Vivisektion des Verführbaren

23. Mai 2023. Von der Anfälligkeit religös grundierter Provinzmilieus für totalitäre Ideologien wie den Nationalsozialismus handelt der Roman "Die Eingeborenen von Maria Blut" von Maria Lazar aus den 1930ern, den Lucia Bihler und ihr Team wiederentdeckt haben. Das Gastspiel beim Theatertreffen wurde bejubelt. 

Von Elena Philipp

"Die Eingeborenen von Maria Blut" von Maria Lazar vom Wiener Burgtheater © Susanne Hassler-Smith 

23. Mai 2023. Böse mechanisiert ist dieser Abstieg einer Dorfbevölkerung. Keine Konservenfabrik mehr, dafür Not: Sonntags essen die Einheimischen jetzt fleischlos. Nur die Reindl Mitzi kann es sich leisten, mehrmals im Jahr Geburtstag zu feiern. Mit einem schönen braunen Kuchen. Gallenbitter soll er ihr schmecken.

Ihren Roman "Die Eingeborenen von Maria Blut" hat die wiederentdeckte österreichische Autorin Maria Lazar 1935 fertig geschrieben, im dänischen Exil. Der Aufstieg der Nationalsozialisten und parallel des Austrofaschismus war im Gange. Wer sehen wollte, konnte es sehen. An ihrer Dorfgemeinschaft – katholisch gläubig, böswillig vertratscht und leicht verführbar – exerziert Lazar klarsichtig durch, wohin die Massen damals marschierten.

Weltumspannende Gefolgschaft

In Lucia Bihlers Inszenierung verführt die arisch blonde Reindl Mitzi (Stefanie Dvorak) den stotternden Kellner Vinzenz (Jonas Hackmann) zum Faschismus. Er phantasiert von einer weltumspannenden Gefolgschaft und seiner strahlenden Erwähltheit. Als die gen Schluss die zuvor mit porzellanenem, stoisch verquältem Gesichtsausdruck über der Szene wachende, portalhohe Madonna (Bühne: Jessica Rockstroh) sang- und klanglos von den Bühnentechnikern abgeräumt ist, stellt sich Vinzenz auf ihr glühlampenleuchtendes Jahrmarktspodest und probt eine Ansprache.

Von einem puppenköpfigen Gehilfen wird er zum Spieldosenklang der deutschen Nationalhymne aka Österreichischen Kaiserhymne im Kreis gedreht, wobei sein rechter Arm sich immer mehr gen Hitlergruß hebt. Und dann knallt das Fräulein Reindl ihn ab: Vinzenz ist kein Führer, sondern nur ein größenwahnsinnig phantasierender – ja, was: Untermensch? Unterprivilegierter? Eine Figur jedenfalls, die in der Tradition unterkomplexer Nazi-Darstellungen dem Verführbaren einen körperlichen Makel beigibt, welcher seinen Hass erklären soll, aber letztlich von dem Fakt entlastet, dass Menschen auch ohne Grund menschenverachtend denken und handeln.*

Janker aus Schlachthausplastik

Stereotype Figuren sind in der Inszenierung auf ihr jeweiliges Gleis gesetzt. Ästhetisch ist diese chronologische Reihung kurzer szenischer Schlaglichter interessant. Wie ein Blitzlicht in der Fotografie leuchtet der Glühlampen-Rahmen um die Bühne auf, tiefe Schwärze, dann wird die nächste Runde eingeläutet. Unglaublich gute Sprecher:innen sind die Burg-Schauspieler:innen, die hier mit Standard-Puppenkopf die sanft säuselnden, verleumderischen "Eingeborenen" mimen, rasant die Rollen wechseln und über ihr Einheitsdress die platinblonden Perücken und abstrahierten Schürzen, Lederhosen, Janker aus Schlachthaus-Plastik stülpen.

Böse geht es zu in Maria Blut. Mitgefühl ist unbekannt. Doktor Lohmann (Philipp Hauß) ist die einzige Figur, der in Lazars Set-up ein gewisser Handlungsspielraum belassen wird. Aber er stellt sich hilflos. Was soll man machen, fragt er seine mondäne Wiener Geliebte Alice (Lili Winderlich), die wie eine Varieté-Darstellerin aus dem Schnürboden schwebt. Sich wehren, rät sie. "Aber wie? Stooopp", schreit er erst, als der von Fräulein Reindls Gehilfen abgeführte Rechtsanwalt Meyer-Löw (Dorothee Hartinger) bereits außer Hörweite ist. Und am Schluss fabuliert er von seiner Aufgabe, die nicht Verrohten zu organisieren – sitzt aber fluchtwillig im Zug gen Grenze.

Spieluhr-Dramaturgie 

Lohmann ist ein Mensch mit einem gewissen Gewissen und einer alltäglichen, gar nicht mal kleinen Schlechtigkeit.
In der Spieluhr-Dramaturgie schnurrt das alles dem bösen Ende entgegen, auch wenn dieses jenseits der Inszenierung liegt. An Maria Lazars Vivisektion der damaligen Gesellschaft ist interessant, dass der Führerglaube der "Eingeborenen von Maria Blut" als eine anstrengungslose Lösung für die allfälligen sozialen Probleme erscheint. Verführerisch ist es, diese Analyse einer spezifischen historischen Konstellation als überzeitliche Zwangsläufigkeit zu verstehen: Wachsen die sozialen Spannungen, gewinnen rechte Kräfte. Gibt es keinen Zusammenhalt über Milieus und Interessengruppen hinweg, erstarken sie auch. Da wünscht man sich glatt eine Gegenerzählung, die ohne messianische Elemente auskommt, aber sozialen Bewegungen eine verändernde Macht zugesteht – weniger Kommunismus, mehr Solidarność.

* Danke an Falk Lörcher, der im Gespräch nach dem Berliner Theatertreffen-Gastspiel auf das Cripping-up bei der Figur des Vinzenz hinwies.

Hier geht es zur Nachtkritik der Premiere am Burgtheater Wien im Januar 2023, hier zu unserer TT-Festivalübersicht.

Täglich Neues vom Berliner Theatertreffen gibt es in unserem Theatertreffen-Liveblog.

Kommentar schreiben