Zur Logik der zeitgenössischen Klassikerüberschreibung
Der Depp als Dauerzustand
5. Januar 2024. Es ist der große Trend auf unseren Gegenwartsbühnen: klassische Stücke, komplett umgeschrieben und in zeitgenössische Milieus verlegt. Iphigenie als musisches Missbrauchsopfer, Iwanow als Clown im Tennis-Club. Die Spielarten dieser Überschreibungen sind mannigfaltig, aber eine Logik herrscht vor.
Von Christine Wahl
5. Januar 2024. In der Berliner Schaubühne hat Yerma, eine erfolgsverwöhnte Lifestyle-Redakteurin mit linker attitude, gerade eine Wohnung gekauft. Vom obligatorischen Feier-Schampus bereits wohlig angesäuselt, räkelt sie sich mit ihrem Freund John im neuen Besitz. Semi-ironisch bekichert man die Tatsache, als Gentrifzierer nun praktisch zum eigenen Feindbild geworden zu sein und kommt über der Erörterung weiterer kleiner Widersprüche irgendwann auf Sexualpraktiken zu sprechen. Apropos, sagt Yerma plötzlich mit verändertem Gesichtsausdruck zu John: Sie wolle jetzt, Stereotyp hin oder her und ihrer bisherigen Fortpflanzungsidiosynkrasie zum Trotz, doch ein Kind.
Stilechte Netflix-Ästhetik
Wenn man heute über Remakes klassischer Theatertexte nachdenkt, ist es ziemlich interessant, sich diese Schaubühnen-"Yerma" von 2021 noch einmal anzuschauen. Schließlich gilt ihr Schöpfer, der australisch-schweizerische Theatermacher Simon Stone, als Pate des gegenwärtig zu beobachtenden Überschreibungshypes. Seine Methode, Stücke von Euripides bis Ibsen zu verheutigen, indem er ihre Figuren und Grundkonflikte zwar beibehält, sie aber derart radikal in die Gegenwart übersetzt, dass er ihnen auch komplett neue Dialoge auf den Leib schreibt, hatte ja veritablen Avantgarde-Charakter, als er Mitte der 2010er Jahre im deutschsprachigen Theaterbetrieb aufschlug. Sein Markenzeichen: die Verknüpfung hochkultureller Inhalte mit Codes der Populärkultur, namentlich einer stilechten Netflix-Ästhetik. Eine typisch postmoderne Praxis und – ganz gleich, wie man das Ergebnis im Einzelnen bewertet – eine ziemlich erfolgreiche Maßnahme zur Popularisierung des Kanons.
Man muss schon eine versierte Kennerin desselben sein, um in der selbstbewussten Journalistin, die Caroline Peters mit Verve, Vitalität und dem unwiderstehlichen Charme eloquenter Selbstironiefähigkeit spielt, die Spurenelemente ihres Vorbilds zu entdecken: Federico García Lorcas gleichnamiger Hirtentochter von 1934, die in einer fremdbestimmten Versorgungsehe mit dem ungeliebten, aber wohlhabenden Bauern Juan lebt – der sich aus Geiz weigert, mit ihr ein Kind zu zeugen. Bei Stone ist dieser hartherzige Agrarkapitalist zu einem dauerdienstreisenden Yuppie-Schluffi mutiert, der zwar durchaus zielstrebig seine Karriere verfolgt, es zu Hause aber eher harmonisch haben will und mit modernen Männlichkeitsdiskursen hinreichend vertraut ist. Die fruchtbarkeitskultischen Naturrituale, denen sich Lorcas Yerma mit wachsender Verzweiflung aussetzt, finden sich zum Fertilitätsyoga auf der Dachterrasse nebst anschließender In-Vitro-Behandlung upgedatet.
Das Überschreibungsbusiness boomt: Zumindest in den sogenannten Theater-Metropolen stehen Klassiker inzwischen häufiger in zeitgenössischen Bearbeitungen auf dem Spielplan als im Urzustand. Aber das Prinzip, kanonische Texte à la Stone dadurch zu verheutigen, dass man für ihre Figuren und Problemkonstellationen quasi eins zu eins dramatische Gegenwartsäquivalente findet, wird zurzeit von einem anderen Trend abgelöst: Häufig geht es nicht mehr darum, den Kanon im engeren Sinne zu aktualisieren, sondern darum, ihn zu kritisieren und zu korrigieren, alte Narrative durch neue Gegen-Narrative zu ersetzen. Die dramatische Überschreibung ist, mit anderen Worten, ins Stadium der politischen Überschreibung eingetreten: ein Schritt, der sich besonders gut an den feministisch gelabelten Kanon-Revisionen beobachten lässt.
Als Galionsfigur solch einer Bearbeitungspraxis gilt – seit ihrer Schiller-Intervention "Die Jungfrau von Orleans" vom Nationaltheater Mannheim 2021 – die Regisseurin Ewelina Marciniak. Ein Jahr später brachte sie, wieder mit der Dramaturgin Joanna Bednarczyk, eine "Iphigenie"-Variation nach Texten von Euripides und Schiller heraus. Jene groß angelegte "Iphigenia", eine Koproduktion der Salzburger Festspiele mit dem Thalia Theater Hamburg, lohnt einen genaueren Blick.
Proseminar Patriarchatskritik
Im alten Mythos soll Iphigenie – Kanon-Kenner wissen es – aus Staatsräson geopfert werden. Ihr Vater Agamemnon, griechischer Heerführer im Trojanischen Krieg, willigt im Dienste der höheren Sache notgedrungen ein. Marciniak und Bednarczyk haben aus dem antiken Heerführer nun einen zeitgeistigen Ethikprofessor gemacht, der praktisch ausschließlich durch unethisches Handeln auffällt und aus Karrieregründen einen #MeToo-Fall vertuscht.
Die dramatische Überschreibung ist ins Stadium der politischen Überschreibung eingetreten.
Weil er schlechte Publicity fürchtet, kehrt der Salzburg-Hamburgische Agamemnon den sexuellen Missbrauch der eigenen Tochter unter den Teppich, der hier das Opfertod-Motiv ersetzt. Die Sache mit der Staatsräson entfällt, Agamemnon vertritt bei Marciniak und Bednarczyk vornehmlich Eigeninteressen, die in hölzernen seminaristischen Text-Einschüben mit strukturellen Machterhaltungsinteressen des Patriarchats in eins gesetzt werden. Dazu passt, dass der pokerfacige Ethik-Prof mit der Vertuschung des töchterlichen Missbrauchs auch den männlichen Täter schützt: seinen Bruder Menelaos.
Vom dramatischen Protagonisten zum gesellschaftspolitischen Feindbild: Mit diesem Karrieresprung ist Agamemnon zurzeit in bester Bühnen-Gesellschaft. Am Staatsschauspiel Dresden steht zum Beispiel sein Kollege Ajax auf der Bühne, ebenfalls eine griechische Markengröße im Trojanischen Krieg – die allerdings aus Gründen, deren Erörterung hier zu weit führen würde, von einem folgenschweren Wahn befallen wird. In Thomas Freyers Sophokles-Überschreibung "Ajax" verdoppelt sich der Titelheld nun in einem Verschwörungstheoretiker namens Michael: Während Ajax an der trojanischen Front wütet, die hier deutliche Assoziationen zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine weckt, bereitet sich sein Wiedergänger, der gerade mit einem Photovoltaik-Start-up gescheitert ist, zu Hause schon mal prophylaktisch auf den Einsatz vor. Von der Lebensmittelhortung über die Waffenübung in schusssicherer Weste bis zur Aushebung des Atomschutzbunkers im Vorgarten: das volle Prepper-Programm.
"Ich kann nur Krieg", sagt Ajax einmal zu seiner Frau und lässt keinen Zweifel daran, dass er hier nicht nur für sich, sondern für das Prinzip Mann als solches spricht. Kein Wunder, dass sein Satz im Kern auch auf den überschriebenen Woyzeck zutrifft, der gegenwärtig am Berliner Deutschen Theater zu sehen ist. Der prekäre Tagelöhner, der bei Büchner in einer Mischung aus klinischem Wahn und klassischer Eifersucht seine Lebensgefährtin umbringt, weil sie mit einem Statushöheren liebäugelt, ist in Mahin Sadris und Amir Reza Koohestanis Remake "Woyzeck Interrupted" zu einem narzisstischen Schauspieler mit Borderline-Syndrom mutiert, bei dem im Pandemie-Lockdown der Femizid-Impuls getriggert wird. Der Woyzeck-Plot wird in dieser Aufführung von der Verlesung realer Tötungsdelikte flankiert, die Männer an ihren Partnerinnen, Geliebten oder Ex-Frauen begangen haben. Das Drama schrumpft zum Thesenstück, die Figur zum Täterprofil.
Da der Kanon nun aber nicht nur Tragödien enthält, existiert vom Mängelwesen Mann auch eine Version in lustig – der wir in exemplarischer Form in Yana Ross' Tschechow-Überschreibung "Iwanow" am Berliner Ensemble begegnen. Dort ist der nihilistische Selbstzerfleischer aus der russischen Provinz zu einer Art unfreiwilligem Klassenkasper regrediert, der sich im Gütersloher Tennisklub "Netzroller", in dem Ross' Abend spielt, beim Coaching für diskriminierungsfreies Sprechen blamiert und ferner dadurch auffällig wird, dass er im spätpubertären Gestus den Output der attraktiven Jungliteratin Sasha bekichert.
Textbausteine aus dem Boomer-Kit
Ein Punkt, der all diese Überschreibungen eint: Die augenfälligste Maßnahme der feministisch gelabelten Kanon-"Korrektur" besteht erstaunlicherweise weniger darin, den weiblichen Cast auf- als vielmehr darin, den männlichen abzuwerten. Und zwar in dem Sinne, dass der männliche Protagonist als solcher zu einer nachgerade bahnbrechenden Eindimensionalität schrumpft und ihm im Laufe des Abends praktisch keinerlei dramatische Entwicklung widerfährt: Er startet als derselbe Depp oder Fiesling (wobei das eine das andere selbstredend nicht ausschließt) in den Abend, als der er zwei oder drei Stunden später auch wieder abtritt. Er wird, mit anderen Worten, nicht von innen heraus als Charakter entwickelt, sondern versprüht den Charme eines Hohlkörpers, den man von außen mit Textbausteinen aus dem gesellschaftspolitischen Diskurs-Kit befüllt hat: Für die kanonischen Könige und Krieger steht das Boomer-Set parat, während die im männlichen Segment stark rationierten Sympathieträger-Förmchen bestenfalls für die revoltierenden Söhne oder die klassistisch benachteiligten Angestellten herausgeholt werden dürfen. Mischformen sind praktisch ausgeschlossen.
So weit, so fair – sagen die Theater-Aktivistinnen: Hier walte endlich ausgleichende Gerechtigkeit fürs jahrhundertelange Frauenfigurenleid. Dass viele Klassiker unter geschlechtsspezifischen Aspekten heute tatsächlich denkbar schräg wirken, weil die Kultur- und Zivilisationsgeschichte seit ihrem Erscheinen gottlob vorangeschritten ist, wird kein ernst zu nehmender Mensch bezweifeln. Fragt sich nur, ob irgend etwas gewonnen ist, wenn die Bandbreite fürs männliche Rollenfach aus kompensatorischen Gründen jetzt ähnlich plakativ zusammenschrumpft wie früher diejenige fürs weibliche?
In der konkreten Anschauung, wenn man also Abend für Abend im Parkett sitzt, drängt sich eher der Eindruck eines dramatischen Verlustgeschäfts auf. Denn im politischen Aktivismus haben ideologische Kategorisierungen eine nachvollziehbare Funktion, in der Bühnenkunst dagegen machen sie – sofern selbige sich nicht als Agitprop versteht – denkbar wenig Sinn. Das Theater ist erfahrungsgemäß besser darin, durch die Betrachtung komplexer Figuren in komplexen Zusammenhängen vielschichtige Einsichten zu ermöglichen als darin, bereits Bescheid zu wissen. Dass dem Drama zuverlässig die Dramatik ausgetrieben wird, wenn statt der einstigen Dialogpartner nunmehr Parolenheldinnen in den Bühnen-Ring steigen, ist aber nur eine Sache.
Augen zu bei der Partnerwahl?
Schwerer noch wiegen die Nachteile für die Figuren selbst – und zwar, ironischerweise, auch für die weiblichen, die doch gerade aufzuwerten das Ziel war. Haben sie es mit der Männer-Variante 'lustig' zu tun, wirken sie nämlich paradoxerweise sogar umso unemanzipierter, je fortschrittlicher das Vokabular klingt, das sie im Munde führen. Schließlich fragt man sich im Parkett mit wachsender Irritation, warum diese Frauen einen derartigen Clown nicht längst verlassen haben; erstaunlich genug schließlich, dass ihnen der Fehlgriff überhaupt unterlaufen ist.
Im politischen Aktivismus haben ideologische Kategorisierungen eine nachvollziehbare Funktion, in der Bühnenkunst dagegen machen sie – sofern selbige sich nicht als Agitprop versteht – denkbar wenig Sinn.
Treffen die Bühnenfrauen indes auf den Tragödien-Typus "Ich kann nur Krieg", ist eine (Re-)Produktion weiblicher Opfergeschichten nahezu unvermeidlich: eigentlich der Super-GAU für eine Bearbeitungspraxis, die sich die Revision des Frauenopfers auf die Fahnen geschrieben hat. Marciniaks Iphigenia, die als erfolgreiche Pianistin in den Überschreibungsabend gestartet war, bricht sich eigenhändig die Finger, nachdem sich ihre Karriere in der Tiefenanalyse als väterlicher Wunsch entpuppt hat.
Angesichts derart deprimierender Bühnenaussichten sehnt frau sich ja geradezu nach Stones Netflix-Yerma zurück! Der ist zwar definitiv recht zu geben, wenn sie einmal inbrünstig "Wir sind solche Klischees!" über die Dachterrasse ruft. Aber bei aller stereotypen Televisionshaftigkeit verfügt sie, zumal eben in der Darstellung von Caroline Peters, doch über ein paar entscheidende Facetten mehr als ihre Kolleginnen im Kasper- und Krieger-Umfeld. Sie darf sich vor ihrer Opferwerdung immerhin in allen erdenklichen Rollenfächern von der Sympathie- über die Antipathie-Trägerin bis zur Frau in Führungsposition und zur punktuellen Täterin austoben.
Glücklicherweise finden sich aber auch in den Überschreibungen neueren Typs Abende zum Aufatmen. Zum Beispiel in Essen, wo Fatma Aydemir unter dem Motto "Doktormutter Faust" erfreulicherweise etwas in die Bühnenrealität wendet, was viele Zuschauerinnen im Parkett ohnehin seit Jahren en passant praktizieren dürften: Weil nirgends geschrieben steht, dass Faust als role model exklusiv Männern vorbehalten sei, während Frauen sich ausschließlich mit der Langweilerin Gretchen zu identifizieren hätten, macht Aydemir Herrn Doktor Heinrich kurzerhand zur Frau Professor Margarete Faust. Und schickt sie, mephistophelisch getriggert und mit ganz leisen Anklängen an Todd Fields Kinofilm "Tár", in einen bizarren Verführungsversuch ihres Doktoranden Karim.
In den Tiefen der Verblendungszusammenhänge
Vor allem aber sehnt die Zuschauerin sich nach Charakteren wie den "Sistas!", die derzeit in der Berliner Volksbühne anzutreffen sind. Auch in dieser "Drei-Schwestern"-Version des freien Theater-Kollektivs Glossy Pain trifft man auf Protagonistinnen, die sich in der gesellschaftspolitischen Debattenlandschaft verorten – als Akademikerinnen, Künstlerinnen, Schwarze, Frauen und, last but not least, als Individuen. Nur werden die Feminismus-, Sexismus- und Rassismusdiskurse, die hier in einem Westberliner Altbau der 1990er-Jahre hin und her fliegen, eben nicht herunterdividiert auf politische Statements, die man hölzern-monologisierend ins Publikum doziert. Sondern die schwesterlichen Dialoge und Selbstbefragungen fangen dort, wo andere Abende aufhören, überhaupt erst an. Denn diese "Sistas" sind emanzipiert – und befleißigen sich gegebenenfalls trotzdem eines finanziell stabilisierenden Paarungsverhaltens. Sie sind klassismusbewusst – und dennoch nicht frei von Ressentiment-Anflügen. Anders als bei Tschechow haben sie noch einen Vater, der weder toxisch männlich ist noch ausschließlich nett, weder uneingeschränkter Sympathieträger noch struktureller Unsympath. Und weil hier eben alle tief in ihre eigenen Verblendungszusammenhänge schauen, ist die Welt bei "Sistas!" mindestens so komplex wie bei Tschechow. Nur gegenwärtiger.
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Vielleicht liegt das Problem aber auch darin, dass Theaterkünstler*innen einfach nicht emanzipiert sind. (...)
(Anm. Redaktion: Es folgt eine Reihe von pauschalen Unterstellungen und Anwürfen gegen das Theatersystem im Ganzen, die derart verallgemeinernd keine sinnvolle Diskussion zulassen. Der Beitrag bleibt mithin entsprechend den Kommentarregeln in Teilen unveröffentlicht.)
Ich finde die Analyse von Frau Wahl ganz hervorragend und möchte mich ausdrücklich dafür bedanken, dagegen verblasst m.E. jedes von Rowohlt als Kompendium herausgegebene Werk von Herrn Stegemann.
Das eine ist keine komplexe, bestenfalls mehrschichtige Figur.
Das andere eine komplexe.
Shakespeare hatte die poetische - also im Theaterfall dramaturgisch motivierte lyrische - Kraft, viele fragliche Deppen mit großen (Un)Tiefen zu schreiben. Die man zeigen/sehen KANN, aber nicht muss! Da ist dann Freiheit gegeben. Für den Zuschauer, die Spieler UND die Regie. Für Becketts "Endspiel" würde ich das ebenfalls reklamieren. Im Unterschied zu Shakespeare ist dramaturgisch bei diesen beiden "Deppen" bedeutend, dass ihre Komplexität sich aus der Abwesenheit bzw. aus der verhandelten Erwartung einer Anwesenheit, die die komplexe Szenografie ausmacht, bei der mehrdimensionierte Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Komplexität stattfinden kann. KANN, nicht muss. -
Die Abwesenheit von etwas, mit der gespielt wird, ist eines der wichtigsten Merkmale des Absurden Theaters. Was für "Kasimir und Karoline" nicht zutrifft. Hier obliegt es ganz dem Zuschauer, Merkel Franz oder Kasimir als Deppen zu empfinden/interpretieren - und der Regie, dem Zuschauer das näher oder ferner legen zu wollen. - Fand ich immer überaus bedauerlich an diesem Stück und eher nicht gelungen; vermutlich hat das einst der Autor selbst auch bedauerlich gefunden. Weshalb das Szenenangebot so schwammig organisiert wurde. Wie auch beim "Woyzek". Das ist dann natürlich ein Highlight für Regie-rende ebenso wie ein großes Risiko für die Spieler der jeweiligen Protagonisten. Sie müssen entweder der Interpretation der Regie zu Kreuze kriechen, wenn der Laden zusammenhalten soll - oder die Spiel-Kraft haben, den ganzen Laden unter ihre Kontroll-Wucht zu bekommen und die Regie zum reinen Diener des Ensembles zu machen... Dies durch Figuren-Text-Organisation allein herausgefordert zu haben, ist wiederum eine dramaturgische Meisterleistung, die bis auf den heutigen Tag nicht an Kraft ins Theater hineinzuwirken, verloren hat. Sie stellt einen Baukasten bereit, der das Risiko netflixähnlich gehandhabt zu werden, stets präsent hält.
Und es kann für das Theater nicht das Ziel sein, Figuren so zu bauen, wie man es aus Serien von Streaminganbietern kennt, weil das der Film einfach besser kann und das Theater, wenn es sich unsinnigerweise auf diesen Vergleich einlässt, da immer nur verliert.
Die Kraft des tragikomischen Scheiterns ist das theatrale Potential des Depps, das ihn natürlich zur spannenden Bühnenfigur macht.
Das tragisch-komische Scheitern macht jede Bühnenfigur zu einer spannenden Figur, nicht nur einen Deppen. Es nur dem Deppen ins Bühnenleben zu legen, ist m.E. Knallchargentum. Is okay, wird aber sehr schnell vorhersehbar und damit langweilig.
Wenn ich heute Anne-Sophie Mutter mit einem Hammer auf die Finger kloppe, kann ich dann deswegen morgen besser Geige spielen?