Unterwegs zur Digitalen Sparte

Editorial

Berlin, 2. Juli 2020. Seit einem guten Jahrzehnt erstarkt das Gespräch über die Möglichkeiten von Theater im Netz. Angeschoben wurde es durch Konferenzen wie Theater und Netz von nachtkritik.de und der Heinrich-Böll-Stiftung seit 2013 gemeinsam veranstaltet, Festivals und Barcamps. Inzwischen wird der Sektor zunehmend großzügig durch die öffentliche Hand gefördert. Mit der Gründung der Dortmunder Akademie für Theater und Digitalität positioniert sich das Netztheater theoretisch und praktisch. Aber einen Schub an Netztheater-Aktivität wie in den Monaten seit Einbruch der Corona-Pandemie gab es noch nie. Die Not machte die Tugend. Über Streamings erreichten klassische und neuere Repertoire-Theaterproduktionen erstmals ein überregionales, ja internationales Publikum. Frische Online-Produktionen für Livestreams entstanden. Es sprossen die Monologe, neue Kurzdramen, auch komplexere Ensemble-Inszenierungen.

"Ist das noch Theater?"

Jede Begegnung mit einem neuen Medium sorgt für einen Schub an Selbstreflexion. "Ist das noch Theater?" steht wie ein großes Fragezeichen über dem Korpus der Netztheaterproduktionen. So wie das Aufkommen von Speichermedien wie Film und Fernsehen das Theater auf seine eigenen Qualitäten "Liveness" und physische "Ko-Präsenz" von Spielerin und Publikum stieß, so stellt die Netzumgebung neue Fragen ans Theater. Das analoge Miteinander in einem gemeinsamen physischen Raum fällt aus. Aber schwindet damit auch die Gemeinschaft von Spielerin und Publikum? Und fehlt das, was die Darstellungskunst des Theaters ausmacht?

 

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Wir haben in diesen Wochen erlebt, wie Theaterproduktionen Konferenz-Apps, Chats, Messenger-Apps, Abstimmungs-Tools und ähnliches benutzten, um ihr Publikum wieder näher an die Inszenierungen heranzuholen. Wir sahen Versuche, ein intensives Feedback zwischen Spielenden und Schauenden zu schalten. Man sitzt nicht mehr in einem physischen Raum, nein. Aber doch lassen sich die Online-Räume mit nur ein wenig Vorstellungskraft als gemeinsame Räume begreifen, wenn die Interaktion stimmt, wenn man anspricht und sich angesprochen fühlt.

Und wie steht es um die Darstellungskunst? Die Flut an Monologen und Schauspieler*innen-Nahansichten (auf Bühnen oder daheim) war sicher auch ökonomischen Gegebenheiten geschuldet. Aber man vernimmt in diesen Auftritten doch auch einen Schauspiel-Purismus und eine Besinnung auf die basalen Qualitäten des Theaters: seine Kraft, abwesende Welten aus Gesten zu erschaffen. Wo der Film seine Geschichten aus der manifesten Umwelt heraus erzählt, da entsteht die ungleich abstraktere Welt des Theaters ganz aus den Spieler*innen heraus. "Wir können uns einen leeren Raum einrichten. Das macht unsere Zunft aus", sagte Burgtheaterschauspielerin Maria Happel jüngst in unserem Schauspielschultext.

Eine Bilanz

Für unser Netztheater Special zum Abschluss der Saison im nachtkritikstream haben wir Inszenierungen versammelt, die uns helfen, diese Fragen an das kommende Online-Theater zu fokussieren und weiterzudenken.

In der Schauspielschul-Inszenierung Wir sind noch einmal davongekommen, die der Schauspieler Marcel Kohler mit Studierenden der Münchner Theaterakademie "August Everding" nach dem Drama von Thornton Wilder online inszenierte, sehen wir ein Ensemblestück, das in atemberaubender Dynamik einen gemeinsamen Raum zwischen den an sich isolierten Konferenz-Bildschirmen erstellt. Es ist ein Theater der gestischen Verknüpfung, das sich mit einer Rasanz und Spielfreude irgendwo zwischen Commedia dell'arte und Herbert Fritsch einen imaginären Spielraum schafft.

Gro Swantje Kohlhofs siebenteilige Hogwarts-Exkursion zeigt, wie sich in einer langsamen Aufbaudramaturgie aus der individuellen Geste eine zunehmend komplexe Erzählstruktur entspinnt. Sie schafft in ihrer Zoom-Performance geräumige Vorstellungswelten mit alltäglichen Requisiten. Die Zuschauer*innen werden mittels Stickern als Figuren aus dem Harry-Potter-Universum imaginiert und eine virtuelle Lagerfeuerstimmung hergestellt, bis Kohlhof in der siebten, letzten Folge tatsächlich am Lagerfeuer sitzt, alleine auf der leeren Bühne der "Kammer 1", wo das Publikum im Laptop auf dem Stuhl neben ihr versammelt ist und das "echte Theater" aber nicht nur vermisst, sondern eben auch neu erfunden worden ist.

In Christopher Rüpings Dekalog (frei nach der Filmvorlage von Krzysztof Kieślowski) wurde über insgesamt neun Episoden hinweg intensiv an der Teilhabe des Publikums geforscht. Wie kann ein (Massen-)Publikum mit Ted-Abstimmungen das Geschehen beeinflussen. Wie kann es gar in die Rolle von Figuren rutschen? Wie entsteht eine Figur auf der Theaterbühne rein aus einem Frage-und-Antwortspiel zwischen Akteur*in und Zuschauer*innen im Live-Chat? Im "Netztheater Special" zeigen wir drei Episoden, die diese Forschungsarbeit in ihrer wachsenden Komplexität nachvollziehen lassen.

Dass ein Theater, welches die Zuschauer*innen gezielt mitdenkt, nicht notwendig interaktiv sein muss, beweist die Dating-Serie Zeit für einander von Anne Lenk, Cammil Jammal, Philipp Arnold & Ensembles. Als sei Arthur Schnitzlers "Reigen" ins Internet verpflanzt worden, begegnet man hier wechselnden Paaren, die per Speed-Dating eine Liaison anbahnen wollen. Und sobald man die Akteur*innen in neuer Konstellation wiedertrifft, eilt das Wissen um ihre Vorlieben, ihre Gesprächsstrategien, ihre kleinen, längst preisgegebenen Geheimnisse dem neuen Treffen voraus. Es ist ein subtiles Spiel mit dem stillen Mehrwissen des Publikums. Die bereits veröffentlichten Staffeln 1 und 2 werden am Montag zu sehen sein. Zum Abschluss des "Netztheater Specials" gibt es Staffel 3 als Premiere.

Wie Zuschauer*innenteilhabe auch in Struktur und Architektur digitaler Angebote mitgedacht und -organisiert werden kann, haben seit März diverse Festivals und Konferenzformate vom Barcamp #Weltübergang über die re:publica oder On/Live am Düsseldorfer FFT erprobt. Besonders bemerkenswert erschien hier die Rahmung des Festivals Radar Ost im Deutschen Theater Berlin, für das das Künstlerduo Cyberräuber eine digitale Replik des Deutschen Theaters schuf, in dem die verschiedenen Angebote des Festivals abrufbar waren. Die virtuelle Kopie des DT trat aber nicht allein als Benutzer*innenoberfläche an, die quasi das Interface verräumlichte und auf diesem Weg die frontale Sendestruktur auflöste, die das Streamen hat. Es trat mit dem Anspruch an, gestaltetes Kunstwerk von eigenem Rang zu sein.

Gemeinsam besprechen, weiterkommen

Was können wir aus der Praxis dieser Künstler*innen mitnehmen? Welche Anregungen geben ihre Experimente? Wir wollen in kleinen, gezoomten Künstler*innengesprächen im Anschluss an die Präsentationen die Verfahren und Perspektiven der Theaterarbeit im Netz diskutieren. Gern nehmen wir Publikumsfragen über unseren Kommentarbereich oder über die Chat-Funktion auf unserer Seite in die Gespräche auf.

Die Corona-Geißel ist nicht besiegt, das Live-Theater wird noch länger mit reduziertem Platzangebot zu kämpfen haben. Man darf das mit einem weinenden Auge anblicken. Aber die Potenziale des Netztheaters an Reichweite, an Überregionalität, an popkultureller Anbindung haben sich in diesen Monaten angedeutet. Sie auszuschöpfen heißt, die begonnene Arbeit fortzuführen. Wenn uns nicht alles täuscht, wird der Frühling unseres Missvergnügens die Morgenröte der Digitalen Sparte sein.

 

Hier finden Sie das Gesamtprogramm des Netztheater Specials
vom 3. Juli bis 7. Juli 2020

 

In Fortführung der gemeinsamen Forschungsarbeit und als Ersatz für die 2020 ausgefallene Konferenz Theater und Netz planen nachtkritik.de und die Heinrich Böll Stiftung eine Publikation zum Stand des Netztheaters im Herbst diesen Jahres.

 

Mehr zum aktuellen Netztheater auf nachtkritik.de:

Intime Räume – Wie das interaktive Netztheater den Zuschauer für sich entdeckt 
von Christian Rakow, 2. Juli 2020

Am virtuellen Lagerfeuer – Wie die Theater in der Corona-Krise Videokonferenz-Apps als Spielwiese entdecken von Sophie Diesselhorst, 3. Juni 2020

nachtkritikstream – Wie das Streamen von abgefilmtem Theater der Bühnenwelt neue kulturelle Bedeutung verschaffen kann von Christian Rakow, 12. April 2020