Was bleibt?

30. Mai 2023. Das 60. Theatertreffen ist zu Ende gegangen. Die Medien ziehen Bilanz – und die fällt teils verheerend aus. Unsere ist milder gestimmt. Außerdem wurde der Alfred-Kerr-Darstellerpreis verliehen. Ein Politikum?

Unser Liveblog

Zentralspielstätte des Berliner Theatertreffens: das Haus der Berliner Festspiele © Adam Janisch / Berliner Festspiele

30. Mai 2023. Die Ereignisse beim Berliner Theatertreffen werden fortlaufend dokumentiert, mit den neuesten Geschehnissen gleich oben.

30. Mai 2023 – Was bleibt?

Das war also das 60. Theatertreffen. Aber was war? Wenn man sich das Hauptprogramm der zehn "bemerkenswerten" Inszenierungen anschaut, doch eine Menge. Kaum eine Strömung des gegenwärtigen Theaters, die nicht berücksichtigt worden wäre: realismussattes Erzähltheater ("Das Vermächtnis", "Kinder der Sonne"), zaubrische Verwandlungsfeier ("Ein Sommernachtstraum"), Neue-Dramatik-Feminismus ("Nora") und Freie-Szene-Repräsentationskritik meets Stadttheater ("Der Bus nach Dachau"). Daneben mal mehr, mal weniger diskursunterfüttertes Bildertheater: das (diesmal sanfte) Schattenrauschen eines Sebastian Hartmann ("Der Eigene und sein Eigentum"), das hochenergetische, choreografische, Revue und roten Faden Verbindende einer Florentina Holzinger ("Ophelia’s Got Talent"), das die Ränge leerspielende Rätselbildtheater eines Philipp Preuss (Gebrüll und Pipimann inklusive: "Hamlet"). Aber auch die übliche Regietheaterkonstellation, in der große Bilder Stoffe illustrieren, konterkarieren und mitunter degradieren ("Die Eingeborenen von Maria Blut", "Zwiegespräch"). Dass nicht alles zündete – geschenkt.

Was bleibt? Die Vielfalt, die Bandbreite. Anders als in Vorjahren gab’s nicht den einen Publikumshit (was vielleicht auch daran lag, dass "Ophelia’s Got Talent" den Berliner*innen schon bekannt war), dafür mehrere Produktionen, in denen ein Großteil der Zuschauer*innen gegen die mäkelige Kritik aufstand und einen Erfolg geradezu herbeijubelte (im "Vermächtnis" etwa und im "Sommernachtstraum"). Bei der Juryschlussdebatte wurde – etwa von den Forums- und Blogteilnehmerinnen – politische Haltung vermisst, auch Zugänglichkeit und Diversität. Aber ist der Agitprop des Rahmenprogramms die Lösung? Waren "Ophelia" nicht divers, "Nora", "Kinder der Sonne", "Der Bus nach Dachau" nicht politisch (selbst wenn Botschaft und Form nicht immer zusammengingen oder zu platt gerieten)? Und was ist verkehrt daran, sich im Theater für zwei, drei Stunden (oder mehr) aus der Gegenwart entführen zu lassen und danach mit neu sensibilisierter Sensorik in die Realität zurückzukehren? Von derartigen Anregungen, packenden Bildern, Schauspielnuancen war das Theatertreffen 2023 reich. Und das ist gar nicht so wenig.

(geka)

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Hier finden Sie den Mitschnitt der Jury-Abschlussdiskussion, die dieses Jahr sehr lebhaft und kontrovers die Prinzipien der Auswahl und die eingeladenen Stücke diskutierte, den Elitismus-Vorwurf ans Festival spiegelte und Fragen nach Diversität und Offenheit beleuchtete.

Vertreter:innen des Internationalen Forums haben ihre Einwände gegen das Festival und vor allem die Zehner-Auswahl noch einmal für den Theatertreffen Blog niedergeschrieben, hier unsere Zusammenfassung.

 

Verzweifelt naiv, nachhaltig suchend

Ja, das Theatertreffen ist zu Ende und die Bilanzen fallen mäßig bis verheerend aus. "Eine schwache Jury-Auswahl und ein fragwürdiges Zusatzprogramm: Das Festival deutschsprachiger Bühnen lahmt bedenklich", schreibt Rüdiger Schaper im Berliner Tagesspiegel. Besonders fatal findet Schaper, dass das Festival sich mit seinem Begleitprogramm quasi selbst das Misstrauen ausgesprochen hat.

Einen "desolaten Eindruck" gibt mit Blick auf das Begleitprogramm Fabian Wallmeier auf rbb24 in seiner Festivalbilanz zu Protokoll. "Statt künstlerischer Qualitäten schienen bei Einladungen für beispielsweise die halbfertige Nummernrevue 'Bunker Cabaret' aus der Ukraine oder den brav didaktischen Multimedia-Vortrag 'Cyber Elf' (über russische Netz-Propaganda) eher politische oder gar karitative Kriterien den Ausschlag gegeben zu haben." Und vom "Umrahmen, Umgarnen und Umarmen" der Zehner-Auswahl, wie das Programm angekündigt worden sei, war aus Wallmeiers Sicht keine Spur zu sehen.

Schlechte Noten von Wallmeier auch für das neue Leitungsteam: "Schon bei der Eröffnung fielen Intendant Matthias Pees und den drei Theatertreffen-Chefinnen Olena Apchel, Carolin Hochleichter und Joanna Nuckowska nicht viel mehr als Dank an das Team und das Verlesen vieler Namen von Beteiligten ein. Wohin das erste Theatertreffen unter ihrer Leitung programmatisch will, wie sie selbst zum Theater der Gegenwart stehen: Zu all dem kein Wort. Was bedeutet nun diese zur Schau gestellte programmatische Orientierungslosigkeit für die Zukunft des Theatertreffens? Kommt jetzt die Internationalisierung und grundsätzliche Infragestellung der Zehner-Auswahl, die das Leitungs-Team zuvor wolkig angedeutet, aber in diesem Jahr dann doch nicht umgesetzt hatte? Das wäre bemerkenswert kurzsichtig."

Einen gute Eindruck hat die Zehner-Auswahl dagegen bei Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung hinterlassen: Von unerfreulichen Ausnahmen abgesehen scheine "die verrätselte Konzeptkunst-Hermetik, die das Festival im vergangenen Jahr über weite Strecken zu einer Trendstreber- und Insider-Angelegenheit gemacht hatte, für's Erste abgehakt", schreibt er in seinem Resümee. "Nimmt man diese Theatertreffen-Ausgabe als Gradmesser, zielen die Bühnen mit großen Geschichten und kraftvollem Schauspieler-Theater energisch auf ein breiteres Publikum – wohl auch, um nach dem Pandemie-Einbruch ihre Zuschauer von Netflix zu entwöhnen und für das Theater zurückzugewinnen." Von keinem brillanten, jedoch "anhaltenden, suchenden Theaterjahrgang" spricht Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung.

Im nd schreibt Erik Zielke sich seinen TT-Frust von der Seele, "über nervtötendes Neohippietum im Haus der Berliner Festspiele, moralische Selbstüberhöhung und darüber, dass man hier wohl keinen überzeugenden – oder auch nur präzisen – Begriff davon hat, was Kunst, Politik oder politische Kunst eigentlich sind". Kriterien etwa für die Auswahl von Gastspielen jenseits der 10er-Auswahl und die Einladung zu Podiumsdiskussionen wurden aus seiner Sicht nicht verständlich gemacht. "Das Agieren des Leitungsteams wirkt entsprechend selbstherrlich." Dass man gar keine ästhetischen Fragen zu stellen bereit sei, spricht für diesen Kritiker Bände. "Für ein paar Tage blickt die Theaterwelt auf Berlin, und dort tut man so, als würde man mit Podiumsdiskussionen die Welt retten. Der Versuch erweckt aber einen so verzweifelt naiven Charakter, als lüde man dazu ein, 'regionale Pflanzen' zum Festspielhaus zu tragen, um so den Klimawandel aufzuhalten." Der vulgärpolitische Ansatz in dieser "marktschreierischen Ausgestaltung" verkenne, dass der politische Impetus von Theater ein anderer sei.

(sle)

 

29. Mai 2023 - Gorki, Kerr und die Dekolonisierung

Dass mit Dominik Dos-Reis (Jahrgang 1993) nun ausgerechnet ein Spieler aus "Kinder der Sonne" den diesjährigen Alfred-Kerr-Darstellerpreis bekam, kann durchaus als Politikum gelten, stand dieses Theatertreffen doch stark unter der Frage, ob und wie gegenwärtige Katastrophen wie der aktuelle russische Angriffskrieg gegen die Ukraine in diesem bedeutendsten deutschsprachigen Theaterfestival sich niederschlagen könnten und sollten. Ob so bürgerliches Theater angesichts des Zustands dieser Welt nicht per se ein Ding der Unmöglichkeit ist.

GeorgeAlfredKerr sleGeorge Alfred Kerr, der Urenkel des Kritikers Alfred Kerr, bei der Preisverleihung in Berlin © nachtkritik/sle

Es war ja im Vorfeld des Bochumer Gastspiels sogar befürchtet worden, es könne aktivistische Aktionen geben, um die Aufführung zu verhindern, gilt Gorki doch als einer der Protagonisten, die in aktuellen, speziell ukrainischen Künstler*innen geführten und geforderten Dekolonialisierungsdebatten eine besondere Reizfigur ist. Auch der psychologische Schauspielstil, den Dominik Dos-Reis so virtuos beherrscht, ist sehr untrennbar mit dem Namen Konstantin Stanislawski verbunden, der natürlich nichts dafür kann, dass der von ihm erfundene Schauspielstil in der Sowjetunion state of the art war. Doch spätestens jetzt, wo hier die Gräben nun so weit auseinanderklaffen, ohne dass im Kontext dieses bedeutenden Festivals ein einziges Wort darüber gesprochen wird, wird ziemlich deutlich, wie wichtig im Kontext des diesjährigen Theatertreffens zumindest eine öffentliche Debatte gewesen wäre, die alle offenen Fragen einmal verhandelt hätte - insbesondere das Thema Dekolonisierung einmal differenziert zu diskutieren, statt stumm die zehn Treffen der Zehnerauswahl gegenüberzustellen. Und dann kam eben heute das elfte Treffen – ungebeten, wie die dreizehnte Fee im Märchen vom Dornröschen – die heutige Verleihung des Kerr-Darsteller-Preises eben, wo die Elefanten im Raum dann numerisch gar nicht mehr erfasst werden konnten.

Diese Kerr-Preisverleihung war ja schon immer etwas, das dieses Theaterfestival auch aushalten musste. Egal, welche Moden und Diskurse die jeweiligen Ausgaben des Theatertreffens brandnew verhandelten: hier trafen die Debatten auf den enormen Resonanzraum der Geschichte. Erstens der Brüche der deutschen Geschichte, die am Schicksal eines ihrer berühmtesten Theaterkritiker sich spiegelt: Alfred Kerr eben, der Deutschland 1933 verlassen musste und dessen Nachkommen heute Bürger*innen Großbritanniens sind. Kerrs vierundzwanzigjähriger Urenkel, George Afred Kerr, Absolvent der Universität Oxford, vertrat jetzt die Familie in Berlin und hielt ein kurzes Grußwort.

Aber dann spiegelt diese Preisverleihung auch stets die Theatergeschichte der Nachkriegszeit, deren Blüte auch das Theatertreffen in seiner Gründungsabsicht nach dem Mauerbau ist, Berlin als zentralen Ort des deutschsprachigen Theaters auch weiterhin zu behaupten – dezidiert auch gegen die benachbarte, sowjetisch beherrschte DDR, in deren Hauptstadt Berlin ja viele der berühmtesten Theater nun lagen. Ein wenig scheint der antisowjetische Diskurs ja nun zurückgekehrt zu sein. Noch mal Gesprächsbedarf. Der aber vom Festival nachhaltig verweigert wurde.

Bei diesen Kerr-Preisverleihungen treten traditionell dann immer auch die Größen der Vergangenheit gegen die Protagonist*innen der Gegenwart an. Dagegen können die Vertreter*innen der Gegenwart plötzlich ziemlich alt aussehen. Was den Vertreter*innen naturgemäß nicht gefallen kann, und dieser Termin daher immer mal wieder nur mit spitzen Fingern in den Spielplan des Theatertreffens gelangt. Dabei ist das immer ein wirklich denkwürdiger Termin, an dem vieles kenntlich wird.

(sle)

 

Hamlet aus Dessau 

Das letzte Theatertreffen-Gastspiel aus Dessau "Hamlet" (in der Regie von Philipp Preuss) verstörte das Publikum mit einem radikalen Loop bzw. Wiederanfang am scheinbaren Ende und gilt Christine Wahl im Shorty als eines der "konzeptionellen Highlights der diesjährigen Auswahl".

(chr)

 

28. Mai 2023 – Zeitgenossenschaft

Gestern erlebte die vorletzte eingeladene Produktion ihre Festspiel-Premiere beim Theatertreffen: "Zwiegespräch" von Peter Handke, von Rieke Süßkow vor und hinter einem riesigen Paravent inszeniert. "Das Interessante an diesem Abend ist der Zugriff", schreibt Esther Slevogt in ihrem Shorty, aber auch, dass am Ende Handke, dessen raunender Text hier – alt gegen jung – vorgeführt werde, das letzte Wort behalte.

Und Kollegin Eva Marburg twitterte:

 

Derweil finden nicht alle das Begleitprogramm der "Treffen" so maximalkatastrophal wie die meisten Berliner Kolleg:innen (wir inklusive). So schreibt René Zipperlen in der Badischen Zeitung (25.5.2023): "Nicht alles funktioniert, aber eine Werkstatt könnte das Branchen-Weihfestspiel aufmischen". Denn: "Ohne die Auseinandersetzung darüber, was Theater in seiner Zeit sein kann und soll, kann der abgekoppelte Kern wie eine teure Hochglanzinsel wirken".

Es oblige in diesem Jahr den "Treffen", "Zeitgenossenschaft" herzustellen: "Igor Shugaleev setzt seinen Körper der Folter belarussischer Polizisten aus. Und 'FebrUaRY' vom jungen Teatr Varta aus Lviv hält niemanden auf den Sitzen, das kulissenfreie Werkstatttheater erzählt von persönlicher Verzweiflung, aber auch von erzwungener Solidarität, aus der eine Gesellschaft Hoffnung ziehen kann. Getanzte Kampfgesten zu hartem Club-Jazz wirken im postnationalen deutschen Theater so befremdlich wie die Sicherung einer 'nationalen Identität'. Beides gehört aber zur Wahrheit im Überlebenskampf der überfallenen Ukraine."

(geka)

 

Wochenende der Szenografie

"Ohne uns gibt es nichts zu sehen!" hat der Bund der Szenografie sein "Wochenende der Szenografie" überschrieben, bei dessen erstem Panel gestern die Autorin dieses kurzen Texts selbst mit auf einem Podium saß. Da ging es um die Sichtbarkeit von Szenograf:innen und Kostümbildner:innen – unter anderem in Kritiken. Da nämlich, so die Klage, würde diese zentrale Arbeit selten wahrgenommen, die Namen der Künstler:innen kaum genannt. Und entsprechend selten ihr Anteil am Gesamtprojekt gewürdigt.

Wie kommt denn das? Wollten die Künstler:innen wissen. Wie arbeitet ihr eigentlich, ihr Kritiker:innen? Und was können wir tun, damit ihr uns seht? Das etwa waren die Fragen, die natürlich so pauschal gar nicht zu beantworten waren. Denn so, wie es in der Produktion verschiedenen Arbeitsweisen gibt, in der die Zuordnung der Künste (und Künstler:innen) zueinander im Gesamtergebnis total unterschiedlich ausfallen können, sind ja auch auf die Arbeitsweisen von Kritiker:innen ganz unterschiedlich. Und das, was sie wissen oder sagen möchten, auch. Und so war das erst einmal ein Austausch, wo die Vertreter:innen der Kritik – darunter auch Georg Kasch und Till Briegleb – die eigenen Arbeits- und Sichtweisen erläuterten. Ein wenig fühlten sich alle aber auch zu dem Hinweis gedrängt, dass die Kritik kein verlängerter Arm der Öffentlichkeitsarbeit von Künstler:innen und Theatern ist. Dass Kunst und Kritik nicht in einem Boot sitzen, sondern einander gegenüber.

(sle)

 

27. Mai 2023 – Berlin schwänzen 

Gestern war noch mal premierenfrei, bevor heute mit dem Wiener "Zwiegespräch" und morgen mit dem Dessauer "Hamlet" die Schlussrunde des diesjährigen Theatertreffens eingeläutet wird. Zeit also für Grundsatzgedanken – zum Beispiel zum Thema Theater-Metropole versus "Provinz", einem Dauerbrenner-Zankapfel seit Festivalgedenken. Erik Zielke nimmt die Gegenüberstellung ganz wörtlich und hat, wie er in seinem lesenwerten Reisebericht im nd schreibt, die siebenstündige Auftakt-Inszenierung "Das Vermächtnis" geschwänzt, um sich nach den Festival-Eröffnungsreden stattdessen in den Zug beziehungsweise den Schienenersatzbus nach Dessau zu setzen, wo Philipp Preuss' "Hamlet"-Inszenierung zeitgleich auf dem Spielplan stand. Dass man sich in Sachsen-Anhalt nicht scheue, "das Spektakel parallel zur Eröffnung in Berlin zu terminieren", findet Zielke  mehr als recht und billig: "Das Theatertreffen hat sich in den vergangenen Jahren kaum je um die kleinen oder nur mittelgroßen Städte mit ihren Bühnen geschert. Warum soll Dessau nun die Hauptstadt kümmern?", fragt er rhetorisch. Und spricht für den sächsisch-anhaltinischen Dänenprinzen übrigens eine klare Theatertreffen-Besuchsempfehlung aus: "Die Nachwirkung hält länger an und überdauert gar nächtliche Zugreisen zurück nach Berlin."

Apropos Nachwirkung: Auch Mateja Koležniks Bochumer "Kinder der Sonne" hallen nach, zumindest medial. Und jenem Echo nach zu urteilen, scheint der Theatertreffen-Jury mit dieser Einladung ein astreiner Publikumspolarisierungsfall geglückt zu sein. Während Barbara Behrendt vom rbb den Abend – wiewohl "handwerklich und schauspielerisch top" in seiner  "altmodischen Ästhetik" letztlich "unglaublich harmlos" fand und sich ans "Fotoalbum der Großeltern" erinnert fühlte, schreibt Georg Kasch in der Berliner Morgenpost von einem "Wurf" mit einem "fantastischen Ensemble", weil hier "jede Rolle so genau und zugleich so zurückhaltend gespielt" werde, "dass sich ein faszinierendes Panorama" ergebe: "Kein Schicksal sticht heraus, niemand ist lächerlicher oder bedrohlicher als alle anderen."

(cwa)

 

26. Mai 2023 – Mumblecore

Also eine Intervention gegen das Gastspiel von "Kinder der Sonne" gab's nicht. Dabei vernahm man zuletzt ja doch viele aktivistische Stimmen, die es eigentlich für unredlich halten, in diesen Tagen russische Klassiker zu spielen, zumal Maxim Gorki, Leninordenträger und KPdSU-Mitglied in den 1930ern (also geraume Zeit nach Entstehen seines Dramas "Kinder der Sonne" von 1905). Alvis Hermanis verriet unlängst in einem Interview mit Esther Slevogt, dass er die Intendanz des Berliner Maxim Gorki Theaters schon Anfang der 2010er Jahre ausgeschlagen hat, eben wegen der Benennung dieses Hauses.

Apropos Alvis Hermanis: An dessen hyperrealistische "Platonow"-Inszenierung vor Jahren beim Theatertreffen konnte man sich ja ein wenig erinnert fühlen. Damals bei Hermanis (2011) waren Kämpen wie Martin Wuttke hinter einer Glaswand versteckt und murmelten sich durch ihren Tschechow. Gestern bei Mateja Koležnik und dem Ensemble vom Schauspielhaus Bochum gab's Nuscheln per Mikroport, sorgsam verstellte Sichtachsen in einem Puppenstuben-Ambiente, introvertierten Realismus to the max. "Das hat mich schon ein bisschen abgefuckt", meinten Leute im Foyer, wie Stephanie Drees im Shorty berichtet. Ovationen gab's trotzdem. Holger Syme, der bei uns eine Kleine Dosis Theatergeschichte einrichtet, brachte den schönen – vom amerikanischen Film entlehnten – Begriff des "mumblecore" ein. Murmeltheater, die Kunst des Unartikulierten.

(chr)

Preisverleihung gekaDas Bochumer Ensemble bei der Preisverleihung nach der Aufführung © geka


Nach "Kinder der Sonne" wurde es dann um einiges emotionaler. Auf der Seitenbühne lief hinterher "Czuję do Ciebie miętę | I Fancy You" als Teil des Rahmenprogramms. Die beiden ukrainischen Schauspielerinnen Nina Zakharova und Kateryna Vasiukova erzählen darin von ihrer eigenen Freundschaft, die enger geworden ist, seit sie aus Charkiw nach Polen geflüchtet sind. Sie vergleichen sich im Laufe des Abends aber auch mit zwei ukrainischen Schriftstellerinnen, erzählen von deren Welt. Bringen eigene biografische Erzählungen ein. Der Krieg ist immer präsent: Schwarzweiß-Bilder von der Front laufen in Endlosschleife im Hintergrund. Im Schlussbild baden beide in einem Plastik-Kinderbecken, in das sie das Schwarze Meer hineinfantasieren und sich mit Coca-Cola bespritzen. Und doch: Zwischendurch brechen die anderen Gefühle durch und Kateryna Vasiukova schreit bis zur Heiserkeit heraus "Why Do Ukrainian People Die?" Echte Verzweiflung, auch wenn sie einmal lächelnd zum Publikum sagt: it is just a Show.

Und auch bei Festival-Co-Leiterin Olena Apchel wallten gestern die Emotionen auf. Ihre Stimme versagte, als sie vor der Diskussion "Women at War" die Diskutantinnen vorstellte. Auf dem Podium beeindruckte dann vor allem Kateryna Pryimak, Rettungssanitäterin und Aktivistin beim Ukrainian Women Veteran Movement, die über die Bedeutuung der Frauen in der ukrainischen Armee erzählte. An vorderster Front kämpfen sie nicht, aber in allen anderen Positionen schon und Pryimak sagt, dass sie wichtige humanisierende und zivile Wirkung auf die ganze Armee ausüben.

(sik)

 

25. Mai 2023 – Ätzend

Spielfreier Tag gestern beim Theatertreffen. Man schnauft noch einmal durch, bevor es ins letzte Wochenende geht. Mit Gastspielen aus Bochum (das zweite dieses Jahr), Wien (ebenfalls das zweite) und Dessau (Neuling!). Die Stimmung ist, na ja, gedämpft, wenn nicht gar a bissl im Keller. Die großen Medien in Funk und Print haben schon ihre Bilanzen gezogen und diagnostizieren die "gelungene Selbstverzwergung" des Theatertreffens (so gestern die Süddeutsche Zeitung). Eine produktive Verbindung des Best of der deutschsprachigen Theaterwelt mit osteuropäischen Perspektiven im Begleitprogramm stellt sich nicht her. Auf den Nebenbühnen waltet antiimperialistischer Agitprop im Kleinkunstformat, politisch selbstredend mehr als legitim, als Statement gegen die russische Aggression wertvoll (und notwendig auch ein wenig tautologisch: die Politik ist die Politik ist die Politik …), aber in seiner Setzung auch solitär. Gerade zu Anfang liefen die Beiträge am Rande nebenher, teils parallel zu Theatertreffen-Aufführungen.

Im ungünstigeren Falle warf das politisierte Rahmenangebot ätzende Schlaglichter auf das von der Jury ausgewählte Kernprogramm (die "10er Auswahl", wie das informell heißt): wenn man aus einer derb institutionenkritischen Backperformance in die mehrfach gebrochene Institutionenkritik der Münchner "Nora" gelangte, oder wenn man in den Pausen des schwulen Kulturpanoramas "Vermächtnis" beim Veggie-Häppchen mit "1 Minute Scream" an die Aggressoren im Osten erinnert wurde, dann war das wohl als Fingerzeig aufzufassen: Schau, was für ein dekadenter Schnösel Du bist, der Du Dich zur autonomen Kunst begibst! Im "Putinprozess" (einer der größeren Arbeiten des Rahmenprogramms) wurden Tschechow und die Bühnenklassiker russischer Sprache unumwunden zur intellektuellen Munition des imperialistischen Kriegszugs Putins erklärt. Abgesehen davon, dass man solch eine kulturalistische Pauschalkritik mit guten Gründen bezweifeln kann: Wie sollte man, wenn man die Prämisse dieser Kuratierung ernst nimmt, heute Abend Maxim Gorkis "Kinder der Sonne" aus Bochum anschauen? Wo ist das Podium, das diese Widersprüche thematisiert?

In der Logik der kommentierenden Gegenüberstellung hat sich Kollegin Eva Marburg soeben auf Twitter Maria Lazars Coming-of-Faschismus-Parabel "Die Eingeborenen von Maria Blut" in der ästhetisierenden Regie von Lucia Bihler vorgenommen: Unter dem Eindruck der ukrainischen Tanz- und Dokumentarperformance "FebrUaRY" erscheint ihr Bihlers Arbeit als "politisch absolut verantwortungsloses Bilderbuchmärchen". Aber ist so ein Ausspielen grundlegend unterschiedlich gelagerter Ansprüche sinnvoll? Müsste man nicht die verschiedenen Dimensionen des Politischen auf der Bühne an den jeweiligen Ästhetiken herausarbeiten? Und wo ginge das? Das Festival hat verpasst, entsprechende Diskursräume zu öffnen. Stattdessen gab schon das Eröffnungspanel über "Artistic Work in Exile" einen ätzenden Ton vor. Dort versäumte der verantwortliche Moderator zwar, einen erkennbaren Fokus auf sein Thema einzustellen, musste aber doch immerhin wiederholt bekennen, wie durch und durch doof er das Theatertreffen in den letzten Ausgaben fand. "Transform it!", so seine Message, deren Begründung oder Stoßrichtung offen blieb.

Es gärt also ungut, und das kann nicht im Sinne des Festivals sein. Das Theatertreffen hat es in den Jahren immer wieder geschafft, mit den Jury-Auswahlen und den begleitenden Gesprächen, Tendenzen der Bühnenlandschaft nachzuzeichnen, Resonanzen herzustellen, Diskurs zu produzieren. In dieser Diskursfunktion hat es seinen Wert.

(chr)

 

 

24. Mai 2023 – Ungläubige Tränen

Nicht nur wir hier im kleinen Live-Blog, auch die Kolleg:innen lassen kein gutes Haar am "Treffen" genannten Rahmenprogramm des Berliner Theatertreffens. In besseren Jahren sei es "der Ort aktueller Theaterdebatten und so etwas wie die diskursive Fortsetzung der eingeladenen Inszenierungen" gewesen, erläutert Peter Laudenbach heute in der Süddeutschen Zeitung: "Jetzt ist es der Versuch, ein eigenes Minifestival zu etablieren, diesmal mit dem Schwerpunkt Osteuropa. Man kann das durchaus als Geste der Geringschätzung gegenüber dem Kern des Theatertreffens verstehen, den zehn eingeladenen, aus Sicht der Kritikerjury besonders bemerkenswerten Inszenierungen der Saison." Laudenbach hält das nicht für besonders klug, "schließlich ist die Juryauswahl die Geschäftsgrundlage des Theatertreffens". Wäre auch alles halb so schlimm, wenn das Rahmenprogramm zumindest halbwegs interessante Veranstaltungen bieten könnte. Doch davon könne keine Rede sein. "Dass im Rahmenprogramm des Theatertreffens diese mehr oder weniger martialischen, relativ kunstfernen Gesinnungsdemonstrationen vorherrschen, hat das Festival entschieden nicht verdient."

"Den Eindruck, dass fürs Theatertreffen neuerdings Menschen zuständig sind, die ein ganz anderes Festival etablieren möchten, kann man auch beim Rahmenprogramm bekommen", hatte Barbara Behrendt schon vorgestern in der Sendung Fazit auf Deutschlandfunk Kultur festgestellt. Die Produktionen dort seien oft von einem aggressiven Aktionismus geprägt, statt künstlerisch zu überzeugen. Dass die Themen nicht vom Festivalteam eingeordnet würden und auch nicht mit dem Hauptprogramm verknüpft würden, obwohl sich das – etwa im Fall von "Nora" oder "Kinder der Sonne" – anbieten würde, sei eine Bankrotterklärung des Parallelprogramms. Nach einem besonders argen Beispiel aus dem Treffen-Programm schließt Behrendt: "Mann könnte ungläubig Tränen lachen, wäre es nicht so traurig, dass für Fremdschämnummern dieser Art der einst renommierte Stückemarkt abgeschafft worden ist."

Immerhin gibt's übermorgen eine Rahmen-Veranstaltung, die eng mit dem Hauptprogramm verknüpft ist: Da sprechen die Herausgeberinnen des Buchs "Status Quote" – Sabine Leucht, Petra Paterno, Katrin Ullmann – mit den Regisseurinnen Mateja Koležnik und Josephine Witt sowie Mitgliedern von She She Pop über die Frauenquote beim Theatertreffen und strukturelle Ungleichheiten am Theater. Im Interview mit Christian Rakow verteidigen Leucht und Paterno ihre Suche nach einer weiblichen Ästhetik und schildern wichtige Erkenntnisse. So sagt Paterno: "Was sich in vielen Gesprächen durchzieht, auch bei den jungen Frauen, die wir als sehr selbstbewusst benannt haben, ist der mangelnde Respekt, den sie für sich und ihre Arbeit erfahren, weil der Theaterbetrieb einfach noch nicht gewöhnt ist, dass Frauen das Sagen haben."

(geka)

 

23. Mai 2023 – Weltstadt Wilmersdorf

Einer "Spieluhr-Dramaturgie", die interessante szenische Schlaglichter bereithalte, folgte Kollegin Elena Philipp beim Theatertreffen Gastspiel von Lucia Bihlers Lazar-Adaption "Die Eingeborenen von Maria Blut". Große politische Fragezeichen wirft der Abend für sie auf: "Wachsen die sozialen Spannungen, gewinnen rechte Kräfte. Gibt es keinen Zusammenhalt über Milieus und Interessengruppen hinweg, erstarken sie auch. Da wünscht man sich glatt eine Gegenerzählung, die ohne messianische Elemente auskommt, aber sozialen Bewegungen eine verändernde Macht zugesteht – weniger Kommunismus, mehr Solidarność." 

(chr)

Nach dem Applaus gab es auf dem Vorplatz des Hauses der Berliner Festspiele kaum Muße und Möglichkeit, unter den blühenden Kastanienbäumen das Gesehene zu diskutieren. Panische junge Mitarbeiter*innen forderten wie jeden Abend die Leute zum raschen Verlassen des Geländes oder zum Umzug hinter das Haus auf. Hintergrund: Seit Jahren tobt ein Streit mit einigen Anwohner*innen in der Schaperstraße und auch in der Meierotto-Straße, die sich durch den Betrieb des Hauses der Berliner Festspiele belästigt fühlen und sofort die Polizei rufen, wegen Lärm- und neuerdings auch wegen Lichtbelästigung. Nichts hat, wie Eingeweihte zuverlässig berichten, hier bisher etwas ausrichten können: Keine freundlichen Anschreiben oder Einladungen, ja nicht mal Freikarten oder so. Nein, Kultur wird als Belästigung empfunden und Pardon nicht gegeben. Weltstadt Wilmersdorf.

(sle)

Die Theatertreffen-Eröffnungsinszenierung "Das Vermächtnis" in der Regie von Philipp Stölzl bewegt weiter. Unser Kolumnist Atif Mohammed Nour Hussein hatte schon im Anschluss an seinen Besuch auf Twitter seine Beobachtungen notiert. In seiner neuesten Kolumne geht er den Fragen weiter nach und untersucht das vom New Yorker Broadway stammende Stück über die schwule Geschichte im Amerika der Jahrtausendwende: als Beispiel für den "International Style" des Bühnenrealismus. 

(chr)

Aus Twitter eingesammelt: 

 

22. Mai 2023 – Steil

"Ein Sommernachtstraum" aus Basel beim Theatertreffen. Und irgendwie waren alle glücklich, auf welche Weise auch immer. Die Masse des Publikums hielt es, den Ovationen nach zu urteilen, mit Kollegin Simone Kaempf, die in ihrem Shorty schreibt: "Ein großes Kostüm- und Bühnenfest liefert der Abend, mit vielen staunenswerten Details und einem Ensemble, das hier nach und nach alle Klischees einer Lehrer-Schauspieler-Truppe wie der des Theaters selber durchspielt, ihren Spaß damit treibt und dem Stück auf ganz eigene Weise nah kommt." Es gab "riesengroßen Jubel, und das völlig zu Recht".

Wer mit dem offensiven Klischee-Humor der Veranstaltung weniger warm wurde (moi, chr), der hatte immerhin Michael Klammer und Aenne Schwarz auf der Bühne und mit ihnen den Glanz vergangener großer Taten von Antú Romero Nunes. Wie Die Räuber etwa, hier in Berlin, am Maxim Gorki Theater. Das Ganze war noch zu Zeiten, als letztmalig ein deutscher Fußballmeister nicht Bayern München hieß, sondern Borussia Dortmund. Und wie es sich anlässt, könnte der BVB in diesem Jahr erstmals nach einer Dekade die Bayern wieder vom Thron stoßen. Ein Sieg gestern in Augsburg macht es möglich. Was im Theater-Foyer denn auch weidlich Gesprächsthema wurde. Wirklich, der Abend hatte für alle etwas. Nur, dass das HAU1 seine Bar schon kurz nach Mitternacht schloss und mehrere Dutzend beglückter Theatermenschen (darunter August Diehl) in die lauwarme Frühlingsnacht entließ, trübte die Stimmung. Ein wenig.

(chr)

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Während der BVB gestern Abend in der Bundesliga steil ging, mussten Theaterfans auf ihre Weise steil gehen. Im HAU1 beim TT-Gastspiel des "Sommernachtstraum" aus Basel.

 

(chr)

 

"Aggressiven Aktivismus" erlebte Barbara Behrendt im Deutschlandfunk im Rahmenprogramm des Theatertreffens und beginnt ihren Beitrag mit einem eindrücklichen Beitrag: der Performance "375 0908 2334. The body you are calling is currently not available" von Igor Shugaleev. "Es ist die erste im politischen Rahmenprogramm des Theatertreffens, die den Zuschauer:innen keine plumpen proukrainischen Botschaften um die Ohren haut oder das Publikum für ignorante Westler hält, die nicht begreifen wollen, wie gefährlich Putin ist und dass alle Russinnen und Russen Feinde sind", sagt Behrendt. Ukrainische Künstler:innen seien mit ihrer Kritik im Festivalkontext allein gelassen, etwa Andriy May, Regisseur von "Putinprozess", wenn dieser seine Kritik an Tschechow, Gorki und anderen russischen Klassikern vorbringen, die den Weg in den imperialistischen Angriffskrieg geebnet hätten, zugleich aber (Gorki mit "Kinder der Sonne") beim Theatertreffen vertreten seien. "Es ist eine Bankrotterklärung des politischen Parallelprogramms, dass Fragen wie diese von ukrainischer Seite mehrfach gestellt, aber nicht mit den Theaterleuten diskutiert werden oder von Festivalseite aus eingeordnet." Die ukrainischen Künstler:innen und Expert:innen aber blieben unter sich "wie in einer Parallelwelt", sagt Barbara Behrendt.

  

21. Mai 2023 – "Nora"-Nachlese

Gestern, bei der zweiten "Nora"-Vorstellung, hatte man einmal mehr den Eindruck, dass sich das Publikum gegen die nörgelnden Kritiker:innen durchsetzt: langer, herzlicher Applaus, vereinzelt stehend. Voll war’s auch. Das Stück zerfasere "nach und nach in einer Meditation über die vielen Varianten, die eine Nora heutzutage sein könnte", schreibt Dorte Lena Eilers im ND. Brucker habe "viele spannende Einzelteile gesammelt", findet Barbara Behrendt im RBB, "nur finden diese Ebenen nicht richtig zusammen". "Ein emanzipatorischer Aufbruch, der weit über Ibsen hinausgeht und vielleicht auch deshalb im Text gelingt und auf der Bühne zumindest teilweise scheitert", urteilt Sascha Krieger auf seinem Blog.

Derweil liebt Twitter das Bühnenbild – und das ABBA-Cover.

 

 

(geka)

 

20. Mai 2023 Weltverbesserungs-Rezepte bei der "Dinner Party"

Nachdem ja die 10 Treffen, die um die 10 eingeladenen "bemerkenswerten" Inszenierungen herum kuratiert worden sind, bislang nicht groß den Verdacht erweckt haben, irgendwelche Kontexte zum Theatertreffen herstellen zu wollen, drängte sich der Kontext diesmal geradezu auf: Abends sollte "Nora" laufen, sozusagen die Mutter aller feministischen Stoffe im bürgerlichen Theater – in einer Bearbeitung selbstredend. Vorher stand als "Treffen" mit der "Dinner Party" des tschechischen Künstlerinnen-Kollektivs "Mothers Artlovers" eine dezidiert feministisch gelabelte Produktion auf dem Programm.

Wie wir wissen, verlässt Nora in Ibsens Original am Ende ihr repressives Puppenheim. Hier nun, in dieser installativen Performance sollte es um Mütter, Anerkennung von Betreuungsarbeit in der Kunstszene und weitere löbliche Anliegen gehen, und zwar mit dem Ziel auf "eine (Kunst-)Welt" hinzuarbeiten, "die empfänglicher für die Bedürfnisse von Eltern und Betreuer*innen ist". Rezepte, wie das zu erreichen wäre, wurden ebenfalls versprochen.

Als Zuschauerin landet man aber dann erst mal im Ursumpf der Frauenklischees: fünf Frauen und zwei Kinder bewegen sich an Tischen irgendwie zwischen mantschender Nahrungszubereitung und dabei entstehender raunender Kommunikation – immer wieder untermalt von mythischem Singsang und enigmatischen Handlungen. Aus einem Heftlein, das auch auf den fürs Publikum drum herum gruppierten Hockern zum Mitlesen ausliegt, werden abwechselnd Rezepte vorgelesen, die locker auch fürs feministische Poesiealbum taugen, hier aber mit bedeutungsvoller Mine als ernstgemeinte Beiträge zur Weltverbesserung vorgetragen werden.

DinnerPartyMenu Anmo sle"Dinner Party" © sle

Drumherum performen die gerade nicht Lesenden mit Lebensmitteln: Zuzana Štefková legt zum Beispiel einzelne Spaghetti auf dem Boden aus, um sie hernach mit Zuckerstückchen wie mit Relais zu verknüpfen. Andere rühren geräuschvoll in irgendwelchen Substanzen. Eine Nackte ist auch bald zu beklagen: Kaca Olivova nämlich, die über ihren entblößten Body mehrere Plastikbehälter Honig entleert und essbare Substanzen darauf klebt.

Und so geht es immer weiter. Kochgeräte werden zu Percussionsinstrumenten, kleine Urschreie mischen sich bald auch in diese spiritistische Melange, deren Achtsamkeitsgetue auf krasse Weise konträr zum respektlosen Umgang mit Lebensmitteln in dieser Performance sich verhält, die massenhaft vernichtet und zertrampelt werden. Wie sollen derart in so oberflächliche Klischees ihrer Weiblichkeit verstrickte Frauen jemals finden, was sie suchen? Und warum muss das alles so unappetitlich aussehen? frage ich mich am Ende der Geschichte und verlasse fluchtartig den Ort des Schreckens.

"Der Eindruck von heißer Luft herrscht gewaltig vor", hatte in der Berliner Zeitung gestern schon Doris Meierhenrich zu Protokoll gegeben, und "dass man in dem nun '10 Treffen' betitelten Beiprogramm kaum etwas anderes erkennen kann als dezidiert antiästhetische Gegenentwürfe zu der ambitionierten 10er-Auswahl der Kritikerjury."

Felicitas Bruckers Überschreibungs-Inszenierung "Nora" mit den Texten von Sivan Ben Yishai, Henrik Ibsen, Gerhild Steinbuch und Ivna Žicis fing aus technischen Gründen dann eine Stunde später als angekündigt an. Mit einer Titelfigur, "die aufgeladen ist mit der Nora-Erfahrung aller Noras von A bis Z", schreibt Sophie Diesselhorst in unserem Shorty und die sich zumindest aus diesen Erfahrungen herauszuwinden versucht.

Außerdem erhielt die Dramatikerin und "Nora"-Mitautorin Sivan Ben Yishai den Berliner Theaterpreis, den die Stiftung Preußische Seehandlung verleiht, wozu folgende Tweets aus der Timeline gefischt werden konnten:

 (sle)

 

19. Mai 2023 – Freundliches hinter der Stücke-Klappe

"Stückemarkt abgeschafft": Die Meldung war der Aufreger, als das neue Leitungsteam des Berliner Theatertreffens im Herbst 2022 die ersten inhaltlichen Neuerungen bekanntgab, die es an dem Branchen-Event vorzunehmen gedachte. Die Reaktionen in unserem Kommentarbereich folgten umgehend – und pendelten sich graduell zwischen "kurzsichtig" und "verheerend" ein; der Tenor indes war geradezu eineindeutig. Und natürlich wurde auch zu Recht daran erinnert, dass sich der "Stückemarkt" bereits in den Jahren zuvor immer stärker vom Fokus auf den dramatischen Text entfernt und sein Profil also sukzessive selbst aufgeweicht hatte. Spätestens, seit neben Theatertexten auch Projekte und Performances zur Bewerbung eingereicht werden konnten, in denen verbaler Output gar nicht mehr notwendig vorkommen musste.

Und jetzt also, vor diesem Hintergrund, lud das Theatertreffen am gestrigen Feiertag zum Programmpunkt: "Die freie Szene der Theaterautor:innen stellt sich vor"! Drei Stunden lang, von zwölf Uhr mittags bis zum frühen Nachmittag, bei freiem Eintritt im gut ge-, aber bei weitem nicht über-füllten Kassenhallen-Foyer. Dem Vernehmen nach hatte der Verband der Theaterautor:innen (unter Vorsitz von David Gieselmann) infolge der Stückemarkt-Abschaffungsmeldung Kontakt zur Theatertreffen-Leitung aufgenommen. Gespannter ging man also tatsächlich selten zu einem Gegenwartsdramatik-Panel, selbst als leidenschaftliche Grundsatzinteressentin.

Und dann? Wohnte man einer vollständig kontroversenfreien, ja geradezu friedvollen bis appeasenden Betriebsveranstaltung bei: Mit den "Wiener Wortstaetten", dem "Netzwerk Münchner Theatertexter*innen" und dem "Neuen Institut für Dramatisches Schreiben, Nids" stellten sich – begrüßt von Theatertreffen-Co-Leiterin Carolin Hochleichter –, in jeweils etwa einstündigen Podiumsrunden drei Theaterautor:innen-Initiativen selbst vor. Dramatikerinnen und Dramatiker lasen ausschnittsweise aus ihren neuen Texten, sprachen entlang dem Veranstaltungsmotto "Einzeln und im Kollektiv" über ihre Arbeitspraktiken und holten durchaus nachahmenswerte Modelle aus dem mitgebrachten Diskurs-Gepäck. Kein Zweifel, dass beispielsweise die "Stücke-Klappe", von der der Autor und Wiener Wortstaetten-Leiter Bernhard Studlar erzählte, garantiert schon die eine oder andere Karriere befördert hat. Man wirft einen Text in den Wortstaetten-Kasten und bekommt binnen einer sehr vertretbaren Zeitspanne professionelles Feedback: Eine Service-Idee, die man sich spontan auch für andere Branchen zu wünschen geneigt ist!

So gingen die drei Stunden also aufs Friedvollste und Kooperativste dahin – unterschieden sich aber in einem Punkt fundamental von jedweder Stückemarkt-Anmutung: Sie blieben komplett innerbetrieblich, ein Event von Autor:innen für Autor:innen, wogegen natürlich erst mal nichts einzuwenden ist. Das viel zitierte Networking gehört sicher zu den wichtigsten Bestandteilen eines jeden Branchen-Events. Allerdings: Die ebenso notorisch beschworene Öffentlichkeit, an die man die Gegenwartsdramatik gerade in derlei Veranstaltungen immer so wortreich zu bringen gedenkt, erreicht man auf diese Art nicht. Zumal auch – bis auf eine kurze Runde am Schluss des Dreistünders – bei den einzelnen Runden gar kein Publikumsfeedback vorgesehen war.
Gemach – beschwichtigen Veranstalter- wie Autor:innen-Seite auf Nachfrage übereinstimmend: Es habe sich hier um ein "Innehalten" und erstes gemeinsames "Nachdenken" gehandelt, wie die Gegenwartsdramatik künftig auch jenseits der Zehnerauswahl weiter im Theatertreffen vorkommen könne. Sprich: to be continued 2024. Wir werden berichten!

(cwa)
 

18. Mai 2023 – Möwenschreie bei der Vergewaltigung

Krieg, Klima, Klassismus, Erinnerungskultur: Logisch, die gesellschaftspolitischen Themen unserer Tage spielen eine zentrale Rolle im Theater – und natürlich konkret auch beim Theatertreffen. Dessen neues Leitungsteam hat mit den zur Zehner-Auswahl der Jury hinzu kuratierten "10 Treffen", die Titel tragen wie "Responsibility Treffen – Krieg in Europa" oder "Herstory Treffen – Frauen im Krieg" ja sogar einen ganz direkten politischen Anspruch formuliert.

Nun war gestern zwar premierenfrei, aber gerade unter dem Gesichtspunkt, mit welchen Mitteln die politischen Themen auf der Bühne eigentlich konkret verhandelt werden, hallen die Aufführungen der Vortage weiter nach: Wie wir gestern im Blog betreiben auch die Kolleginnen und Kollegen der anderen Medien intensive Bühnendiskurs-Analyse – und kommen vor allem bezüglich des im Beiprogramm laufenden "Putin-Prozesses" vom Kölner Theater der Keller zu ähnlichen Ergebnissen. Als "überzeichnet und unterreflektiert" fasst Elena Philipp, auch Redakteurin von nachtkritik.de, den Abend in der Berliner Morgenpost zusammen. Ihr Urteil macht sie unter anderem an einer Vergewaltigungsszene fest, die der Schauspieler Timon Ballenberger mit seiner dabei Möwenschreie ausstoßenden Kollegin Tetiana Ziguras spielt: "Stößt hier der Deutsche, stellvertretend für den Regisseur, der Ukrainerin den Tschechow – Autor des Theaterklassikers 'Die Möwe' – und damit die russische Kultur aus dem Leib?", fragt Philipp irritiert und konstatiert: "Was für ein gewaltverherrlichendes, misogynes Bild." Regisseur Andriy May, der im "Putinprozess" selbst mitspielt, stolziere danach "wie die Karikatur eines machtmissbräuchlichen Regie-Genies auf die Bühne" und danke den beiden Darstellern schmierig für ihre "experimentelle Performance".

"Zum Fremdschämen unterreflektiert" sei diese Szene, findet Philipp – und spürt kurz den Gedanken durch den Kopf huschen, "dass die ukrainische Co-Leiterin Olena Apchel ohne Jury-Beteiligung oder transparente Kriterien" möglicherweise "befreundete Künstler" zum Festival einlade. "Welch Absage an die Darstellende Kunst wäre es seitens der neuen Theatertreffen-Leitung, wenn die ästhetische Qualität als vernachlässigbar erschiene und lediglich der politische Impetus zählte", schließt Philipp – und wirft damit eine Frage auf, die uns in den kommenden Festivaltagen sicher weiter beschäftigen wird.

(cwa)

 

17. Mai 2023 – Deppertes Gefühl

Näher als am gestrigen Abend sind sich die Inszenierungen des Theatertreffens und die von der Festivalleitung hinzu kuratierten Freie-Szene-Produktionen der "10 Treffen" bisher nicht gekommen – als in diesem schamvollen Moment. Da riss Tetiana Zigura im "Putinprozess" (einer Arbeit aus dem Kölner Theater der Keller) ihre Arme hoch und animierte die Zuschauer zum Mitsingen eines bierzeltdeutschen Schlagers: "Ein Prosit der Gemütlichkeit!" Und schlagartig kam die peinliche Erinnerung an den "Bus nach Dachau" hoch (ein Theatertreffen-Gastspiel vom Schauspielhaus Bochum). Dort wurde eine Zuschauergruppe über die Bühne geführt, um dem Tour-Guide ins Mikro zu erzählen, wie man sich "als Deutscher" beim Blick in die Blackbox Dachau fühle. Ein beklemmendes Gefühl hier wie dort.

Aber woher rührt es? Wirklich daher, dass das Gewissen schmerzlich aufschreckt, konfrontiert mit seiner deutschen Schlager-Gemütlichkeit angesichts des Kriegsschreckens in der Ukraine? Konfrontiert mit dem Grauen der Konzentrationslager? Realisierend die eigene Blindheit gegenüber der Lage der Welt und der deutschen Historie?

Oder ist es nicht doch eher eine Scham, weil man so penetrant spürt, dass man an diesen Stellen im Dienste der künstlerischen Gesamtabsicht zum Deppen gemacht werden soll. Dass die Rolle als Kunstgänger mutwillig mit der Rolle des politischen Ignoranten kurzgeschlossen wird. Schon am Eingang des Abends überblendet "Putinprozess" Bilder russischer Soldatenregimenter mit hochglänzenden Ballettfotos. Wenn an anderer Stelle Tschechows "Möwe" zitiert wird ("Wir brauchen neue Formen!"), penetriert ein Performer seine ukrainische Kollegin von hinten. Kunst ist Fick, ist Hirnfick, und Ihr, die Ihr sie anschaut, seid in Wahrheit selbst die Gefickten, Deppen eben. Das Motiv zieht sich durch einige der Arbeiten im Beiboot des Theatertreffens: Ihr spielt oben in der Belle Etage und wir im "Bunker Cabaret": die Kleinkunst der Verzweifelten. Zum Finale in "Bunker Cabaret" werden die Zuschauer mit einem vorgehaltenen Schild "Love" um eine milde Gabe angebettelt. Die geringe Zahlungsmoral ist selbstredend einberechnet. Auch so ein schamvoller Moment. Deppert gewissermaßen.

(chr)

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Den "Bus nach Dachau" schaute Kollege Michael Wolf und resümiert: Für ein "21st Century Erinnerungsstück" fehlt doch einiges, auch wenn es Momente gebe, in denen sich "auf anregende Weise ästhetische, moralische und historische Linien" kreuzten. Für Barbara Behrendt vom rbb springt die Bochumer Truppe "von einem halb ausgegorenen Gedanken zum nächsten". Einen Überblick über einige der Performances in den "10 Treffen" gibt Katharina Granzin in der taz.

(chr)

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Ein skurriles Statement zur Mietpreisexplosion in Berlin bot die Bochumer Schauspielerin Mercy Dorcas Otieno, als sie beim Schlussapplaus zu "Bus nach Dachau" dieses Schild hochhielt.

Twitter

 (chr)

 

16. Mai 2023 – Aggressive Anspruchslosigkeit

Tag fünf beim Theatertreffen: Das erste große Berlin-Premieren-Wochenende ist vorbei – und die Kolleginnen und Kollegen ziehen erste Zwischenbilanzen. Neben den Aufführungen stehen das Festival selbst und vor allem seine neue Leitung im Fokus. "Es weht ein neuer, aber kaum frischer Wind in Berlin", konstatiert zum Beispiel Bernd Noack in der NZZ und nennt die Rede des neuen Festspielchefs Matthias Pees "erstaunlich farblos". Auch das neue Theatertreffen-Leitungstrio habe, "statt etwas Programmatisches zu verraten" lediglich die Namen aller am Festivalgelingen Beteiligter verlesen.

Keine guten Noten also für die offiziellen Eröffnungsfeierlichkeiten. Bernd Noack ist nicht der einzige, der sich an ein "Familienfest" erinnert fühlte. Auch auf Jakob Hayner in der Welt wirkte die Eröffnung des bedeutendsten deutschsprachigen Theaterfestivals auf dem Theatervorplatz wie eine "Privatfeier im kleinen Kreis" statt wie ein "gesellschaftliches Ereignis". In der "aggressiven Anspruchslosigkeit der Veranstaltung" sieht der Kritiker kein Einzelfallmisslingen, sondern ein Symptom: Sie sei beispielhaft für die "sich im Kulturbetrieb ausbreitende Selbstgefälligkeit, die sich gerne mit Parolen schmückt, aber keinerlei Substanz hat".

Das von der Festivalleitung um die Auswahl der zehn bemerkenswerten Inszenierungen herum kuratierte Programm der "Zehn Treffen" auf seine Substanz abzuklopfen, gibt es in den nächsten Tagen noch ebenso reichlich Gelegenheit wie die den Siebener-rest der Zehner-Auswahl. Auffällig ist bis dato – von wegen Zwischenbilanz – in jedem Fall die diskursive Abgekoppeltheit der "Treffen" vom Hauptprogramm: Bisher wird da weniger "umgarnt" und befragt oder herausgefordert, sondern Juryauswahl und Zusatzprogramm laufen auf komplett verschiedenen Umlaufbahnen nebeneinander her oder, oft ganz buchstäblich timing-mäßig, aneinander vorbei.

(cwa)

 

15. Mai 2023 –  Schwarzweiß

Heute Liveblog in Schwarzweiß. Das Theatertreffen zieht jedes Jahr Menschen von nah und fern an – und also auch unsere Nachtkritiker*innen. Zum ersten Mal seit den Corona-Jahren konnte unser nachtkritik-Autor*innentreffen in Präsenz stattfinden: in einer Caféteria der Universität der Künste neben dem Haus der Berliner Festspiele (ein Gründungsort der Nachtkritik, weil viele Jüngere von uns dort ihre ersten Kritikererfahrungen in der TT-Festivalzeitung sammelten, die an der UdK produziert wurde).

Einer aus unserer geselligen Runde (auf dem unteren Bild sitzt er noch lässig ausgestreckt: Martin Krumbholz aus Düsseldorf) begab sich anschließend zum Theatertreffen-Heimspiel von Sebastian Hartmann am Deutschen Theater Berlin. Und erlebte: "Konsequente Schwarz-Weiß-Ästhetik", Rätselhaftes und Soghaftes: "Mir gefällt dieses schlanke Artefakt besser als die gelegentlich sehr eigenwilligen, ausufernden oder auch etwas mutwilligen Dekonstruktionsexzesse des Leipziger Meisters."

Autorentreffen swNachtkritiker*innen beim Treffen mit der Redaktion | chr

Parallel zum Gastspiel lief am Haus der Berliner Festspiele eine kleine Lecture-Performance von Magda Szpecht: über die Desinformationspraktiken der russischen Geheimdienste im Internet. Szpecht, im "Decolonize Russia"-T-Shirt am Video-Mischpult mit Elfen-Ohren und elfisch-aktivistischem Selbstverständnis (daher der Titel: "Cyber-Elf"), präsentierte Netzfundstücke aus der jüngeren Kreml-Kriegsprogapaganda. Und bot damit natürlich Gegenpropaganda in der Twilight-Zone zwischen Kunst und politischer Aktion.

CyberElfDie Produktion "Cyber Elf" von Magda Szpecht beim Rahmenprogramm "10 Treffen" | chr

Anschließend – wiewohl ohne inhaltliche Anbindung an die vorgestellte künstlerische und investigativjournalistische Praxis – gab's noch neunzig Minuten recht abstrakt bleibenden Kulturtheorietalk "Postcolonialism in Ukrainian Culture" (mit Szpecht sowie Osteuropa-Historikerin Franziska Davies, Philosoph Vasyl Cherepanyn und Moderatorin Alona Karavai), in dem die zentrale These von Cherepanyn so zugespitzt wurde: "Russland ist der falsche Spiegel des Westens." Sein kolonialistischer Imperialismus gleiche dem der westlichen Großmächte in der Historie.

(chr)

 

14. Mai 2023 – Jubel, Johlen, Lachen

Auch am zweiten Abend des Vermächtnis-Gastspiels stimmt das Publikum mit den Füßen ab – wieder stehender Jubel; die Leute wollen die Münchner Spieler:innen gar nicht mehr von der Bühne lassen, unbeirrt von den zwischen Anerkennung und Nörgelei pendelnden Hauptstadtmedien ("klebriges Erbauungsgeraune", ätzt der RBB, "umso länger, umso schmonzettiger", kommentiert RBB Kultur, "ein blitzwaches, aufgeklärtes Well-made-Wunder", meint die Berliner Zeitung, "ganz unberührt" gehe man "aus diesen heißen biografischen Wechselbädern nicht heraus", so der Tagesspiegel).

Derweil erlebte "Ophelia’s Got Talent" an der Volksbühne seine Festival-Premiere. Auch ohne Theatertreffen immer ausverkauft, gilt für den Berliner Hit der Saison natürlich: "Jubel, Johlen, Lachen", aber auch "Stille, wenn’s nötig ist, am Ende Standig Ovations", wie Kollegin Verena Großkreutz in ihrem Shorty berichtet. Und während das Publikum noch über Schamhaarfrisuren nachdenkt, erklärt Florentina Holzinger im Tagesspiegel: "Wenn alle schon nackt sind, wartet keiner darauf, dass sich jemand auszieht." Wie am FKK-Strand.

(geka)

 

13. Mai 2023 – Soft Opening

Das 60. Berliner Theatertreffen ist also eröffnet. Mit sieben Stunden "Schauspieldiskretion" (wie unser Shorty sagt). Und zuvor einer kleinen Begrüßung, die in Sachen Diskretion geradezu Maßstäbe setzte. Auf einem kleinen Podest in der Sonne vor dem Haus der Berliner Festspiele: der neue Intendant Matthias Pees und seine drei Theatertreffenleiterinnen Carolin Hochleichter, Joanna Nuckowska und Olena Apchel mit Dankesworten an die Theatertreffen-Jury und alle Mitarbeiter*innen des Hauses. Kein Mission Statement, keine politische oder künstlerische Lageeinschätzung, was am Beginn einer neuen Intendanz durchaus verblüfft, kein Auftritt von Kulturstaatssekretärin Claudia Roth (ihre Vorgängerin Monika Grütters war immerhin im Publikum und schaute das "Vermächtnis"); Berlins neuer Kultursenator Joe Chiallo stand locker im Hintergrund, in rotem T-Shirt und Sneakers. Also Soft Opening gar kein Ausdruck.

Intendant Matthias Pees bei der Theatertreffen-Eröffnung über das zentrale Kriterium der Festivalauswahl: "bemerkenswert"

Ein bisschen schade war es um die kleinen Performanceeinlagen, die sich unter die Pausengäste schmuggeln sollten: der "Feeler", der stumm in einem blauen Gewand umherstreifte und Leute zum Blick auf sein Tablet verführte. Oder "1 Minute Scream" der belarussischen Künstlerin Jana Shostak, die an den politischen Schrecken in Osteuropa gemahnte. Aber in den Pausen eines siebenstündigen Netflix-Theaterevents brauchen die Zuschauer*innen schon eher ihre Erholung. Und es ist schwer, mit eigenen Botschaften durchzudringen. Wenn es das beweisen sollte, quasi "Da schau her, wie politisch Relevantes unter Euren kulturvollen Augen untergeht!", dann ist das natürlich gelungen.

Die Performance "1 Minute Scream" von Jana Shostak während der Pause von "Vermächtnis".

(chr)

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Aus Anlass des Theatertreffens bereist Jakob Hayner von der "Welt" die ostdeutsche Provinz und markiert einen Gap: "Es sind zwei Theaterwelten kurz vorm Kontaktabbruch. Hochtrabendes Vokabular und akademische Moden hier, knappe Mittel und Grundversorgung dort." Seine Recherche beschließt er mit dem (in Diskussionen ums Theatertreffen immer mal wieder aufploppenden) Vorschlag: "Wie wäre es, zum Theatertreffen eigens bemerkenswerte Inszenierungen aus Städten einzuladen, an denen nie ein ICE hält?" (mehr in der Medienschau).

(chr)

 

12. Mai 2023, Eröffnungstag – Karten noch zu haben!

Wenn heute das 60. Berliner Theatertreffen beginnt, dann unter erhöhter Beobachtung: Wie schlägt sich das neue Leitungsteam? Werden die "10 Treffen", die die Zehner-Auswahl der Theatertreffen-Jury flankieren, ein osteuropäisches Parallelfestival – oder ergeben sich sinnvolle Bezüge? Werden in den Diskussionen und Panels die relevanten Fragen verhandelt – oder bleibt die Theaterblase unter sich? Und natürlich vor allem: Was erzählen uns die zehn eingeladenen Inszenierungen aus Basel, Berlin, Bochum, Dessau, München, Wien?

Heute werden jedoch erst mal die Sektgläser poliert. Zeit genug für Drinks wird sein in den drei Pausen, die Matthew Lopez' Sieben-Stunden-Spektakel "Das Vermächtnis" vom Münchner Residenztheater in der Regie von Philipp Stölzl takten. Der Abend verschweißt dank komplexer Figuren, menschlicher Abgründe und einem Bühnenrealismus, der zuweilen ins Magische kippt, schwule Seifenoper mit Menschheitsdrama und Netflix-Spannung. Da vergeht die Zeit wie im Flug.

Ob's dennoch an der Dauer liegt, dass es für die Eröffnung noch (Rest-)Karten gibt? Auch für den Samstag, an dem die Menschen eher nicht arbeiten müssen (allerdings große Teile der queeren Community traditionell vor den Bildschirmen sitzen und den "Eurovision Song Contest" gucken)? Ist so ein Marathon für den Auftakt, bei dem es immer auch um Begegnungen geht und Gespräche im Festspielhausgarten und in den Foyers, überhaupt die richtige Wahl? Wir werden sehen.

Allerdings fällt auf, dass – wie schon im vergangenen Jahr – der Kartenverkauf längst nicht mehr so flutscht wie einst, als sich vor der (nun nicht mehr aktiven) Kassenhalle eine lange Schlange bildete und das Anstehen zur Kartenkauf-Romantik gehörte. Auch die Zeiten der Nervenzusammenbrüche beim Versuch, im kriselnden System online Tickets zu kaufen, sind vorbei. In diesem Jahr konnte man sich nach Auftakt des Vorverkaufs gemütlich seine Plätze zusammensuchen. Und auch jetzt noch sind für etliche Vorstellungen Tickets zu kriegen. Liegt's am veränderten Kaufverhalten, spontaneren Entscheidungen, von denen viele Theater berichten? An den Preisen (in den besseren Kategorien liegt man bei zwei Karten schnell über 100 Euro)? Oder interessiert die Leute das Festival einfach nicht mehr so wie früher?

(geka)

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Für manche ist ein Theatertreffen ohne Christopher Rüping einfach kein Theatertreffen.(*)

 

(*) Christopher Rüping, Jahrgang 1985, Sprechtheaterregisseur und Opernregiedebütant, hat in den letzten Jahren fünf Theatertreffeneinladungen gesammelt, ist 2023 aber nicht dabei. Philipp Stölzl, Jahrgang 1967, Opern- und Sprechtheaterregisseur und Madonna-Videoclipfilmer, ist Theatertreffen-Debütant mit "Das Vermächtnis".

(chr)

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Im Tagesspiegel moniert Theaterkritiker Patrick Wildermann im Vorfeld des Festivals die "Vergartenzwergung des eigenen Profils". Mit Blick auf das anwachsende internationale Rahmenprogramm schreibt er: "Nur die zehn bemerkenswertesten Inszenierungen des deutschsprachigen Raums einzuladen, ist offenbar irgendwie piefig und nicht international genug." Dabei nehme das deutschsprachige Theater "andauernd Input" auf, "der nicht innerhalb von geistigen Jägerzaungrenzen gewachsen ist". Und "landauf, landab" arbeiteten viele internationale Künstler:innen. 

(chr)

 
Kommentare  
Liveblog TT2023: übers Theaterautor:innen-Treffen
Ja. Und dann helfen und kooperieren die AutorInnen sich alle gegenseitig. Innerbetrieblich. Betrieblich jedenfalls. Und nur eines ist ganz ganz gewiss: Außer betrieblich kann Theater weder gedacht, noch visioniert, noch geschrieben werden! Geile philosophische undoder literarische Vorstellung: Die totale Institutionalisierung des Dramen-Textes als Gegenentwurf zur gesellschaftlichen Realität - Wenn das keine Förderung wert ist, weiß ich nicht, was überhaupt einer Förderung wert sein sollte! Titel des Stückes: "Gefangen im Netzwerk - Klappe zu, lieber tot"
Liveblog Theatertreffen: Wer steckt dahinter?
Wer steckt hinter diesen Blog Texten? Wäre spannend zu erfahren, so bleibt es doch ein wenig ominös? Und Frage: Was ist aus der Doppelleitung des Blogs geworden?

(Werter Fragender, den Liveblog verfassen mehrere nachtkritik-Redakteur:innen – welche genau, können Sie anhand der Kürzel ermitteln (hier die Kürzelliste: https://nachtkritik.de/impressum-kontakt). Meinen Sie mit der Doppelleitung vielleicht den Theatertreffen-Blog der Berliner Festspiele? Der hat mit uns nicht zu tun, Sie finden ihn hier: https://theatertreffen-blog.de/tt23/. MfG, Georg Kasch / Redaktion)
Liveblog Theatertreffen: Verwirrung
Ich habe den Beitrag von Esther Slevogt vom 29.5. mehrmals gelesen und werde nicht klug daraus. Sollte ein Schauspieler, den Edgar Selge - zu Recht oder zu Unrecht, das kann ich nicht beurteilen - für preiswürdig hält, in Geiselhaft genommen werden für den Autor, in dessen Stück er spielt, und sollten Gorki und Stanislawski ihrerseits für Putin in Geiselhaft genommen werden? Man mag gegen ihre Dramen und gegen ihren Schauspielstil Einwände erheben, aber führt von dort zum Angriffskrieg gegen die Ukraine tatsächlich ein gerader Weg? Hätte während des Irakkriegs kein Schauspieler ausgezeichnet werden dürfen, der, vom Actors Studio geprägt, in einem Stück von Tennessee Williams gespielt hat? Und was ist mit all den deutschen Schauspielern, die mitten im Krieg in "Casablanca" reüssiert haben, makabrerweise auch in der Rolle derer, vor denen sie flüchten mussten? Oder will uns Esther Slevogt sagen, dass gerade darin das Politikum besteht, dass sich Selge und das Theatertreffen über derlei Bedenken hinweg gesetzt haben? Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass es irgendjemanden gibt, der die Aufführung eines Stücks von Gorki oder die Mitwirkung daran als Stellungnahme für das heutige Russland und als Verrat an der Ukraine missversteht. Bin ich total vertrottelt, oder kann mich jemand von meiner Verwirrung befreien?
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