Universelle Unentschiedenheit

29. Mai 2023. Als letzte der zehn von der Jury ausgewählten Produktionen feierte "Hamlet" vom Anhaltischen Theater Dessau Theatertreffen-Premiere. Mit Open End, angeregten Foyergesprächen und Applaus als Erlösung aus dem Loop.

Von Christine Wahl

Sebastian Graf, Roman Weltzien, Stephan Korves, Cara-Maria Nagler und Boris Malré © Claudia Heysel

29. Mai 2023. "Sein oder Nichtsein": Die wichtigste Vokabel in Philipp Preuss' "Hamlet"-Inszenierung vom Anhaltischen Theater Dessau ist die Konjunktion. "Oder, oder, oder, oder…" hallt es am Ende des Abends immer wieder durch den Zuschauerraum des Festspielhauses. Oder – ist es vielmehr der Anfang? 

Wie real ist der Loop?

Sehr auffassungsbegabte (oder besonders gut vor-informierte) Zuschauerinnen und Zuschauer stehen sofort auf und streben zielsicher in Richtung Foyer-Bar, als nach ungefähr zwei Stunden alles wieder von vorn beginnt. Als Niklas Herzberg und Felix Axel Preißler sich also als existenzphilosophierendes Dänenprinzen-Duo einführen an einem Tisch, der sich – nach Öffnung des eisernen Vorhangs hinter ihnen – nurmehr als Stirnseite einer gefühlte hundert Meter in die Bühnentiefe reichenden Tafel erweisen wird, an deren anderem Ende Hamlets Onkel, der neue König, beim Leichenschmaus nach dem mysteriösen Ableben des alten Hof hält, die Entourage inklusive. Stephan Korves spielt diesen Claudius wunderbar staatsoberhauptreden-routiniert. 

Der Großteil des Publikums bleibt aber sitzen, trotz mittlerweile geöffneter Saaltüren, und lässt sich freudig auf das Interaktionsspielangebot ein. Das liebt man doch, wenn der Decodierungsehrgeiz getriggert wird! Bis zu welchem Punkt ziehen sie diese zweite Runde wohl durch? Muss man – was hier und da, allerdings sehr vereinzelt und möglicherweise ja nur deshalb erfolglos, versucht wird – einfach penetrant genug klatschen, um diesen Loop zu beenden? Oder spielen sie tatsächlich so lange, bis der oder die Letzte den Zuschauerraum verlassen hat? Dieses Gerücht macht vornehmlich draußen an der Bar die Runde – gespickt mit Theater-Erinnerungen, die sich aus ähnlichen Tiefen ins Bewusstsein schieben wie König Claudius und Co. auf der Festtafel-Bühne von hinten an die Rampe: Wie war das doch gleich bei dieser Jonathan-Meese-Endlos-Performance anno dazumal in der Berliner Volksbühne? Womit ging die noch mal zu Ende – und wie hieß sie eigentlich? 

Hamlets Text gehört allen

Aber: Nein, sie reizen es nicht aus, die Dessauer – nach einer knappen halben Stunde des zweiten Durchgangs beginnen erste Ensemblemitglieder, sich in zombiehafter Zeitlupe zum Applaus in Richtung Rampe zu bewegen. Gut so, denn die Chance zum Beifall, um den sie sich im Falle eiserner Konsequenz ja gebracht hätten, ergreift man sehr gern bei dieser originellen "Hamlet"-Variante, die das Anhaltische Theater zum Abschluss des Berliner Theatertreffens zeigt. Die Unentschiedenheit – die, wenn man so will, Schizophrenie – des Protagonisten findet sich hier gleichermaßen universalisiert und potenziert: Der Doppelgänger ist an diesem Abend ebenso Programm wie das Déjà-vu. Hinter Hamlets Angebeteter Ophelia (Cara-Maria Nagler) verbirgt sich gleichzeitig seine Mutter Gertrud und umgekehrt. Und sie ist auch bei weitem nicht die einzige, die sich kurzerhand Textpassagen greift, die Shakespeare eigentlich dem Protagonisten zugedacht hat. Hamlets ruhmreicher Monolog über "Sein oder Nichtsein" wird ohnehin zur kollektiven Angelegenheit, und dass auch – oder vielleicht sogar: vor allem – der Geist hier aus allen spricht, ist eh klar. 

Lässt sich nicht an Netflix und Kino messen

Ist das Wahnsinn – oder hat es also Methode? Gebiert Hamlets Kopf all diese Zombies, oder schauen wir hier auf eine Art Geschichtshölle, in der – anstelle des nicht gespielten Schlusses – sich einfach alles immer wiederholt, mit minimalen Verschiebungen? Die Foyer-Diskussionen gestalten sich nicht nur über diese Frage äußerst angeregt.

Das Dessauer Theater beschließt das 60. Theatertreffen mit einem der interessantesten Regie-Zugriffe der diesjährigen Auswahl: Mit einem Abend, der sich – genau umgekehrt zur Auftaktproduktion "Das Vermächtnis" und einigen anderen Beiträgen dieses Jahrgangs – nicht an Netflix und Kino messen lassen will und neben Florentina Holzingers "Ophelia`s got Talent" und Rieke Süßkows Handke-Inszenierung "Zwiegespräch" für mich zu den konzeptionellen Highlights der diesjährigen Auswahl gehört. 

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Kommentare  
Hamlet, TT 2023: Zwingend gearbeitet
Hamlet vereinzelt und verdoppelt sich, spricht als Individuum und als zweistimmiger Chor, mit andern und mit sich. Er internalisiert andere Figuren, Horatio etwa, der sich wieder abspaltet und selbst zu Hamlet wird. Gertrud kommt auf der Tafel entlang, wandelt sich zu Ophelia und spricht plötzlich Worte Hamlets. Die Figuren und Identitäten fluktuieren ebenso wie der Raum, der sich ständig wandelt. Multiple Vorhänge gehen zu und auf, fahren hoch und runter, verkleinern, vergrößern, vervielfachen den Raum, der sich am Bühnenrand auch noch als Miniaturmodell findet. Alles ist im Fluss: Raum, Zeit, Stimmen, Identitäten. Und der Text, die Szenen, die „Handlung“, das Spiel: Werden zu Beginn einzelne Worte wiederholt, sind es bald Monologe, Dialoge, Szenenfragmente – und am Ende das Stück als Ganzes. Gerade hat das Ensemble noch die Totengräberszene durchgespielt, schon ist die Zeit ganz aus den Fugen, werden aus den Toten untote Wiedergänger. Die kurze Zeit zwischen Verwitwung und Wiederheirat der Königin bläht sich auf: Am Ende sind es 315.000 Jahre. Eile wird zum leeren Wort weil Zeit eine leere Hülse ist. Wo nichts weitergeht, sich alles wiederholt, löst sie sich im Kreislauf auf.

Und so sind wir plötzlich wieder am Anfang. Die Tischdecke ist verschwunden, sonst wiederholt sich alles. Die Saaltüren gehen auf, in Scharen verlassen Zuschauende den Saal, wiederholt versuchen sie den Endlosschleife durch Klatschen zu beenden. Doch trotzig, störrisch spielen sie weiter, spulen sie die Rituale ab, die Identitätssimulationen, die Machtspielmechaniken, die Kommunikationsmittelskelette. Hier ist alles seiner Bedeutung entledigt, schnurrt die Maschinerie als Selbstzweck weiter. Irgendwannn schlurfen Ensemble und Team wie Untote zur Rampe, doch im Hintergrund geht das „Spiel“ weiter, verfolgt das Publikum noch im Foyer. Nichts endet, weil nichts (mehr) beginnt. Gesellschaft als Leerlauf, als sich selbst bespukende Routine, leblos und blutleer, Selbstzweck, der nur noch der Aufrechterhaltung des Weiter-so dient.

Das ist (über weite Strecken) spannend, anregend, äußerst präzise gearbeitet, stringent durchgeführt. Aber eben auch etwas vorhersehbar. Nicht nur legt der Abend die Marionettenfäden seines Sujets offen – auch sein eigenes Getriebe ist ein wenig zu transparent. Die Eskalation seine Wiederholungsprinzips ist schnell durchschaut, die gewollte Provokation des Neuanfangs verpufft so ein wenig, weil sie nicht überrascht. Und so tappt der Abend – so intelligent und ästhetisch zwingend er auch gearbeitet ist, nicht zuletzt in seiner Verzahnung von Zeit, Raum, Spiel, Text und Charakterisierung – letztlich auch ein wenig in die selbst gestellte Falle, wird er zum Beispiel dessen, was er thematisiert und schmeckt am Schluss wie ein etwas zu langsam getrunkenes Bier: durchaus würzig, aber doch etwas schal.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2023/05/29/was-fur-rituale/
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