Der Hausmeister der Aufklärung

16. Mai 2024. Der Jubel über Lina Beckmanns grandioses Roland-Schimmelpfennig-Solo "Laios" setzte sich auch am zweiten Gastspielabend standesgemäß fort. Im anschließenden "Nachtgespräch" war dann zu erfahren, wen sich die Ausnahmeschauspielerin während ihres singulären Auftritts insgeheim durch die Bühnentür treten wünscht. 

Von Sophie Diesselhorst, Esther Slevogt und Christine Wahl

Publikumsgespräch zu "Laios" im Haus der Berliner Festspiele © cwa

16. Mai 2024. Jubel und stehende Ovationen vermeldeten wir gestern nach der Theatertreffen-Premiere des großen Lina-Beckmann-Solos "Laios" vom Hamburger Schauspielhaus in der Regie von Karin Beier – und genau so ging es auch nach der zweiten Vorstellung weiter: Wieder und wieder wurde die Ausnahmeschauspielerin beim Schlussapplaus herausgeklatscht, und niemanden im Saal hielt es dabei auf dem Sitz.

Für Lina Beckmann endete mit der gestrigen Vorstellung gleichzeitig ein gigantischer Festival-Marathon: Sie habe den Abend noch nicht einmal während der Endproben so oft hintereinander gespielt wie während der letzten Tage, erzählt sie beim "Nachtgespräch" nach der Vorstellung: Das Theatertreffen war allein im Mai bereits ihre dritte Festival-Station; sie hatte vorher bereits beim Heidelberger Stückemarkt und bei den Mülheimer Theatertagen gastiert. Es sei großartig, auf wie viele neue Dinge man stoße, wenn man den Abend in dieser Frequenz spiele, berichtet sie vom Podium und ruft: "Aber morgen hab` ich frei" – und diese Tatsache mache sie gerade ebenfalls sehr glücklich.

In der Kinderstube der Demokratie

Überhaupt wird die gestrige Veranstaltung als Abend der schönen Sätze in die Theatertreffen-Annalen eingehen. Schon Roland Schimmelpfennigs "Laios"-Stück selbst legt diesbezüglich ja gut vor. Und beim Nachtgespräch ging es damit nahtlos weiter. Der Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaftler Joseph Vogl, der diesmal als Impulsgeber eingeladen war, entdeckte im griechischen Chorführer den "Hausmeister der Aufklärung" und hatte außerdem ein luzides Quantum Trost parat: "Wenn der tragische Held" – wie es in Schimmelpfennigs Antiken-Überschreibung der Fall ist – "mit dem Moped zum Schnellimbiss fährt, kann die Welt nicht so schrecklich sein", befand er.

Schimmelpfennig selbst unterstrich dann die Unverzichtbarkeit des Theaters mit der feinen Formulierung, es handele sich um "die Kinderstube der Demokratie" – und brach noch eine Extra-Lanze fürs Kinder- und Jugendtheater. Der Bühnenkünstler des Abends, Johannes Schütz, kam bei seinen Einblicken ins besondere Anforderungsprofil an den Spiel-Raum auf wunderbar einleuchtende Vergleiche: "Er muss wie ein großes Kinderzimmer und gleichzeitig ein guter Konzertsaal sein."

Detail aus dem Bühnenbild von Johannes Schütz zu "Laios" vom Deutschen Schauspielhaus Hamburg @ sle

Lina Beckmann unterstrich auf Publikumsnachfrage noch einmal – wie schon im Interview auf dem Festivalportal im Auftrag der Mülheimer Theatertage – wie sehr sie als Solistin des Abends im unmittelbaren Spielprozess oft einen Spielpartner vermisse und brachte dies auf den einleuchtenden Punkt: "Manchmal wünsche ich mir, die Tür geht auf und da kommt er mal, der Ödipus!"

Und schließlich gab es noch die wunderbare Wendung von der "Ergänzungsenergie", dem das Publikum – so Johannes Schütz – im Theater ausgesetzt werden müsse. Er griff damit die Freude Vogls darüber auf, dass das Publikum in "Laios" selbst die Chance zu Imaginationen bekomme statt mit selbigen etwa durch ein opulent die Dinge vereindeutigendes Bühnenbild vom Szenario herab "geflutet" zu werden.

Den Topos von der "Ergänzungsenergie" greifen wir hier direkt auf. Da heute beim Theatertreffen programmfrei ist, lässt sich das Glück der individuellen Leerstellen-Füllung nämlich ganz besonders gut erproben!

(cwa)

Abgründe der Zivilisation

15. Mai 2024. Das letzte Wort war kaum gesprochen, da brach schon der Jubel los. Wobei Jubel die Sache nicht wirklich adäquat beschreibt. Es war, als ob sich da noch tiefere und abgründigere Gefühle entluden.


Es war ein Abend, der sich an den Abgründen der Zivilisation entlang bewegt: Text und Spiel füllen gemeinsam die weitgehend leere Bühne, wie Michael Wolf in seiner Kurzkritik schreibt, "und zwar, was wirklich ungewöhnlich ist bei Uraufführungen, eben mit starken, mit einprägsamen Bildern." Man habe sie, so Wolf, die ganze Zeit "lebhaft vor Augen, auch wenn Beckmann das meiste nicht spielt, sondern nur schildert.

Der Mond über dem Festspielhaus

Eine Beschwerde hat die Kritikerin Eva Marburg in der Zeitung "Freitag". Und zwar wurde ihr von einer Gruppe schwarz gekleideter und mit Headset ausgestatteter Agent:innen der Besuch der "Vaterlosen" verwehrt, weil sie elf Minuten zu spät kam. Nun...

Derweil schien der Mond ganz unbeeindruckt über'm Festspielhaus, und auch die Nachbarn in den umliegenden Häusern, die in Vorjahren schon mal dazu neigten, bei zu starkem Nachvorstellungsgemurmel unter den Kastanien die Nachtruhe mit Hilfe der Polizei zu erzwingen, blieben offenbar ruhig.

(sle)

 

Ungeheuer Mensch

14. Mai 2024. Wir leben im "Anthropozän", dem Zeitalter, in dem der Mensch prägender Faktor aller (auch geologischen) Entwicklungen ist. Nicht zum Segen unseres Planeten, wie wir wissen. Heute läuft beim Theatertreffen "Laios", Teil von Karin Beiers Antikenprojekt "Anthropolis", das den Ursprüngen dieser Entwicklung nachspürt.

Das Ungeheuer Mensch, das sich so frech als Krönung der Schöpfung begreift, die es aktuell aber im Begriff ist, zu zerstören, ist der Forschungsgegenstand in Karin Beiers Antikenzyklus "Anthropolis". Die Reihe heftet sich an die Spuren der Gründungsmythen unserer Zivilisation. Besonders der nach dem Vater des Ödipus benannte zweite Teil, "Laios" nämlich, macht aktuell Furore.

Lina Beckmann oder: Das Publikum als Spielpartner

Was nicht nur dem Text von Roland Schimmelpfennig sondern insbesondere auch dem solistischen Spiel von Lina Beckmann zu verdanken ist. Es gab Einladungen unter anderem zum Heidelberger Stückemarkt, jetzt zum Theatertreffen eben und außerdem eine Nominierung für den Mülheimer Dramatikpreis. Weil nachtkritik.de das Festival rund um den bedeutenden Preis für Neue Dramatik mit einer eigenen Festivalseite begleitet, konnte Marlene Drexler für nachtkritik.de Lina Beckmann schon im Vorfeld befragen. Also Lina Beckmann, how did you do it?

"Ich bin ja gerade das erste Mal mit "Laios" auf Gastspiel. In Heidelberg war der Raum sehr klein mit 500 Plätzen und das war für mich schon komisch. In Hamburg passen 1.200 Menschen in den Saal. Das heißt, man muss immer gucken, wie sind die Räume, wie ist die Kraft – muss ich da was anpassen, Kraft reduzieren? (...) Der Abend kann dadurch schon sehr unterschiedlich ausfallen. Das Publikum ist bei "Laios" eigentlich wie ein Spielpartner für mich, der jedes Mal ein bisschen etwas anderes einfordert."

Hier das komplette Interview mit Lina Beckmann.

Kleine Hegemann-Meyerhoff-Debatte 

Und sonst? Im Anschluss an den gestrigen Bericht über den Crash beim Publikumsgespräch zu Jette Steckels "Die Vaterlosen", das die Abteilung in der Redaktion "Infinite Jest" in der Redaktion auch zu einer kleinen Umfrage inspirierte, entspann sich auf Twitter / X noch eine keine Debatte, in die sich unter anderem der Soziologe Steffen Mau eingemischt hat.

 

 

Und dann hat neue Theaterpodcast dem Internationalen Forum, bei dem sich im Rahmen des Theatertreffens Theaterleute aus aller Welt begegnen, einen Besuch abgestattet.

(sle)

 

Gesprengt

13. Mai 2024. Jette Steckels Inszenierung des Tschechowerstlings "Die Vaterlosen" besticht nicht zuletzt durch den virtuosen Umgang mit der vierten Wand, die mal steht, mal fällt. Das ging auch beim Publikumsgespräch munter so weiter. Nicht ganz freiwillig allerdings...  

Nach einer knappen Stunde sprengte Joachim Meyerhoff in einem Akt des zivilen Widerstands das Nach(t)gespräch, das im Anschluss an die zweite Vorstellung im oberen Foyer des Hauses der Berliner Festspiele stattfand. "Dad Man Talking" Carl Hegemann hatte da das Mikro und auch die Runde an sich gerissen. Plötzlich ging es, statt um Tschechow und Jette Steckels Regiezugriff auf dessen mäanderndes Erstlingswerk, um Schlingensief und Burkina Faso.

Von rechts nach links: Joachim Meyerhoff, Carl Hegemann, tt-Jurorin Eva Behrend, Impulsgeberin Rebecca Ajnwojner, Dramaturg Tobias Schuster, Wiebke Puls, Jette Steckel und Moderator Florian Malzacher © sle

Eratische Mitteilungen aus vergangenen Zeiten und ohne Kontakt zur Gegenwart. Fast, als wäre das noch ein Teil der Inszenierung – wo Hegemann immer mit anderem Gast (an diesem 2. TT-Abend war es Dramaturgielegende Wolfgang Storch) als eine Art personifizierter V-Effekt in Erscheinung tritt. Als "Vater der Vaterlosen" wie er sich selber bezeichnete – und damit auch eine gewisse Diskursmacht über das Geschehen begründete.

Aber hier, jenseits der Inszenierung, ging Joachim Meyerhoff nun nicht mehr mit. Er habe durchaus andere Möglichkeiten, sich zu zeigen, so Meyerhoff mit einem Ton, der nach einer seltenen Mischung aus Erschöpfung und Ärger klang. Nach Burkina Faso wolle er nun nicht mehr. Er zog Mütze und Jacke an und ging.

Westfälische Kosonantenzerdehnung

Schon in den Stunden zuvor war beim Zuschauen der "Vaterlosen" von Jette Steckel immer mal wieder die Frage entstanden, ob der Furor, mit dem Meyerhoff alias Platonow auf die Figur des "Carl" reagiert, tatsächlich nur gespielt ist – die allergischen Reaktionen auf dessen westfälische Konsonantenzerdehnung beispielsweise, die etwa aus dem Wort "wirkt" "wiakt" macht ...

Jedenfalls war damit das Publikumsgespräch gesprengt. Eingeleitet hatte es die Dramaturgin Rebecca Ajnwojner mit einem kleinen Impuls, der aber lediglich aus ein paar Eindrücken bestand, die während des Zuschauens entstanden waren – darunter auch der Hinweis, dass die von dem Abend immer wieder gestellte Frage "Was ist der Mensch" eben im Grunde immer noch auf den weißen Mann bezogen sei – was auch ein Grundproblem der Aufklärung an sich gewesen sei. Denn nicht alle seien eben in diesen Begriff vom Menschen eingeschlossen gewesen. Daraus ergab sich dann für sie auch die Grundfrage nach dem Erbe, die dieser Abend aus ihrer Sicht stellt: Was werden wir hinterlassen haben? Politisch. Ökologisch. Ökonomisch. Gesellschaftlich.

Berliner Theaterpreis für Nele Hertling

Und sonst: Am Vormittag hatte Nele Hertling den Berliner Theaterpreis erhalten. Zur Feier dieser herausragenden Theaterfrau, ohne die die Theaterlandschaft in Berlin heute eine andrere und vermutlich weniger vielfältige wäre, gab's Champagner der Marke Pommery – powered by Pommery höchstselbst.

In der FAZ wirft die Verleihung des Kerr-Darsteller*innenpreises am kommenden Wochenende bereits seine Schatten voraus – und zwar in Gestalt eines Interviews mit Alleinjurorin Ursina Lardi. Ihr falle das Wahrnehmen der Kolleg*innen mitunter nicht leicht, gibt sie hier unter aderem zu Protokoll, "weil die Spielenden oft zugemüllt werden mit allem möglichen Zeug – Sounds, Videos, Lichteffekte, Raumplanungen, Regiekonzepte. Und, nun ja, nicht immer gibt es da eine inhaltliche Notwendigkeit – häufig sind es lediglich Gewohnheit, Mode, Reproduktion eines einmal gefundenen Rezeptes. Wie soll ein Schauspieler unter all diesem Ballast künstlerisch abheben können? Allein schon die allgegenwärtigen Mikroports."

(sle)

 

Was ist der Mensch?

12. Mai 2024. Gestern kamen "Die Vaterlosen" von Jette Steckel aus München zum Theatertreffen – ein Schauspielfest. Außerdem präsentierten sich die Teilnehmer*innen des Internationalen Forums. Und es läuft die Konferenz "Burning Issues" zu Geschlechtergerechtigkeit im Theater, von der wir auch berichten

"Wir waren fürs Schauspielerfest gekommen. Und wir haben das Schauspielerfest gekriegt", schreibt Christian Rakow in seinem Shortie zum Theatertreffen-Gastspiel von Jette Steckels Tschechow-Inszenierung "Die Vaterlosen" von den Münchner Kammerspielen. Quintessenz des Abends sei: "Der Mensch ist Mensch, insofern er von sich selbst getrennt ist. Er ist per se ein Rollenspieler. Und das Theater ist der Ort, an dem er seine Konflikte friedlich ausagieren kann." 

Das Internationale Forum präsentiert sich

Wie das wohl die Teilnehmer*innen des Internationalen Forums sehen, die beim Theatertreffen traditionell mit sehr politischen Positionierungen auftreten? Am Samstag präsentierten sie sich und ihre Arbeit in der Kassenhalle des Hauses der Berliner Festspiele. Auffällig war, dass sehr viele von ihnen in ihrer Berufsbezeichnung tatsächlich auch "Aktivist*in" oder "Artivist*in" stehen hatten. Die Bühne wurde aber doch eher für künstlerische Statements genutzt. Einige von ihnen interaktiv, wie bei Anastasija Harrowna Bräuniger, die das anwesende (mutmaßlich größtenteils aus Theaterbetriebsangehörigen bestehende) Publikum dazu aufforderte, sich mit einer*m unbekannten Nebensitzer*in zur Frage "What do you need to talk about the Middle East?" auszutauschen. Was erst einmal sperrig wirkte, entpuppte sich als gute Gesprächsgrundlage. Die weitere Handlungsanweisung: "Try and fail. Try again and fail again" gab das politische Statement der Künstlerin dazu: Wichtiger als direkt "die richtige Antwort" zu kennen ist es, im Dialog zu bleiben.

Beim Internationalen Forum Junger Bühnenangehörger © sd

Bei Nitish Jain versetzte sich das Publikum in den "Chaatak" hinein, einen Zugvogel, der jedes Jahr zur Monsunzeit nach Indien migriert. Die Illusion, als Mensch wirklich in das Bewusstsein eines Vogels einzusteigen, wurde schön versinnbildlicht von den Luftballons, die alle erst aufblasen und dann wieder loslassen sollten, so dass sie pupsend durch die Kassenhalle flogen. Kunst muss nicht heilig sein.

Geschlechtergerechtigkeit und Solidarität: "Burning Issues"

Im Rahmen des Theatertreffens findet an diesem Wochenende außerdem seit Freitag abend die sechste Ausgabe der "Burning Issues" statt, Thema: Solidarität. Seit die Konferenz 2018 aus der Taufe gehoben wurde, hat sie die Themen Geschlechtergerechtigkeit und Chancengleichheit mit großer Wirkmacht in der Kulturlandschaft platziert. In ihrem Halbzeitbericht zur diesjährigen Ausgabe schreibt Katrin Ullmann: "Die Keynotes sind eine Mischung aus Bestandsaufnahmen und Forderungen, sind ein Austarieren zwischen Realität und Utopie. Sichtbar gemacht wird absolut wertvolle Arbeit, aber anregende Impulse oder Reibungsflächen bieten die Vorträge nicht."

(sd)

 

Jeanne d'Arc der Freien Szene

11. Mai 2024. Halbzeit beim Theatertreffen: Die ersten fünf Gastspiele sind gelaufen, heute Abend eröffnet Jette Steckels Tschechow-Inszenierung "Die Vaterlosen" die zweite Festival-Hälfte. Gestern gab's keine Gastspiel-Premiere und auch kein Diskursprogramm; die Zeichen standen auf Durchatmen.

Beziehungsweise: auf Warmlaufen – fürs soeben angebrochene hyperdichte Wochenende. Im rbb flicht Barbara Behrendt zum Beispiel schon mal einen Ehrenkranz für die "Jeanne d’Arc der Freien Theater- und Tanzszene", Nele Hertling, die am morgigen Sonntag mit dem Theaterpreis der Stiftung Preußische Seehandlung ausgezeichnet wird. "Nele Hertling hat die Freie Szene in Berlin nicht nur geprägt – sie hat sie erfunden", gratuliert Behrendt: Als die heute 90-jährige Hertling Anfang der 1960er Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin an die Akademie der Künste kam, existierten weder ein Bewusstsein, geschweige denn Gelder oder Orte für die künstlerische Arbeit jenseits institutionalisierter Strukturen. Hertling war es auch, die später, als langjährige Leiterin des Berliner Hebbel-Theaters (heute HAU) in den 1990er Jahren als erste die internationale Performance-Szene nach Berlin holte.

In Barbara Behrendts Beitrag erinnert sich Hortensia Völckers, die ehemalige Leiterin der Bundeskulturstiftung, an die Zusammenarbeit mit ihr: "Sie schlug sich, genau wie ich, mit sehr vielen Männern herum. Ich konnte sehen, mit wie viel Eleganz sie doch sehr genau durchsetzte, was sie wollte – und das war eindrucksvoll." Nele Herling hat – wie alle Avantgardistinnen und Avantgardisten – im Lauf ihrer Karriere gegen viele Widerstände gekämpft.

Womit sich Künstler*innen heute in der dramatischen Arbeitswelt herumschlagen, ist ebenfalls Thema dieses Wochenendes beim Theatertreffen: Die Konferenz "Burning Issues" ist wieder beim Festival zu Gast, die diesjährige Ausgabe steht unter dem Motto "Solidarität mit unserer Gegenwart" und fragt nach "solidarischen Praktiken im Angesicht aktueller Herausforderungen und globaler Krisen". Nachtkritikerin Katrin Ullmann ist gerade vor Ort. Heute Nachmittag geht es hier mit ihrem Bericht weiter.

(cwa)

 

 

These boots are made for Orking

10. Mai 2024. Vielleicht hätte das "Nachtgespräch" zum Gastspiel von "Riesenhaft in Mittelerde" besser einfach im Bühnenbild der Inszenierung stattfinden sollen – der atmosphärische Bruch von schummriger Partystimmung zu hell erleuchtetem Foyer war auf jeden Fall riesig, und dementsprechend kam auch nur ein Teil des Publikums mit.

Zunächst wurde noch einmal die Geschichte der Produktion aufgerollt. Die Idee, den "Herrn der Ringe" aufs Theater zu bringen, stammte vom inklusiven Zürcher Theater Hora, das sich dann das Schauspielhaus Zürich und die Puppentheatertruppe Das Helmi ins Boot holte.

Regie habe man reihum zu viert geführt, erzählt Schauspielhaus-Intendant Nicolas Stemann, der außerdem als musikalischer Elf jammend durchs Bühnenbild zog und zum Beispiel zusammen mit einer Zuschauer:innengruppe einen Kanon der Ork-Lieder improvisierte ("These boots are made for Orking").

Eine Gemeinschaft werden

Stephan Stock vom Theater Hora, der fürs Theatertreffen-Gastspiel als Frodo eingesprungen war, beschrieb die Aufgabe des Projekts noch einmal so: "eine Gemeinschaft zu werden, auch mit dem Publikum". 

Für Konstantin Langenick, der einen Input zum Nachgespräch gab, war das auf jeden Fall gelungen. Langenick, selbst Ensemblemitglied des inklusiven Berliner Theater Thikwa, lobte die gelungene "relaxed performance" und den immersiven Charakter der Inszenierung. Er habe sich als Zuschauer direkt als Teil des Geschehens gefühlt und sich außerdem auch "detailmäßig in das Stück verliebt" – wozu die etlichen liebevoll geschnitzten Schaumstoffmasken und -puppen des Helmi sowie die von den Darsteller:innen unter professioneller Anleitung selbst geschneiderten Kostüme auch wirklich reichlich Anlass boten.

Die Garderobe im begehbaren Bühnenbild © sd

Tenor des "Nachtgesprächs" war die erfolgreiche Überwindung: von Egos (Stemann), von "Schwellen von Verkrampfung" (TT-Jurorin Valeria Heintges), von Geschlechterkategorien (Konstantin Langenick). Und die gute Arbeitsatmosphäre, die nach außen weiterzugeben die Produktion sich zur erfolgreichen Mission gemacht hat, wurde auch in diesem Rahmen noch einmal beglaubigt.

(sd)

 

Die Party und die Stille

9. Mai 2024. Gleich zwei Festivalpremieren gingen gestern Abend über die Bühnen – im Haus der Berliner Festspiele wurde es bei "Riesenhaft in Mittelerde" immersiv. Elena Philipp schwärmt von einem "Bühnenfest" und hat eine Idee für die Zukunft seines Regisseurs, der als Intendant in Zürich in ein paar Wochen aufhört ...

In der Schaubühne lief "Bucket List" von Yael Ronen und Shlomi Shaban. Esther Slevogt hat sich's zum dritten Mal angeschaut und reflektiert im Shortie die Archäologie ihrer Gefühle beim Zuschauen. Obwohl sie gar nicht explizit Bezug drauf nimmt, wird die Produktion sehr stark mit dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und den Folgen in Verbindung gebracht. Vielleicht auch der aufgeheizten Stimmung mit Demos und Uni-Protestcamps wegen, die jedes Gespräch über die Lage in Nahost gerade verunmöglicht, gab es zu "Bucket List" ausnahmsweise kein Publikumsgespräch, sondern stattdessen "nur" eine Laudatio der Publizistin Carolin Emcke, die darin auch beschrieb, wie der Abend es ihr nach dem 7. Oktober ermöglicht hätte, aus der Agonie wieder ins Fühlen zu kommen. Und wie man der Stille nur gemeinsam lauschen kann.

Walking in the fog: Das Ensemble von "Extra Life" beim Applaus am 8.5. © sd

Im Hans-Otto-Theater Potsdam lief außerdem noch einmal Gisèle Viennes "Extra Life". "Die 10er Auswahl des Theatertreffens wagt sich hier in Grenzbereiche vor," schreibt Konrad Kögler im Kommentarforum. "Auch räumlich ist der Abend in der Peripherie des Festivals. Das Hans Otto Theater liegt so weit am Rand der brandenburgischen Landeshauptstadt, in der das Leben an diesem Feiertags-Vorabend sowieso nicht brodelt, dass sich das Publikum schon um 21.30 Uhr mit überfüllt vor sich hinschaukelnden Nachtbussen nach Wannsee durchschlagen muss. Dort fährt aber auch nur im 20 Minuten-Takt die nächste S-Bahn ins Berliner Zentrum. Ein Festival-Shuttle wäre deshalb eine sehr gute Idee gewesen!"

Einige Zuschauer:innen suchten auch das Weite. Ob es nun am schönen Wetter lag, das der Inszenierung Konkurrenz machte, an der Inszenierung selbst, die in knapp zwei Stunden ein Wechselbad der Atmosphären unterbringt und das deutsche Publikum mit einer ordentlichen Dosis second degré in den Dialogen vielleicht auch teilweise kulturell überforderte? Oder lag's ganz banal am Bühnennebel, der die Atemwege reizte ...?

Schon bei der Theatertreffen-Eröffnung mit "Nathan der Weise" war der Nebel ja ein wesentliches Gestaltungselement des Bühnenbilds. Im Laufe des Festivals verdichtet er sich nun also immer weiter, und Wetten darüber werden entgegengenommen, wieviel Kubikmeter noch bis zum 21. Mai durch die Säle wabern werden.

(sd)

Hart am Berliner Ring

8. Mai 2024. Nach einer kleinen Pause ging's nun also mit den Gastspielen der Zehnerauswahl weiter, mit "Extra Life" von Gisèle Vienne, das vergangenes Jahr bei der Ruhrtriennale herauskam. Das Theatertreffenpublikum wurde mangels geeigneter Spielstätten vor Ort nicht zum ersten Mal in eine Spielstätte jenseits der Stadtgrenzen umgeleitet. Bereits 2022 wurde es schon mal kurzerhand nach Hamburg gelenkt.

Diesmal ging die Reise zum tt-Gastspiel von "Extra Life" ins benachbarte Potsdam ins Hans-Otto-Theater. Wobei der Kollege Fabian Wallmeier zu Protokoll gab, dass sich das in Sachen Fahrzeit nicht wirklich viel nahm.


Nachtkritiker Georg Kasch traf in Potsdam zwar auf ein Publikum, das sich deutlich vom Potsdamer Stammpublikum unterschied: Berliner Theater- und Tanzleute sowie Hardcore-Theatertreffen-Fans, nämlich. Trotzdem tat der Spielort dem Abend aus seiner Sicht nicht wirklich gut - wie er in seinem Shortie zur gestrigen Premiere schreibt.

Im Nachtgespräch: Psychoanalytikerin Mai Wegener

Das neue Publikumsgesprächsformat "Nachtgespräch" wurde von einem Impuls der Berliner Psychoanalytikerin Mai Wegener eingeleitet. Schließlich ist Gisèle Vienne eine Expertin in der Übersetzung psychischer Verfasstheiten und Traumata in Theaterbilder, arbeitet also nicht ganz unähnlich wie das Unbewusste etwa nach Ansicht des alten Dr. Freud, der die komplexen Wege gut beschrieben hat, die aus der Ohnmacht zu sprechen in den Traum oder andere Ebenen des Ausdrucks führen. Auch hier hat Georg Kasch zugehört.

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Wie high ist die Hochkultur?

7. Mai 2024. Es war wieder sehr lauschig gestern Abend unter den (ver)blühenden Kastanienbäumen vor dem Haus der Berliner Festspiele in Berlin-Wilmersdorf. Bunte Lampions leuchten fröhlich hoch oben zwischen den Ästen, und in der Dämmerung machten die quietschgelben Stühle, die im Kreis rund um die mächtigste Kastanie zum Sitzen einluden, erst recht etwas her. Die gesetzten bürgerlichen Hochkulturvergnügen funktionieren auch in Krisenzeiten weiterhin vorzüglich, wie es scheint.

Besonders, wenn die Krise so gut vertont wie in der "Rede in Es-Dur" der Klima-Aktivistin Luisa Neubauer daherkommt. Kein Geringerer als Ludwig van Beethoven persönlich lieferte nämlich mit dem 5. Satz seines 13. Streichkonzerts dazu die Musik. Und zwar, wie wir erfahren, weil 1977 Experten der US-Weltraumbehörde NASA rund um einen gewissen Carl mit der Raumsonde Voyager eine Aufnahme mit 90 Minuten Tonmaterial auf Odyssee ins Weltall schicken wollten, die etwaigen anderen Lebewesen im Universum etwas über unsere Welt erzählen können sollte. Darunter auch jener besonders aufwühlende wie herzzerreißende 5. Beethoven-Satz, "Cavatina" genannt, ein Adagio molto expressivo.

Die blinden Flecken der Aufklärung

Und so extemporierte Luisa Neubauer ihre Auseinandersetzung mit dem Menschen, der sich 1977 selbst noch in seiner Botschaft an das Universum als Krönung der Schöpfung und Triumph der Aufklärung feiern wollte – und setzte ihre Fragen an die Aufklärung dagegen, die für sie die große Impulsgeberin dieses Triumphes der Vernunft gewesen ist. Dazu muss man wissen, dass die Rede ursprünglich für die Lessing-Tage des Hamburger Thalia-Theaters entstand, damals noch von Nora Hertlein-Hull geleitet, die nun bekanntermaßen dem Theatertreffen vorsteht. Weil es mit Ulrich Rasches dystopischer Lessing-Deutung "Nathan der Weise" eröffnet wurde (der ja auch schon die blinden Flecken der Aufklärung angeprangert hat und mit dessen Inszenierung sich auch Atif Mohammed Nour Hussein in seiner aktuellen Kolumne noch einmal beschäftigt), passe die Rede nun auch hier, war wohl der Gedanke.

Beim Applaus: Luisa Neubauer und das Ensemble Resonanz @ sle

Und so sprach Luisa Neubauer im eindringlich-belehrenden Ton einer Bestnoten-Abiturientin von der Aufklärung, die nun als große Verräterin dastehe, weil der Höhenflug, zu dem sie die Menschheit einst angestiftet hat, zu Zerstörung und Leere führte. Einem Hoffnungs- und Perspektivverlust. Phrasiert wurden ihre Worte vom Streichquartett des "Ensemble Resonanz". Wenn die dramatischen Abgründe von Beethovens zerdehntem Adagio zu tief klafften, trat sie an die Seite, und das Quartett spielte ohne Neubauer-Worte. Alles grundsympathisch im Anliegen, aber in der etwas zahnlosen Naivität, mit es hier so vorgetragen wurde, auch ein wenig desillusionierend.

Ach, liebe Hochkultur, manchmal könntest Du doch wieder ein bisschen höher hinaus wollen mit deinen Analysen und Darbietungen. Mindestens die Flughöhe der Lampions in den Kastanien vor dem Haus der Berliner Festspiele sollte erreicht werden. 

(sle)

TT Blog 2024 Lampions sleStabile Flughöhe in (ver)blühenden Kastanien: Der Theatertreffen-Baumschmuck vorm Haus der Berliner Festspiele © sle

"No Lights No Lycra"

Fly high: Das verhieß tatsächlich der zweite Programmpunkt des gestrigen Festivalabends – wenn auch nicht direkt im Medium der Hochkultur, sondern im Rahmen eines astreinen Partizipationsformats: Der Höhenflug lag hier also praktischerweise komplett in der Eigenverantwortung des Publikums. Unter dem Motto "No Lights No Lycra" ging`s dafür von der Aufklärungskritik aus dem oberen Foyer zum ausdrücklich unkritischen Abhotten im Erdgeschoss und von Beethoven zu "Fun Techno, Bitchy Sounds und Hard Beats", wie es in der Ankündigung hieß.

Der Plan: 60 Minuten (selbst-)zensurfreies Tanzen, jenseits von Posing und Attraktivitätsimperativen, ohne Dresscode und (leider auch) ohne Alkohol, in einem zu diesem Zweck stark abgedunkelten Raum, hier konkret der mit schwarzen Vorhängen blickabgedichteten Festspielhaus-Kassenhalle. Es handele sich um eine Bewegung, so war zu lesen, die 2009 in Melbourne gegründet wurde und sich seither "rasant auf der ganzen Welt" verbreite. Nur in Berlin noch nicht, hier schlug sie zum ersten Mal auf.

TT Blog 2024 Kassenhalle cwaBlickdicht abgeschirmt: Die Foyer-Kassenhalle des Festspielhauses als Blackbox für "No Lights No Lycra" © cwa

Dass man im Vorfeld nicht wirklich eine konkrete Vorstellung davon gewinnen konnte, welchen heißen Trend die Hauptstadt da über geschlagene 15 Jahre verpasst haben sollte, steigerte natürlich enorm die Spannung. Genau wie die Tatsache, dass sich kurz vor Beginn neben den betriebsmilieu-affinen Theaterbeutel-Trägern mit eher scheuem Blick auch ein paar augenscheinliche Profis auf der Tanzfläche einfanden, die – was aus Versehen wahrscheinlich ein bisschen gegen die "Kein-Showtanzen"-Regel verstieß – sogleich ein höchst beeindruckendes Aufwärm- und Dehnprogramm starteten.

Partizipativer Konzepttanz

Es war dann die Festivalleiterin Nora Hertlein-Hull, die als Anmoderatorin des Abends einmal mehr das Richtige sagte. So, wie sie schon in ihrer Festival-Eröffnungsrede genau den richtigen Ton getroffen hatte. Jetzt, vor "No Lights No Lycra", verkündet Hertlein-Hull mit hohem Charme- und exakt hineindosiertem Selbstironie-Faktor, dass man eigentlich das Publikum schlicht habe zum Tanzen einladen wollen, aber da man das Theatertreffen sei, ginge das natürlich nicht ohne Konzept.

Treffender lässt sich die Veranstaltung tatsächlich nicht charakterisieren: Gepflegtes, ungestörtes Abtanzen, das sich eigentlich – vom Alkoholverbot und dem Zeitlimit abgesehen – zumindest aus Theaterkritikerinnen-Perspektive in nichts von anderen Parties unterschied. Selbst die Notbeleuchtung blieb hell genug, um die Co-Tanzenden gut sehen zu können. Aber wenn man die Veranstaltung, zu der die Leipziger Künstler*innen Cora Czarnecki und Jasmina Rezig unter dem Label no_drama@hotmail den Sound beisteuerten, wegen des Theatertreffen-Framings tatsächlich rezensentisch betrachtet, lässt sich konstatieren, dass es sich um eine ausgesprochen angenehme Veranstaltung handelte: Man konnte raus- und wieder rein- und auch komplett gehen (so wie ich, und dies nicht aus Missfallens-, sondern aus Konditionsgründen) und war überhaupt in jeder Hinsicht sehr autonom unterwegs. Da ist man im Theater wirklich schon in wesentlich unerfreulichere Partizipationsformate hineingegängelt worden!  

(cwa)


Diktat ins Ringbüchlein
 
6. Mai 2024. Das lange Eröffnungswochenende des 61. Berliner Theatertreffens ist vorbei, die Auftaktbilanzen sind gezogen – und es gibt den ersten großen Rezeptionsschock zu vermelden: Alle scheinen dieses Jahr mit der Jury-Auswahl der zehn bemerkenswerten Inszenierungen einverstanden; jedenfalls bis jetzt. Tatsächlich: Kein Rant, nirgends. Eine absolute Rarität in der Festivalgeschichte, möglicherweise gar ein Singularium!

Was ist da los? Müssen wir uns Sorgen machen? Optimistinnen und Philanthropen, die wir sind, tun wir das nicht und denken aus Prinzip positiv: Wenn es in den Basisfragen nichts zu mosern gibt, kann man sich endlich mal wieder in angemessener Ausführlichkeit dem Überbau widmen! Sprich: den Metafragen nach der Funktion der Kunst, die einem Festival wie diesem ja mehr als angemessen sind – und für die die Auftaktreden am Eröffnungsabend tatsächlich ideale Startrampen boten.

Pädagogische Philippika

So denkt nicht nur Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung stirnrunzelnd über die "pädagogische Philippika" nach, die Kulturstaatsministerin Claudia Roth dem Theaterpublikum dort "ins Ringbüchlein" diktiert habe – und "die der freien Kunst und dem Theater so ziemlich alles auflädt, was die demokratische Politik selbst vermutlich immer weniger leistet", wie Meierhenrich schreibt. Die Bühnenkunst müsse nach Roth "`Debatten- und Möglichkeitsräume` öffnen, Kontroversen verhandeln, 'frische Ideen' denken und nebenbei auch noch das 'Durchatmen' lehren".

So hehr so ein "offener Möglichkeitsraum" oder so eine "frische Idee" im Bühnenidealfall auch aussehen mag, so richtig ist, dass die Kunst zuallererst einmal gar nichts muss. Weil es sich bei ihr, wie es Carolin Emcke bereits letztes Jahr in der Süddeutschen Zeitung auf den Punkt brachte, eben gerade nicht um eine "Service-Agentur" handelt. "Die Kunst als kreative, als unruhige, als kluge, als witzige und kritische Instanz kann nur bestehen, wenn sie sich eben nicht in den Dienst stellen muss", schreibt Emcke.

Wider das Feel-Good-Theater

Logisch, dass diese Frage auch junge Regisseurinnen und Regisseure umtreibt, nicht nur, aber auch beim Theatertreffen. "Wir erleben zurzeit ein Comeback des Theaters als moralischer Anstalt", gibt die 1990 in Berlin geborene Rieke Süßkow zu Protokoll, die dieses Jahr – sehr zu Recht – zum zweiten Mal in Folge zum Bühnen-Best-of eingeladen ist. "Im Theater ist viel die Rede von den Idealen und Utopien, die wir vorleben sollen. Das empfinde ich als Disziplinierungstheater. Ein moralisches Feel-Good-Theater, das keine Widersprüche aushält", sagt sie im Interview mit Jakob Hayner in der Welt und gibt zu bedenken: "Diese Einigkeit in den Haltungsposen kommt aus einer Angst vor Auseinandersetzung." Es existiere "zurzeit eine große Angst im Theater, falsch verstanden zu werden" oder "etwas falsch zu besetzen", so die Regisseurin weiter. "Ich suche in meiner Arbeit nach einer Möglichkeit, diese Angst auszuhebeln, indem ich ästhetisch überhöhe." Sobald man mit Überhöhung arbeite, bringe man "die Parameter so grundsätzlich durcheinander, dass eine bestimmte Kritik ins Leere läuft".

In diesem Sinne: Ein Hoch auf die ästhetische Überhöhung und den produktiven Dissens – gern auch schon vor Rieke Süßkows Nürnberger Werner-Schwab-Gastspiel "Übergewicht, unwichtig: Unform". Das läuft nämlich erst am letzten Festival-Wochenende!

(cwa)

Lob der Halbdurchlässigkeit

5. Mai 2024. Es ist der dritte Abend beim Berliner Theatertreffen. Und die stehenden Ovationen, die es schon im Berliner Festspielhaus für Ulrich Rasches "Nathan"-Eröffnungsabend gab – live und an vorderster Front vom Berliner Kultursenator, später aber auch verbal in den Feuilletons –, setzen sich in der Schaubühne nahtlos fort. Auch nach der bereits dritten Theatertreffen-Vorstellung von Falk Richters autofiktionalem Abend "The Silence" hält es beim Schlussapplaus niemanden auf dem Sitz.

Und beim anschließenden "Nachtgespräch", dem zweiten des Festivals, ist es der Schauspieler Dimitrij Schaad, der am präzisesten auf den Punkt bringt, warum. "Halbdurchlässigkeit" lautet die schöne Vokabel, die er für das Phänomen findet: "Es wird eine konkrete Sache beschrieben, die aber andere Sachen zulässt", schwärmt Schaad regelrecht von dem Stück, das er auch heute wieder im Schaubühnen-Globe spielt, und zwar gleich zweimal hintereinander. Die autobiografisch grundierten Geschichten um unbewältigte Kriegserfahrungen der Eltern- und Großelterngeneration, um Homophobie in der "Fucking Nordheide" der 1980er Jahre und um hartnäckig beschwiegene familiäre Tabus hätten gleichzeitig nichts mit ihm zu tun – und alles, erklärt Schaad, der zu Sowjetzeiten in der Kasachischen SSR geboren wurde. 

Foto Nachtgesprach Silence cwaNachtgespräch zu Falk Richters "The Silence" in der Schaubühne © cwa

Dass Falk Richter einen Abend geschaffen hat, der sich vor Konkretion einerseits nicht drückt, andererseits aber bemerkenswert offen bleibt für die Besetzung mit eigenen Familientraumata und Schweige-Imperativen, bestätigt auch die Soziologin und Autorin Katharina Warda als Impulsgeberin des Nachtgesprächs, die – 1985 im ostdeutschen Wernigerode geboren – eindrücklich die Anschlussfähigkeit von Richters "Silence" an Rassismus- und Klassismuserfahrungen in einem anderen politischen System demonstriert.

Er habe übrigens keine sieben Tram-Stationen gebraucht, um zu wissen, was für ein enormes Potenzial in diesem Text steckt, erzählt Schaad später noch: Falk Richter habe ihm den ersten Entwurf geschickt, als er gerade im öffentlichen Berliner Nahverkehr unterwegs war, und er hätte nach Lektüre der ersten fünf Seiten sofort rückgemeldet, dass er dabei sei. Denn noch etwas sei ziemlich einmalig an diesem Abend: Hinterher komme im Traum niemand auf die Idee, darüber sprechen zu wollen, wie der Abend gespielt und wie er inszeniert sei, sondern man sei direkt bei den eigenen neuralgischen Familiengeschichtspunkten. Und das, so Schaad, sei wirklich "fucking selten im Theater".

(cwa)

 



Ausbruch des Judenhasses

4. Mai 2024. Düster, pessimistisch, Dystopie: das sind die Wörter, die sich in der Berichterstattung zur Festivaleröffnung mit Ulrich Rasches "Nathan der Weise" häufen. "Ein von bedrohlichem Wummern, einem Grundrauschen der Gefahr durchzogener, hellwacher Albtraum" schreibt zum Beispiel Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung und zeigt sich wie die meisten Kolleg*innen beeindruckt von dem Vierstünder, der den unter dem Paradestück der Aufklärung, bis heute (mindestens) schwelenden Antisemitismus offenlegt.

Umso überraschender, dass die beteiligten Künstler*innen im "Nachtgespräch" nach der zweiten "Nathan"-Vorstellung als ihre Schlüsselmomente des Stücks nicht die in der deklamierend breit gezogenen Sprache neu entdeckten aggressiven Momente nennen, sondern stattdessen doch wieder die klassischen Versöhnungs-Szenen, in denen die Utopie einer Verständigung, eines Friedens zwischen den Religionen greifbar wird.

Und was ist dann mit dem Schluss, zu dem Rasche Nathan vor der Kulisse des Happy Ends von Lessing alleine dastehen und "zu Hilfe" rufen lässt, während das Licht sich noch einmal rot färbt und klar wird, dass Nathan nie ohne die Angst vor dem nächsten Ausbruch des Judenhasses leben können wird? Das sei eigentlich so zustande gekommen, dass sie gestreikt habe, erzählt Valery Tscheplanowa – ursprünglich sollte sie noch einmal die ganze Ringparabel sprechen, aber das sei ihr stimmlich zuviel gewesen, weshalb von der Parabel nur das "zu Hilfe" übrig geblieben sei.

Fehlgeleiteter Universalismus

Übrigens wurde für die zweite Vorstellung die Pause vorverlegt, so dass auch noch für die zweite Hälfte bleiben musste, wer die Ringparabel überhaupt miterleben wollte. Das Publikum ließ sich erfolgreich disziplinieren, und auch beim "Nachtgespräch" waren die Reihen kurz vor Mitternacht noch voll. Eröffnet wurde es mit einem kurzen Impuls des Menschenrechts-Anwalts Wolfgang Kaleck. Er hob vor allem auf den fehlgeleiteten Universalismus der westlichen Gesellschaften ab, den die Aufklärung mitproduziert habe. Haute also ins gleiche Kerbholz wie die Inszenierung, bloß weniger gezielt.

(sd)

Bilder einer heillosen Welt

3. Mai 2024. Gestern Abend ging es los beim Theatertreffen – mit gleich zwei Festivalpremieren. Im Haus der Berliner Festspiele lief "Nathan der Weise" von Ulrich Rasche, in der Schaubühne Berlin "The Silence" von Falk Richter. 

"Dass neben 'Nathan der Weise' diesmal auch ein zweites Gastspiel zur Eröffnung lief, lässt sich als nichts anderes als ein Mission-Statement deuten. Vorbei sind die Zeiten, als Monologe und Solo-Performances an Theatern in den Foyerecken oder Studiobühnen Vorlieb nehmen mussten", schreibt Simone Kaempf in ihrem Shortie zum Theatertreffen-Gastspiel des autofiktionalen Monologs, in dem Dimitrij Schaad zu Höchstform auflief, die Standing Ovations am Ende aber alleine in Empfang nehmen musste, weil der Autor und Regisseur des Abends Falk Richter sich auf der anderen Hälfte der Festivaleröffnung im Haus der Festspiele tummelte.

Apropos Standing Ovations: Die gab es vereinzelt auch für "Nathan der Weise", unter anderem von Berlins Kultursenator Joe Chialo, der sich nicht davon schrecken ließ, dass es seine Umsitzenden nicht von den Sitzen riss.

TT Nathan Chialo chrJoe Chialo beim Applaus für "Nathan der Weise" © chr

Aber auch Esther Slevogt zeigt sich in ihrem Shortie beeindruckt von Ulrich Rasches dystopischer Deutung des Lessingschen Aufklärungsklassikers: "Der Abend schafft berauschende, bedrückende wie berückende Bilder für eine heillose Welt" schreibt sie und berichtet außerdem von den Festival-Eröffnungsreden, die dagegen hielten und Hoffnung beschworen. Extra-Jubel erntete eine Schulklasse aus Radebeul, deren Lehrerin es geschafft hatte, Karten für die Eröffnung zu ergattern. Die Meinung der Schüler*innen zur Aussichtslosigkeitsbeschwörung von Ulrich Rasches "Nathan" wäre noch einmal besonders interessant. Falls Ihr das hier lest: Wir würden uns über einen Kommentar von Euch freuen!

(sd)


Ausgewogenheit, Tollkühnheit, Schauspielfeste de luxe 

2. Mai 2024. Heute Abend wird das Berliner Theatertreffen eröffnet: Mit Ulrich Rasches Salzburger Inszenierung "Nathan der Weise" mit Valery Tscheplanowa in der Titelrolle. Ein Stück, das "fast alle in der Schule gelesen habe", wie Gabi Hift in ihrer Nachtkritik schrieb.

"So ungefähr weiß man auch, worum es geht: um Aufklärung als Voraussetzung für den Fortschritt der Menschheit. Toleranz zwischen allen Menschen und Religionen. Um Vernunft und Humanismus als Basis von Entscheidungen. All das können so viele unterschreiben, dass es einem langweilig vorkommen könnte. Aber in letzter Zeit gibt es ein erschreckendes Roll-back. Gegen ein solches hat schon Lessing angeschrieben, in dessen Lebenszeit die Aufklärung zunächst aufblühte und dann wieder zurückgedrängt wurde."

Dazu passt in gewisser Weise der zweite Eröffnungsabend, "The Silence" von Falk Richter in der Schaubühne, der vom Schweigen der Nachkriegsgeneration handelt. Und vom Fallout dieses Schweigens auf die individuelle Biografie ebenso wie auf ein gesellschaftliches Gesamtklima.

Großer Andrang

Jedenfalls scheint die Lust auf diese große Leistungsschau des deutschsprachigen Theaters ungebrochen. So berichtet etwa Simon Strauß in der FAZ von großem Andrang auf die Karten. "Das liegt sicher auch an der diesjährigen Auswahl der Inszenierungen, die seit Langem einmal wieder mit einem ausgewogenen Mischverhältnis zwischen erzählerischem Schauspieltheater und freischwingender Problempointenperformance aufwartet", so seine Analyse, "also das tut, was sie tun sollte: Sie bildet die Breite des deutschsprachigen Theatergeschehens ab." (Zur diesjährigen Auswahl der siebenköpfigen Kritiker*innenjury geht es hier – eine Auswahl, die nach Ansicht meines Kollegen Christian Rakow "Ausgewogenheit, Tollkühnheit und Schauspielfeste de luxe vereint".)

In den Tagen bis zum 21. Mai liefern wir hier täglich Kurzkritiken zu den Festivalgastspielen der 10er-Auswahl, Berichte von den Publikumsgesprächen, die nach dem Vorbild unserer tt-Außenblicke in den Jahren vor Corona jeweils von Expert*innen-Impulsen eröffnet werden. Auch darüber werden wir informieren. Und was sich sonst so im Rahmenprogramm tut und tummelt.

(sle) 

Kommentare  
Liveblog Theatertreffen: Eröffnung mit "Nathan"
Ungewöhnlich leise Töne schlägt Ulrich Rasche im „Nathan“ an, die Live-Musiker*innen begleiten das fast vierstündige Geschehen mit einem Hintergrundrauschen, das im Gegensatz zu den früheren Rasche-Inszenierungen sehr zurückgenommen wirkt. Der Abend lässt seinen Protagonist*innen ungewöhnlich viel Raum: vor allem Valery Tscheplanowa in der Titel-Hosenrolle und Mehmet Atesçi mit raubtierhafter Eleganz haben große Auftritte auf der Drehbühne. Eine weitere Hauptrolle übernimmt das Lichtdesign, das den langen Abend zwischen gleißenden Scheinwerfern und düster-antisemitischer Pogromstimmung in unzähligen Schattierungen prägt.

Ein Gewinn für die Aufführung waren die links und rechts mitlaufenden englischen Übertitel: hier wurden die erschreckend antisemitischen Zitate von Denkern der Aufklärung wie Voltaire und Fichte ihren Urhebern eindeutig zugewiesen, die Namen, die in der deutschen Bühnenfassung nie fallen, sondern nur im Programmheft, wurden explizit in der englischen Übersetzung in Klammern genannt.

Kein allzu hohes Vertrauen in die Kraft der Aufklärung hat Rasches „Nathan der Weise“: statt des etwas an den Haaren herbeigezogenen Happy-ends im Original lässt er seine Inszenierung kurz vor Mitternacht mit resignierten Hilferufen von Tscheplanowa ausklingen, die leise verhallen.

Zu dem Zeitpunkt hängt dann nicht nur die Schulklasse aus Radebeul, die Nora Hertlein-Hull besonders begrüßte, erschöpft in den Seilen. Erfreulich war, dass diese Klasse gar nicht dem dauerstörenden Albtraum entsprach, zu dem manche unfreiwillig ins Theater gedrängten Klassenfahrt-Schüler*innen für den Rest des Publikums in Berliner Theatersälen werden.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/05/03/theatertreffen-eroeffnung-2024-kritik/
Liveblog Theatertreffen: Schweigen unserer Generation?
Schön, das die Schulklasse aufgefordert wird zu kommentieren! - Vielleicht kann man die auch extra anschreiben vom tt aus?

Was mich zum Nachdenken angeregt hat, ist der Satz der Kommentatorin (sle) zu "Silence": Ist es nicht so, dass JEDE Generation durch die Geschichte der Menscheit hindurch ihr Reden und auch ihr Schweigen hat(te)? Und dass beides IMMER Fallouts in den nachrückenden Einzelnnen wie in die Gesellschaft hinein erzeugt(e) ? So jedenfalls meine Erfahrung aus generationsübergreifendes Zuhören/Beobachten von repräsentativen wie privatisierten Erzählungen... Wo ist das Schweigen UNSERER Generation? Das Reden bekommen wir ja reichlich geliefert -
Liveblog Theatertreffen: Halbherziges Pflichtpensum
Dass Nathan am Ende außen vor bleibt, wenn sich Saladin, Sittah, Recha und der Tempelherr in den Armen liegen, ist seit Peymanns Inszenierung mit Traugott Buhre von 1981 und jener von Friedo Solter in Ost-Berlin - mit oder ohne Valery Tscheplanowas Stimme - eigentlich Konsens. Alles andere wäre, freundlich formuliert, Selbstbetrug. Lessings Versöhnungspathos in Ehren. Die historische Wirklichkeit hat nicht auf ihn und die Aufklärung gehört. Ihnen folgt höchstens das halbherzige Pflichtpensum von Deutschlehrern.
Liveblog Theatertreffen: Aktualität der Ringparabel?
Noch eins: Mit verblüffender Einmütigkeit wird behauptet, "Nathan der Weise" sei von höchster Aktualität. Ist das so? Wie zeitgemäß ist die Frage Saladins an Nathan: "Was für ein Glaube, was für ein Gesetz/ Hat dir am meisten eingeleuchtet?" Der religiöse Antisemitismus spielt heute eine marginale Rolle. Jene aber, die daran Interesse haben, dass die Religion selbst nicht infrage gestellt wird, kaprizieren sich darauf (Stichwort: christlich-jüdische Zusammenarbeit). Der moderne Antisemitismus von Schönerer, Lueger, Hitler bis zur Hamas hat so gut wie nichts mit dem Gauben zu tun. Auch Konvertiten wurden in Auschwitz ermordet. Das Theaterstück über den Judenhass jenseits von Saladins Frage steht noch aus. Lessings Ringparabel taugt nicht für die heutigen Probleme.
Liveblog Theatertreffen: verborgen
#4: Nö, steht nicht aus. Seit 2010 nicht. Wird aber nicht beachtet. Weder von Verlagen noch von Theatern noch von Lektoren noch von DramaturgInnen oder gar KulturjournalistInnen - es verbleibt hübsch in gelegentlichen privaten Lesungen und wird dort allenfalls von ArchäologiestudentInnen, von AltsprachlerInnen, Sprach- und LyrikfreundInnen, betriebslosen SchauspielerInnen, von Reinigungskräften, MedizinerInnen und HandwerkerInnen etc. und einfach generationsübergreifenden FreundInnen von Kunst bei gleichzeitiger geistiger Freiheit mit hochroten Wängelein debattiert bis gefeiert.

Müssen einem dafür Theater, Theaterverlage, DramaturgInnen, LektorInnen, RegisseurInnen oder gar KulturjournalistInnen leidtun?
Theatertreffen Liveblog: Das TT aus polnischer Sicht
Das Berliner Theatertreffen ist ein Ereignis, das auch im Ausland auf Interesse stößt. Die Perspektiven, aus denen man dabei schaut, sind andere: sicherlich oberflächlichere und anders von Land zu Land. Was Polen angeht, konnte man diesmal gleich in den ersten Tagen Einiges finden, was berichtenswert war. So ist beispielsweise das Eröffnungsstück „Nathan der Weise“, das in Deutschland zum Kanon gehört, in Polen kaum bekannt. Darüber dort jetzt gehört zu haben, ist sicherlich aus vielen Gründen ein Gewinn, u. a. weil man gerade in Zeiten so vieler, nahe stattfindender Kriege Versöhnungsgedanken und aufs gegenseitige Achtung-Setzen besonders braucht. Ein wichtiger Aspekt ist aber auch, dass das von Lessing, einem deutschen Künstler, erschaffene Werk Ideen enthält, die das in Polen immer noch allgegenwärtige und weiter tradierte Bild von Deutschen als Menschen mit faustischen Zügen etwas zu relativieren hilft. (Goethes großartiger „Faust I“, mehr oder weniger allgemein bekannt, dient leider seit Jahren dazu, ein einseitiges Bild von Deutschen zu verfestigen.)
Was weiter aus polnischer Perspektive auffällt, ist, dass in diesem Jahr mehrere Inszenierungen das Thema des Krieges in verschiedenen Formen umkreisen. Neben „Nathan der Weise“ gehören „The Silence“ und „Bucket list“ dazu. Der Krieg scheint für Theaterschaffende in Deutschland eine wichtige Rolle zu spielen, und dass Theater ihnen den Raum dafür geben, ist auch für das Publikum ein Gewinn. In Polen sieht man zurzeit vergleichsweise wenige Inszenierungen, die sich damit auseinandersetzen. Möglicherweise hängt es mit den Jahren der PiS-Regierung zusammen, der Zeit in der man sich vor allem auf innenpolnische Angelegenheiten konzentrierte, auch der oft zu findende Rückzug ins Private rührt wohl daher. Festzuhalten ist, dass zurzeit in Polen das Weltgeschehen im Theater aus den Augen gelassen wird, der Blick auf solche Themen wäre auch dort wünschenswert.
Interessant ist auch wahrzunehmen, dass man in Deutschland das großartige Schauspielertheater wieder mehr ins Zentrum stellt („Macbeth“) und dass man sich dabei von dem von Frank Castorf erfundenem Schauspielstil entfernt. Um Missverständnisse zu vermeiden: Das Theater von Frank Castorf beeinflußte schon seit den 1990-er Jahren ganze Generationen von polnischen Regisseur:innen und wird dort sehr geschätzt. Inzwischen hat man aber ein etwas verengtes Bild von der deutschen Theaterszene, da man diese Stilrichtung als für überall in Deutschland vorherrschende Theaterform hält, ergänzt höchstens durch performative Konzeptionskunstarbeiten. Inspirierend kann ebenfalls sein zu erfahren, wie inklusive Projekte als hochkarätige künstlerische Theaterarbeiten für alle - und nicht als vor allem soziale Projekte - aussehen können („Riesenhaft in Mittelerde“).
Polnischen Dramatiker:innen kann eine moderne, eigenständige Auseinandersetzung mit antiken Stoffen („Laios“ von Roland Schimmelpfennig) neue Impulse für ihre Texte geben, auch das Aufführen zeitgenössischer Dramen auf großen Bühnen wird in Polen kaum umgesetzt, deutsche Beispiele könnten helfen. Auf weitere Entdeckungen in den nächsten Tagen des Theatertreffens darf man gespannt sein. Es bleibt aber schon jetzt festzuhalten: Es wird Inszenierungen geben, die aus kleineren Theaterhäusern stammen. Solche Einladungen sind wiederum beim Warszawskie Spotkania Teatralne (Warschauer Theatertreffen), die demnächst anfangen, schon seit Jahren der Fall.
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