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26. Mai 2023. Figuren im Ego-Käfig, eingezogene Schultern, weggeschnuschelte Begehrlichkeiten, Rücken zum Publikum. Mateja Koležnik bringt radikal unterspielten Realismus aus Bochum zum Berliner Theatertreffen. Und polarisiert.

Von Stephanie Drees

"Kinder der Sonne" vom Schauspielhaus Bochum zu Gast beim Berliner Theatertreffen © Matthias Horn

26. Mai 2023. Nach dem Ende der Vorstellung, nach dem (üppigen) Applaus ist die Schlange an der Bar lang und manche Diskussion heiß. Eine kleine Gruppe steht direkt vor mir. Einige kommen schnell zur Sache. "Das Stück ist super. Was für Dialoge!" Aber diese Inszenierung? "Da transportiert sich so wenig, die bleiben so für sich. Das hat mich schon ein bisschen abgefuckt."

Ach, ach. So ist das ja eigentlich auch mit dem Personal in Maxim Gorkis "Kinder der Sonne": Es ist selbst ein bisschen abgefuckt. Viele kleine Ich-Planeten begegnen sich da im Hause des Wissenschaftlers Pawel Protassow, sie prallen aufeinander, voneinander ab. Sie kreisen um sich selbst, verliebt in die eigenen kleinen Begehrlichkeiten, in das eigene Leiden am kleinen Alltag. Ideenbesessen, mit Wissenschafts- und Kunstfetisch beschwören sie eine neue, bessere Welt herauf. Hedonistisch und somnambul egozentrisch – und doch nicht unsympathisch. Menschen eben. Gorki entwarf 1905 diese Bestandsaufnahme von privilegierten russischen Elfenbeintürmlern an der Klippe. In einer Zeit der Revolution.

Puppenstube des Realismus

Von Zeitmaschinen-Theater war im Zusammenhang mit Mateja Koležniks Inszenierung des Stoffs viel die Rede. Und damit ist weniger der diskrete Umzug in die 1960er Jahre gemeint, in denen diese Sonnenkinder leben, als ein fast anachronistischer Aufgang-Abgang-Realismus in einer dunkel schillernden Behausung zwischen elitärem Wohnidyll und klaustrophobischer Puppenstube. Draußen tobt die Cholera, eine Revolution bahnt sich ihren Weg (die hat aber mit der von ’68 nichts zu tun – und auch sonst drängt sich hier der Eindruck auf, dass das mit den Sixties eher eine ästhetische Entscheidung war, der Look ist halt très chic). Es werden Stimmen aus dem "Volk" laut, dass Wissenschaftler sich die pandemische Seuche nur ausgedacht haben – als Unterdrückungsinstrument. Das war es aber dann auch mit den Jetztzeit-Anklängen.

Zitterndes Orakel

Hier also trotten die ergebenen Dienstboten mit versteinerter Miene (gut in ihrer stoischen Konsequenz: Karin Moog), mit vorgezogenen Schultern, runtergeschlucktem Trotz und verspannten Gliedmaßen durch die hermetische Home-Sweet-Home-Kulisse, schenken Tee nach, während die Herrschaften sich ihren kleinen Scharmützeln hingeben. Der Hausherr-Wissenschaftler – in nerdiger Lebensverwirrtheit schön getimt von Guy Clemens – ist auf der Suche nach dem Geheimnis des Lebens und widmet sich seiner synthetischen Eiweißgewinnung, während Ehefrau Jelena aus Langeweile mit dem Künstler-Heini Wagin "Filme dreht", viel palavert, sich über gewaltvolle Handwerker im Hause mokiert und die Gelüste mit der Möchtergern-Nebenbuhlerin Melanija im Gespräch von Frau zu Frau klärt. Wie ein Lebend-Orakel, als zitterndes Zentrum dieses Abends, läuft Pawels Schwester Lisa durch die Szenerie. Traumatisiert ist sie von blutigen Straßenschlachten. Anne Rietmeijer spielt sie als psychisch labiles und hellsichtiges Wrack.

Maximale Hermetik

Überhaupt: Spielen können hier alle, darüber ist im Zuge der Theatertreffen-Einladung viel gesagt worden – und das stimmt. Aber: Sie spielen für sich, wie hinter einer unsichtbaren Scheibe. Sie brauchen uns, das Publikum, nicht. Mitunter sprechen diese Schauspieler:innen, die so klar artikulieren können, bis zur Unverständlichkeit in sich hinein, die Körper einander zugewandt. Dass hermetische Dasein dieser Mini-Gesellschaft ist Programm, soweit klar – aber Form und Inhalt gehen hier eine schwierige, weil allzu enge Verbindung ein. So sehen wir knapp zwei meditative Stunden lang Menschen beim menscheln zu. Als die Hütten vor der Hütte dann richtig brennen, ist's auch nicht allzu schlimm: Leise und vornehm abgefuckt geht diese Gesellschaft zugrunde.

Hier geht es zur Nachtkritik der Premiere am Schauspielhaus Bochum im Oktober 2022, hier zu unserer TT-Festivalübersicht.

Täglich Neues vom Berliner Theatertreffen gibt es in unserem Theatertreffen-Liveblog.

 

 

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Kinder der Sonne, TT 2023: Atemberaubende Konsequenz
Türen öffnen und schließen sich, Auf- und Abgänge überlappen, Grüppchen bilden sich und fallen sogleich wieder auseinander, im Kommen ist der Drang zu gehen, stets in Begriffen, die Sehnsucht nach dem Off, dem Zufluchtsort außerhalb der Blicker der Anderen, inklusive des Publikums. Sie verbarrikadieren sich in sich selbst, so wie sie am Ende versuchen, das Haus abzuschotten, als der Mob, aufgestachelt von antiintellektuellen Verschwörungserzählungen selbiges stürmen will. Familie, Freundeskreise, Arbeitsverhältnisse, Gesellschaft: Sie alle sind unrettbar zerrüttet, niemand weiß mit den Anderen wirklich etwas anzufangen, die Angst vor dem Außen ist unüberbrückbar. Eine Welt, die sich überholt hat, die zerfallen ist ohne Aussicht auf etwas, das danach kommen kann, eine Gesellschaft in der Sackgasse. In der alle ihre Eigeninteresse gegen die anderen ausspielen, bis sie sich selbst sabotieren.

Koležnik und ihrem Ensemble gelingt es, diese hochpräzise Versuchsanordung mit atemberaubender Konsequenz auszuspielen. Parallelen zu den Kriesen und den sie ausnutzenden Demagoge der Gegenwart, zu einer zunehmend gelähmt und nicht entwicklungsfähig erscheinenden sogenannten gesellschaftlichen Mitte mögen sich in den Zusehenden entfalten, auch wenn der abend sie nicht explizit macht. Doch mit seiner aus der Zeit gefalle zu scheinenden Ästhetik und Erzählweise gewinnt er etwas Universelles und darin sehr Konkretes. Die Figuren kommen unbequem nah, auch wenn sie fremd und ungreifbar erscheinen. Sie setzen Widerhaken, die sich in die Erfahrungen des Publikums krallen, in sein Welt- und Wirklichkeitserleben. In das dunpfe Gefühl, dass alles „da draußen“, dass die Welt, das eigene Glücksstreben, die Rücksichtnahme auf andere „irgendwie stören“. Heutiger kann es kaum noch werden.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2023/05/26/sie-storen-mich-irgendwie/
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