der gute Mensch von Sezuan“ zu aktualisieren ist: Der Gutmensch, der auf den „Onkel“ mit Killer-Instinkt angewiesen ist, von dem er aber nichts weiß und nichts ahnt.
Wenn ich es recht verstehe, glaubt auch Ostermeier nicht daran, „dass dramatische Handlung nicht mehr zeitgemäß ist“. Es genügt, auf Shakespeare zu verweisen. Auch die Dramen des Alltags der Gegenwart beginnen meist mit einer Verwirrung der Kategorien nach dem Motto der Hexen in Macbeth: „Fair is foul, and foul is fair.“ Schmerz und Anstrengung bereitet es, die Ignoranz und Verblendung der heutigen Akteure zu durchbrechen und deutlich zu machen, dass immer nur nach den archaischen Dschungel-Rezepten von Macht und Stärke gekocht wird.
Doppelten Schmerz und mehr Anstrengung bereitet Hamlet, zu sehen, dass sich jemand um die rechtmäßige Macht gebracht sieht, wenngleich es ihm an Reife zum Regieren mangeln mag, und der andererseits mit einem wohlabgewogenen Regieren konfrontiert wird, das vielleicht nur Maskerade ist, einem Regieren, dem alles, auch heimtückischer Mord, zuzutrauen ist. „Die Zeit ist aus den Fugen: Schmach und Gram, Daß ich zur Welt, sie einzurichten kam!“ Gibt uns Shakespeare (und die hier weiter als das Original greifende Übersetzung Schlegels) eine Idee der in Hamlets Sinne „eingerichteten Welt“? Auch wir leben in einer Welt, in denen allen alles zuzutrauen ist, und wir sollten konzentriert Hamlet „anschauen“, bevor wir großmäulig und leichtfertig Lösungen der Menschen- und Welträtsel verkünden.
Manipulation ist das Übel der Gegenwart, von ihr befreit zu werden, konfrontiert uns dennoch nur mit dem Dilemma des Menschseins.
Dieses Dilemma des Menschseins kann man immer wieder spannend auf die Bühne bringen und ich hoffe, dass dies Thomas Ostermeier noch häufig gelingt.