Die Hundekot-Attacke - Laudatio zum 3sat-Preis
Die Summe von lauter Einsen
23. Mai 2024. Es kam, sah - und räumte hoch verdient den 3sat-Preis ab: das Theaterhaus Jena, das mit "Die Hundekot-Attacke" zum Theatertreffen eingeladen war. Jurorin und Nachtkritik-Autorin Katrin Ullmann erzählt in ihrer Laudatio von ihrer Reise nach Ost-Thüringen und wartet mit einem überraschenden Bekenntnis auf.
Von Katrin Ullmann
23. Mai 2024. Liebes Publikum, liebe Preisträger*innen, das heißt: lieber Walter Bart, liebe Hanna Baumann, liebe Pina Bergemann, lieber Nikita Buldyrski, liebe Henrike Commichau, liebe Linde Dercon, lieber Leon Pfannenmüller, liebe Anna K. Seidel. Auch von mir: Herzlichen Glückwunsch zum 3Sat-Preis! Euch allen, euch als Kollektiv!
Es war so ein Werbe-Banner auf der Website von nachtkritik, das mich auf euer Projekt aufmerksam gemacht hat. "Die Hundekot-Attacke" stand da über einem Foto von einem Mann im Anzug, der unfassbar selbstzufrieden und bräsig auf einem grünen Gymnastikball hockt. Ich war irritiert: Das lag natürlich an dem reißerischen Stücktitel. Durch den ich sofort wieder an den ekelhaften Hundekot-Angriff auf eine Kritikerkollegin im Februar 2023 denken musste. Ich war neugierig: Kann dieser Übergriff an der Staatsoper Hannover ein Theaterstück sein? Was soll das werden? Ein Stück über Hundekacke? Oder ein Stück über das Verhältnis von Kunst, Kritik und Öffentlichkeit? Oder eines über Gewalt? Oder über alles zusammen?
Seitenhieb auf die Dackel-Krawatte
Ich war skeptisch: Wurde zur "Hundekot-Attacke" nicht schon alles gesagt? Falle ich da gerade auf einen plumpen PR-Gag rein? Wollt ihr im Theaterhaus Jena mit allen Mitteln Aufmerksamkeit generieren und die Presse nach Ost-Thüringen locken? Und am Ende steckt nichts dahinter? Nicht mal Hundekot? Nur heiße Luft? Natürlich war der Titel Kalkül. Die AfD hatte euch immer wieder gesagt, dass das Theaterhaus Jena keine überregionale Strahlkraft habe und dass ihr deswegen kein oder weniger Geld bekommen sollt. Eure Entscheidung für den Titel "Hundekot-Attacke" war ganz klar eine Entscheidung für überregionale Aufmerksamkeit und ein Seitenhieb auf scheißbraune Politiker mit einer Vorliebe für Dackel-Krawatten.
Die Premiere der "Hundekot-Attacke" war am 27. Oktober 2023. Bis ich es nach Jena schaffte, wurde es Dezember. Sturm kam auf. Bäume lagen auf den Gleisen. Etliche Bahnstrecken waren gesperrt. Meine Zugfahrt von Hamburg nach Jena dauerte einen Tag und eine Nacht und noch einen ganzen Tag. Was habe ich im Theaterhaus Jena gesehen? Das, was Sie, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, heute Abend auf der Bühne hier in Berlin gesehen haben: Die Theatralisierung einer E-Mail-Korrespondenz, die einer möglichen Aufführung vorangeht, die aber nie stattfindet.
Was ist Fakt, was ist Fake?
Die "Hundekot-Attacke" ist ein Text, in dem ein achtköpfiges Kollektiv – zumindest vordergründig – die Kunst-Kritik- Debatte aufgreift. Es ist ein Text, der die Machtstrukturen im Theater hinterfragt und auch den heiligen Genie- und Personenkult. Es ist ein im Kollektiv entstandener Text, der – und das ist der eigentliche Witz daran – diese Arbeitsweise hinterfragt. Es ist ein Text, der gekonnt mit Fakten und Fiktion spielt, der persifliert, Klischees offenlegt, der mit Schauspieler-Eitelkeiten, Kritiker-Hoheiten und mutmaßlich Privatem um sich wirft und immer wieder die – vermeintliche – Ratlosigkeit des Ensembles offenlegt. Es ist pseudodokumentarischer Text über die Entstehung eines Stücks – geschrieben im Kollektiv. Und es ist ein Text, in dem natürlich ein Dackel eine Rolle spielt, ein Choreograf und eine Kritikerin. Übrigens, der Dackel ist inzwischen verstorben.
Ich war begeistert: Was für ein feinsinniger, doppelbödiger Abend! Schonungslos und vielschichtig, witzig und klug. Ich war mir sicher: Linde Dercon ist eine beratend dazu gecastete Tänzerin aus den Niederlanden. Ich war unsicher: Was ist Fakt, was ist Fake? Die Streitereien, die Beinahe-Katastrophe vor der Premiere, die Notlösung mit den E- Mails.
Leidenschaft fürs Doppelbödige
Die Frage nach Fakt oder Fake wird nicht beantwortet. Der Regisseur Walter Bart hat den Abend eine "Mockumentary" genannt. Also ein Stück, das so aussieht, als wäre es dokumentarisch, es aber nicht oder nicht ausschließlich ist. Es ist eine satirische "Mockumentary", geschrieben mit viel, sehr viel Liebe zum Detail. Eine Mockumentary, in der weder der Name einer besagten Kritikerin noch der eines bestimmten Choreografen fällt. Es ist ein selbstreflexives Stück von Theaterleuten über Theaterleute und auch ein Stück über Machtstrukturen und Gruppendynamiken im Allgemeinen. Geschrieben mit einer großen Leidenschaft für alles Doppelbödige. Man kann sich vorstellen, dass vieles von dem Gesagten der Wirklichkeit entspricht. Und das ist das Entscheidende.
"Die Hundekot-Attacke" ist Realität und Rätsel zugleich, und es ist ein Text, wie er vermutlich nur in Jena möglich ist. Denn das Theaterhaus Jena wird seit jeher von Kollektiven geleitet, das Ensemble leitet sich gewissermaßen selbst. Es gibt mit Lizzy Timmers und Maarten van Otterdijk zwar eine künstlerische Leitung, aber im Kern entscheidet das Ensemble. Es entscheidet über den Spielplan, es lädt Regisseurinnen und Regisseure zum Vorsprechen ein, und es erfindet Texte wie die "Hundekot-Attacke".
Das Schöne und das Schreckliche
Bei meinen Vorbereitungen zu dieser Laudatio habe ich euch zum kollektiven Arbeiten befragt. Und eure Antworten in zwei Kategorien unterteilt:
1) Das Schreckliche am kollektiven Arbeiten
2) Das Schöne am kollektiven Arbeiten
Das Schreckliche:
Die Eigenverantwortung, viele verschiedene Menschen haben viele verschiedene Vorstellungen, die unglaublich langen Prozesse, die Textarbeit, das Chaos, das ständige Aushandeln von: Wer hat wann Recht, und wer hat eigentlich welche Expertise?
Das Schöne:
Die Eigenverantwortung, viele verschiedene Menschen haben viele verschiedene Vorstellungen, die unglaublich langen Prozesse, die Textarbeit, das Chaos, das ständige Aushandeln von: Wer hat wann Recht, und wer hat eigentlich welche Expertise?
Und: Wenn am Ende eine Vorstellung rauskommt, mit der sich alle identifizieren.
Kein Nullsummenspiel
Ich habe großen Respekt vor eurem kollektiven Arbeiten, und gleichzeitig bin ich auch ziemlich neidisch. Denn ich arbeite und schreibe immer allein. Oft wünsche ich mir in diesem stillen Schreiben einen Zuruf, den Austausch, ein Gedanken-Ping-Pong. Dann wünsche ich mir ein Kollektiv. Es müsste aber bitte unbedingt eines wie eures sein. Damit beim Schreiben möglichst immer etwas so Schonungsloses und Vielschichtiges, so Witziges und Kluges dabei herauskommt wie in eurem Text.
Bei meinen Vorbereitungen zu dieser Laudatio habe ich im Netz eine Anekdote gefunden. Ein Professor wird gefragt: "Was ist wichtiger, das Kollektiv oder die Persönlichkeit?" – "Selbstverständlich das Kollektiv", antwortet der Professor, "aber nur dann, wenn es aus Persönlichkeiten besteht. Denn die Summe von Einsen ist stets größer als Eins. Während die Summe von Nullen stets gleich Null ist."
Vielen vielen Dank dafür, dass Ihr Eins-A-Persönlichkeiten euch die Arbeit gemacht habt, im Kollektiv zu arbeiten! Und vielen Dank für Eure und Ihre Aufmerksamkeit!
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