"Das Vermächtnis" vom Residenztheater München - Der Shorty zum Gastspiel beim Theatertreffen 2023
Liebe, Sex, Verlorenheit
13. Mai 2023. Der erste Abend beim Theatertreffen und der Broadway winkt. Philipp Stölzl hat am Münchner Resi Matthew Lopez' preisüberhäuftes "Vermächtnis" zum Publikumshit gemacht. Beim TT gibt's sieben Stunden lang Schauspielertheater über das schwule Leben, Lieben, Leiden in New York. Und am Ende stehen alle.
Von Christian Rakow
13. Mai 2023. Abende mit über fünf Stunden Dauer waren beim Theatertreffen in jüngerer Zeit schon eher exzessive Grenzgänge (von Vinge/Müllers Borkman über Castorfs Faust bis Rüpings Dionysos Stadt). Da ist das siebenstündige "Vermächtnis" aus München anders.
Zarter Realismus
Um die Grundfeste der Schauspielkunst muss man sich hier nicht sorgen, um die Fundamente der Vierten Wand ebenso wenig. Alles ist auf zarten Realismus getrimmt. Dass Thiemo Strutzenberger als leicht introvertierter Thirtysomething Eric mitunter seine Arme krampfhaft verdreht wie der große Michael Stipe von REM, oder dass der junge Vincent zur Linden als Stricher Leo verschüchtert und nervös mit den Augen zuckt, sobald er angeschaut wird, ist das Höchstmaß an performativer Exzentrik. Die sieben Stunden (inklusive dreier Pausen) bieten Schauspieldiskretion pur.
Und darin sind sie fesselnd, mindestens eine Hälfte lang. Da entfaltet sich die Liebesgeschichte um die beiden New Yorker Bohemians Eric und Toby (Moritz Treuenfels) samt ihren zahlreichen Trabanten. Und es spannt sich das Panorama schwuler Kulturhistorie von den Zeiten E.M. Forsters (der Matthew Lopez' Drama "Das Vermächtnis" Pate stand) über die HIV-Jahre bis ins Amerika unter Donald Trump. Couchszenen, Partyszenen, Liebe, Sex, Verlassenheit, Verlorenheit – alles behutsam gezeichnet und von den Rändern des Geschehens her mit ironischen Erzählerpassagen aufgelockert. Und ja, das Resi-Ensemble brilliert, wählt einen sehnenden, träumerischen Ton, findet mit Regisseur Philipp Stölzl eine berührende Emotionalität im Midtempo.
Aber nach gut drei Stunden ist Lopez' Geschichte eigentlich auserzählt, verliert sich ans Melodrama, wird schließlich immer narrativer und auch zäher. Das Stück hat ja das Label "Netflix-Theater" verpasst bekommen. Aber beim Sender hätten die Producer den Autor wohl nochmal zum Kürzen beordert. Und Stölzl holt nicht nach, was versäumt wurde. Kill your darlings no more.
Verschwende Dein Leben
Den Weg zu Netflix hat beim Theatertreffen Simon Stone geebnet und dabei auf eigentümliche Weise den Broadway-Realismus mit dem deutschen Performerstil verschnitten (mit Leuten wie Martin Wuttke und Caroline Peters). Verglichen damit ist "Das Vermächtnis" schon eher Broadway in Reinkultur, well made, an den besten Stellen klingt's wie bei Oscar Wilde: "New York ist der perfekte Ort, um seine Zeit zu verschwenden und trotzdem seine Würde zu bewahren." Sinnfälligerweise wird der "deutsche Expressionismus" im Stück sogar mal en passant gebasht. Auf die Pauke hauen ist nicht!
Und warum auch nicht. In den letzten Tagen liefen ja wieder die Autor:innentheatertage in Berlin, mit reichlich sperriger Textflächenkunst, viel Proklamation und wenig Geheimnis. Da tun sieben Stunden, in denen Figuren sich etwas zu sagen haben oder einander ein Rätsel sein dürfen, schon sehr gut. Am Schluss des Abends gab's Standing Ovations vom Saal, und alle, die in den Pausen im Foyer gemurrt haben (es waren nicht wenige), mussten mit aufstehen, denn sonst hätten sie das Team bei der Applausordnung gar nicht zu Gesicht bekommen.
Hier geht es zur Nachtkritik der Premiere am Münchner Residenztheater, hier zur unserer TT-Festivalübersicht.
Täglich Neues vom Berliner Theatertreffen gibt es in unserem Theatertreffen-Liveblog.
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