Blaue Spiegel - Abermals führt Andrea Breth ein rätselhaftes Albert Ostermaier-Stück zuerst auf
Die Diva sägt in der Dusche
von Wolfgang Behrens
Berlin, 16. Mai 2009. In diese Zweisamkeit hat sich die große Leere eingenistet. Sybel und Jack sitzen nebeneinander auf dem Boden und haben sich nichts zu sagen. Sie kennen sich bis zur Ödnis, und sie kennen keine Scham voreinander: die privaten Gesten der Körper – hier ein Kratzen, da ein Sichgehenlassen ("Diese bösen Gesten!", wie Sybel einmal ausruft) – sprechen ein deutliche Sprache. Sätze wie "Gib mir den Schlüssel!" münden in kleine absurde Kämpfe um nichts. Es hat sich ausgeliebt.
In der großen Leere hat sich die diese Zweisamkeit eingerichtet. Raimund Orfeo Voigt hat einen gleißend weißen Kasten auf die Bühne des Berliner Ensembles gebaut, ein blindes schwarzes Fenster an der Rückwand, ein schmuck- und trostloser Heizkörper darunter, nur ein einsames Telefon möbliert hier das Nichts: eine Wohnung, fertig zum Bezug. Oder fertig zum Auszug. Jedenfalls ohne Geschichte, ohne Gesicht. Man könnte in diesem Setting vielleicht ein die Nerven blank legendes Kammerspiel erwarten, doch was sich entwickelt ist ein Kastenspiel. Denn der weiße Kasten gebiert Ungeheuer. Albert Ostermaier hat gemeinsam mit Andrea Breth und ihrem Ensemble ein Stück entwickelt, das die Ungeheuer entbinden soll, die auf dem Grund der erloschenen Beziehung von Sybel und Jack schlummern.
Plünderer am Symbolvorrat
In "Blaue Spiegel" fantasiert und albträumt sich das Paar, das das Lieben verlernte, seine Fremdheiten und Gefährdungen, seine Abgründe und Dämonen neu herbei. Und so hält denn – säuberlich von Blacks getrennt – ein surrealer Bilderreigen Einzug in den weißen Kasten, der jeglicher Erzähllogik eine Absage erteilt. Und weil die Welt der Märchen einen so exklusiven Vorrat an unter- und vorbewusster Symbolik bereithält, wird der auch ausgiebig geplündert.
In Sybels Träumen geistert Jack denn auch als eine Mischung aus Blaubart (Jack trägt nämlich eine leuchtend blaue Hose) und großem bösen Wolf herum. Lauernd, schmierig, mit glucksend dreckigem Lachen nähert sich Wolfgang Michael als Jack seinen Opfern: ein krächzende Lieder singendes Rotkäppchen mit weißer Kappe ist darunter (Larissa Fuchs), eine enervierend und reichlich überflüssigerweise Hessisch sprechende Unschuld vom Lande (Laura Tratnik) und sogar die mondän-laszive Mutter Sybels (Elisabeth Orth). Jack besitzt in diesen Traumbildern das, was ihm in der tristen Realität abzugehen scheint: eine unberechenbare Virilität, die jedoch eine riskante Nähe zum hemmungslosen Sadismus unterhält.
Kirchhoff klirrt ...
In Jacks Fantasien und Albdrücken wiederum spuckt der weiße Kasten Blutrünstiges aus – hinter einem Duschvorhang steht Sybel an einer Badewanne und zersägt Menschenleiber: "Du bist doch mein Ein und Alles, du blöder Sack!" Ein Bild wie aus einem japanischen Horrorfilm, aseptisch und klar. Corinna Kirchhoff als Sybel lässt ihre Stimme klirren und meckern, virtuos errichtet sie um ihre Figur eine um Zerbrechlichkeit buhlende Aura von Kälte und Unnahbarkeit.
Diese ins Tiefenpsychologische zielenden Verrätselungen des Abends verlieren jedoch schnell ihren Sog – allzu offensichtlich betteln sie um Entschlüsselung. Ostermaiers Text präsentiert sich gar zu oft als andeutungsselige Ansammlung von Bedeutungshubereien, Freud'sche Fehlleistungen werden ambitiös ausgebreitet, die Märchenmotivik wird bis ins Platteste hinein strapaziert: "Mama, warum liegt Schneewittchen in einem gläsernen Sarg?" "Damit man sie besser sehen kann." Achje, daran wird man aber lange kauen.
... Michael puhlt zwischen den Zehen
Einige Male kehrt die Aufführung wieder auf die einfache Realitätsebene von Sybel und Jack zurück. Dann schnurrt das Traumspiel auf Kammerspielmaß zusammen – und es sind das wohl doch die besten Szenen, auch wenn hier der Boulevard bereits unübersehbar um die Ecke lugt. Da will Sybel ihren Jack in grotesker und verzweifelter Lockung zu neuen Ufern der liebenden Selbsterfahrung zwingen, während er schließlich – ganz der alte Muffel – einen Socken auszieht und über eine Unregelmäßigkeit an seinem Zeh sinniert. Das ist fein und mit bösem Witz inszeniert, dann aber geht die Reise auch schon wieder in Richtung Unterbewusstsein, schon regieren wieder Werwölfe und Müllsäcke mit Leichenteilen.
Ab und an übrigens entschwindet die Rückwand des weißen Kastens und gibt nach hinten den Blick in eine gangartige Flucht frei. Ein Erdhaufen ist da zu sehen, in dem die Protagonisten wühlen und graben. Doch leider graben sie nicht tief.
Blaue Spiegel (UA)
von Albert Ostermaier
Regie: Andrea Breth, Bühne: Raimund Orfeo Voigt, Kostüme: Françoise Clavel, Musik: Bert Wrede, Licht: Ulrich Eh.
Mit: Larissa Fuchs, Corinna Kirchhoff, Wolfgang Michael, Elisabeth Orth, Laura Tratnik.
www.berliner-ensemble.de
Mehr zu Andrea Breth: zuletzt wurde Breths Dostojewski-Inszenierung Verbrechen und Strafe bei den Salzburger Festspielen 2008 besprochen.
Kritikenrundschau
Vieles von Albert Ostermaiers neuem Stück und seiner Inszenierung durch Andrea Breth am Berliner Ensemble findet Hartmut Krug (Schriftversion), der sich als erster Kritiker auf Deutschlandradio (16.5.) zu Wort meldete (Radioversion), "einschläfernd, wichtigtuerisch und entbehrlich". Andrea Breth inszeniere keine eindeutige Geschichte, sie stelle "Phantasien" aus. Ihre Aufführung bestehe aus einer "unendlichen Folge von Szenensplittern, von poetisch bedeutungshuberisch aufgeladenen surrealen Klein- und Kleinstszenen voller Märchen-, Mythen- und Traumanspielungen". Es gebe eine "Fülle von Anspielungen und Bedeutungen, die sich im Laufe des zweistündigen Abends verdichten, aber nicht immer erschließen". Der Autor sehe das Theater "als einen Spiegel, der im Vertrauten das Fremde und im Fremden das Vertraute erkennen lässt", und seine Regisseurin tue alles, "damit der Spiegel für den Zuschauer undeutlich bleibt oder blind wird". Die "inszenatorische Kunstfertigkeit der Inszenierung", die "unentwegt Metaphysik" behaupte und "verborgene tiefere Bedeutungen" anpeile, gebe dem "Nichtgeschehen in keinem Augenblick soghafte Bilder- oder Bedeutungskraft", sondern wirke "mit ihrer auf dem Kunsthandwerkstablett dargebotenen Verschmocktheit geradezu einschläfernd". "Was Autor und Regisseur den Rotkäppchen- und Schneewittchenmärchen oder der Blaubart-Geschichte hinzu formulieren, ist so wichtigtuerisch wie entbehrlich."
Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (18.5.) wusste offenbar schon vor der Premiere, dass er diesen neuen Regiestreich von Andrea Breth gut besprechen würde. Aber wie erklär ich's dem Leser? Das klingt dann so: "Und schon haben beide gleichsam eine Leiter angelegt: ans ganz anders Fabulöse, an die Lufthaken spielerischer Willkür und phantastischer Einbildung, zu der sie sich versteigen, in ein Reich, in dem sie ins buchstäblich Blaue hineinblitzen, -spitzeln, -witzeln, -taumeln." Schön. Aber was soll es bedeuten? Stadelmaier erkärt, dass "Blaue Spiegel" kein Drama sei, stattdessen: "Blaublitzlichter; Nachtmahrsketche; Skizzen eines Albtraummärchens." Und "wenn ein Drama - dann höchstens eines zwischen den Sprossen der Leiter, auf der Sybel und Jack ins Blaue klettern". Es handele sich um eine "Albtraumkomödie der Eheflüchtigen", aber eine "Albtraumtragödie der Kinderlosen, die noch in ihren Phantasmen die Kinder vernichten, die sie gar nicht haben". Naturgemäß "Komödie und Tragödie in einem". Corinna Kirchhoff und Wolfgang Michael spielten das "derart aufgedreht und lebenskunstecht, als habe ein Strindberg sein Eheschlachthaus im Boulevard-Café eines Feydeau zur Untermiete".
In der Neuen Zürcher Zeitung (18.5.) schreibt Barbara Villiger Heilig, auch sie ein Mitglied der Fraktion der Unbedingten, die jeden Schmarren der Andrea Breth noch gut finden würde: Bis zur Premiere habe kein Stücktext vorgelegen. Trotzdem sei alles "so leicht verständlich wie schwer verdaulich". Andrea Breth und Albert Ostermaier begäben sich bei ihrer schon vierten Zusammenarbeit "gemeinsam auf eine Grabung in den Tiefen des kaum formulierbaren Ungesagten". Statt Text gebe es "Subtext", wenn gesprochen werde, dann im Traum. "Verbotene Gedanken, verdrängte Erinnerungen, gefährliche Wünsche" drängten "aber allenthalben als Gespenster in den Raum". Corinna Kirchhoff gehe gelegentlich "wie ein Bulldozer" auf Wolfgang Michael los, "obwohl sie kreischt, sie sei 'sooo zerbrechlich' ". Andere Male schrecke sie auf und rede starren Blicks mit piepsender Kinderstimme. "Kinder in Gestalt von Erwachsenen". Es handele sich, schreibt Villiger Heilig, um einen "heiklen Gang übers hohe Seil des Theaters" und mehr davon als zwei Stunden "wäre eindeutig zu viel". Denn: Andrea Breth lasse jene "rohe Impulsivität und wüste Direktheit ungehemmt explodieren, die sie sonst in Schiller, Goethe, Kleist oder Tschechow verpackte". Jetzt, Villiger Heilig läuft zu großer Form auf, schneide sie "schonungslos ins menschliche Wesen hinein", zerre hervor, was sie finde, werfe es uns "mit expressionistischem Gestus hin oder friert es zu surrealen Rätseln ein". Ostermaier biete ein "3D-Puzzle an mit Märchenteilen, Sagenfragmenten, Vexierbildern, Kinderversen, die sich gegenseitig spiegeln, übereinanderschieben, verhaken und dabei sicht- und hörbar machen, was unter dem Firnis des zivilisierten Bewusstseins brodelt: Brutalität, Grausamkeit, Gewalt, Trieb". Dank dem Rückgriff auf die Märchenwelt aber, könne die Regisseurin der "ungeordneten Materie verstörend fassbare Gestalt geben". Zugleich entrücke sie alles "in einen magischen Bereich, wo es einer eigenen Logik zu gehorchen scheint". "Den Stoff, aus dem die Albträume sind", verwandele "diese Theater-Alchemistin in Hartgold".
Ganz anders Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung (18.5.), der zunächst mitteilt, was er von Albert Ostermaiers Schreiben hält: "Albert Ostermaiers durchsichtige Literatur ( …) riecht nicht, sie schmeckt nicht, und sie macht einen nicht nass." Das, was das "geheimnisvolle Doppelwesen Ostermaier/Breth nun als Uraufführung auf die Bühne gebracht" habe, sei ein "Fall für den Theater-Psychiater". Die Dialoge wirkten "wie aus dem Vorabend-Fernsehen". Märchen seien "die Matrix des kollektiven Unbewussten", und die Aufführung scheue nicht davor zurück, "diesen abgeschmackten Freudianismus gläubig und platt zu bebildern". In rund vierzig, "durch Schwarzblenden getrennten Szenen, von denen einige nur wenige Sekunden dauern", locke Andrea Breth "die Ungeheuer, die der Schlaf der Vernunft gebiert, ins Licht". Doch die "Dramaturgie der Überbelichtung" finde nicht zu einem Erzählrhythmus, alles wirke "abgehackt". Krude wie kryptisch seien auch die Bühnenchiffren, all "die kunstgewerblichen Spukbilder der Inzest- und Gewaltphantasien" hätten etwas "zutiefst Privattherapeutisches". Die "schnellen Szenenwechsel" erlaubten es den Schauspielern nicht, "miteinander ins Spiel zu kommen; sie retten sich in die ironische Überzeichnung".
Sehr wahrscheinlich, vermutet Matthias Heine unfreundlich auf Welt Online (17. 5, 15:39 Uhr) handele es sich bei dieser Aufführung nur um das, "was man bereits nach einer unendlich langen ersten Viertelstunde ahnt: Innerkulturbetriebliche gegenseitige Hirnwichserei." Im Zentrum von "Blaue Spiegel", einem "Ehedrama mit Märchenmotiven", stünden zwei "tolle Schauspieler: Corinna Kirchhoff und Wolfgang Michael". Deren darstellerische Anstrengung sei enorm: Noch vor dem ersten Stück zusammenhängendem Text, hätten die beiden "bereits eine minutenlange, virtuose Orgie des Sich-beleidigt-Anschweigens und des Sich-gegenseitig-das-Wort-Abschneidens absolviert". Es sei, als "würde ein DJ-Ötzi-Song auf zwei Stradivaris gespielt". Ostermaiers Drama versuche, "seine Nichtigkeit hinter Rätseln und Symbolen zu verbergen". Ungeheuer sei "das Gewese mit dem Bühnenbild" und dazu suhle sich die Inszenierung in "Symbolfarbe": "Blaue Müllsäcke, in denen Leichenteile und Knochen entsorgt werden, die blaue Hose Jacks, blaue Papierschnipsel, die Sybel aus dem Mund fallen, und wenn Jack sich nicht dauernd mal wieder elektrisch rasieren würde, wäre wohl sein Bart blau." Aber eigentlich sei jeder Versuch der Erklärung doch "nur Überinterpretation, mit der man als Zuschauer seinem wachsenden Widerwillen einen Sinn unterlegen will".
Ziemlich ratlos zeigt sich auch Jürgen Otten in der Frankfurter Rundschau (18.5.), ihm schwirrte den Abend über "die Frage durch den Kopf, was hier Traum ist und was Wirklichkeit, was dieser Traum mit unserem Leben zu tun habe und vor allem: wie bedenkenswert er sein könnte". Die Grundkonstellation des Stückes, schreibt Otten, sei "überschaubar". Ein Ehepaar, beide Anfang fünfzig, habe sich auseinander gelebt, die Ehe sei nurmehr "ein Torso". Der Mann scheine nur noch an seinen Hypochondrien und anderen Obsessionen interessiert. Die Frau wehre sich dagegen, "indem sie Phantasmen züchtet". "Für eine Kommunikation nicht eben die günstigsten Voraussetzungen." "Blaue Spiegel" sei kein gutes Theaterstück, es sei "eine Ansammlung von Floskeln und ungeordneten Gedankenflügen". Und es sei der "gleichermaßen verkrampfte wie leichtsinnig vertane Versuch, psychotische Zustände innerhalb einer Beziehung (einer Gesellschaft?) im Legendenton zu beschreiben". Die Szenen mutierten zu "Karikaturen, ja zu vulgärpsychologisch aufgeladenen Anagrammen". Warum bemüht man Blaubart, fragt Jürgen Otten einigermaßen entnervt, wenn man nur sagen wolle, dass es in einer (schlechten) Ehe nur noch darauf ankommt, wer die Schlüssel einsteckt, wenn es zum "Italiener an der Kreuzung" geht?
Corinna Kirchhoff und Wolfgang Michael erzählt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (18.5.), sitzen in einem leeren weißen Raum mit dem Rücken am Heizkörper und lassen "virtuos jeden Dialog nach dem ersten mit Überwindung, Anstrengung und Ekel hervorgebrachten halben Wort in sich zusammensacken". Eigentlich findet Seidler könnte jetzt der Vorhang fallen. Tut er aber nicht und es dauert zwei Stunden, bis die beiden gemerkt haben, "dass sie das Zerfleischungsgespräch genauso gut beim Essen, also ohne uns Zuschauer, fortsetzen können". Ein Schlüssel ist in der Aufführung wichtig, erzählt Seidler, er passe zu den Schlössern von "verschiedenen Märchen", zum Beispiel bei Charles Perraults "Blaubart", bei "Fitschers Vogel" oder "Das Mordschloss" von den Brüdern Grimm, außerdem Rotkäppchen, Die sieben Geißlein, Däumelinchen, Froschkönig, Dornröschen. Auftauchen in "voller Symboltracht" würden weiterhin: "die Farben Rot und Blau, der Wolfspelz, das Blut, glitschige kalte Wasserbewohner wie Krebse und Frösche." All dies würde in "blitzlichthellen und -kurzen Bildern zwischen den beiden Eheleuten abgehandelt". Und die Schauspieler wüssten dabei "immer, was sie tun". Das ist aber auch schon alles, was Ulrich Seidler positiv zu berichten hat.
In der anderen großen, seriösen Berliner Zeitung Der Tagesspiegel verschärft Andreas Schäfer die Kritik bis zur Abrechnung: "Wenn das Publikum vorab einen Blick in Albert Ostermaiers Stück 'Blaue Spiegel' hätte werfen können", mutmaßt er, "hätte die von Andrea Breth eingerichtete Uraufführung vermutlich vor halb leeren Rängen stattgefunden." "Blaue Spiegel" sei ein "dramatisches Nichts", überzogen mit einem "fetten, möchtegern-romantischen Anspielungslack". Schon das erste Bild sei schief. "Denn das Schweigen ist keineswegs zermürbt, kleinmütig, verzweifelt, wie es dem trostlos engen Raum angemessen wäre, sondern im Gegenteil hochgradig rhetorisch, geziert, ein divenhaftes Altbauschweigen, gewissermaßen stuckverziert." Irgendwann rufe Corinna Kirchhoff: "Ja, das Schweigen im Walde!" – "womit der Abend, noch bevor er sich aus dem Zellophan des Klischees befreit hat, schon auf die bedeutungshuberische zweite Ebene flüchtet". Die "Grundkonstellation – eine verzweifelte Frau ist mit einem notorischen Frauenverschlinger zusammen" – werde "in ungefähr fünfzig, manchmal nur Sekunden kurzen, hochaufgeladenen Szenen bebildert", die gern "poetisch und rätselhaft" wären, aber bloß "einen schier unerträglichen Bombast" produzierten. Das Ganze könne nicht funktionieren, weil etwas erst dann "unheimlich in die Normalität einbrechen und dort seine bedrohliche Wirkung entfalten" kann, wenn die Normalität vorher, zumindest kurz, als solche glaubhaft geworden sei. Darüberhinaus zeige Ostermaier keine Figuren, sondern "Abziehbilder". "Du, ich kann das nicht." Einmal dieser Satz hätte genügt.
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diese Auseinandersetzung bin ich gerne bereit zu führen. Mich nervt es an, dass einzelne Kritiker ihre Lieblinge gut schreiben, egal, was die an künstlerischen Ergebnissen jeweils vorlegen. Und, das können Sie mir, der ich hier seit zwei Jahren an diesen Kritikenrundschauen sitze, glauben, Gerhard Stadelmaier und Barbara Villiger Heilig finden alles gut, was Andrea Breth produziert. Sie retten auch, was wohlmöglich nicht mehr zu retten ist. Natürlich geht es dabei um die Politik der Ästhetik. Welches Theater will ich durchsetzen? Welche Ästhetiken, Spielweisen, literarischen Auffassungen will ich sehen. Die einzelnen Ergebnisse aber, über die der Leser, die Leserin doch unterrichtet werden will, geraten bei derartiger Kampfkritik außer Sicht. Das machen vielleicht andere Kritiker mit ihren Lieblingen auch, dann ist das genauso doof.
Ich habe hier heute einmal die Stimmen zu "Blauer Spiegel" in der Anmoderation jeweils etwas polemischer zusammengefasst, habe mir auch erlaubt einmal dazwischen zu sprechen, um den aus meiner Sicht Skandal deutlich zu machen. Denn an der schlechten Nachricht aus dem Staate Dänemark ist nicht unbedingt, Sie wissen es ja, der Bote schuld, der diese Nachricht überbringt.
Außerdem, wer hat gesagt, dass nachtkritik.de sich immer wie ein Kätzlein, Spätzlein, Blödi seiner eigenen Meinung enthalten müsse? Aber dessen ungeachtet seien Sie getrost, wir werden trotzdem fürderhin, wie bisher immer üblich, nach bestem Wissen und Gewissen objektiv zusammenfassen.
Mit Grüßen
nikolaus merck
Sie haben außerdem natürlich Recht, wenn Sie sich fragen, ob die Kritikenrundschauen der Ort für Meinung sind. Ich habe ja schon versprochen, dass wir uns künftig wieder zurückhalten werden an diesem Platz.
Gruß
nikolaus merck
meiner persönlichen Ansicht nach ist - selbstverständlich, möchte ich sagen - so gut wie jede Kritik "politisch", da jeder Kritiker bestimmte ästhetische/dramaturgische/etc. Konzepte bevorzugt, oft mit einem Ballast an Vergleichsproduktionen (Autor, Stück, Regie, Darsteller, etc. betreffend) und daher mit bestimmten Erwartungshaltungen in eine konkrete Aufführung geht;
Sie allerdings tun so, als wäre Ihnen dies im vorliegenden Fall erstmals aufgefallen und müßte daher besonders ausgestellt werden. Allerdings sind Ihre polemisch-kritischen Anmerkungen auch nichts anderes als "politische Kritik", bloß aus einer anderen Ecke. Woher nehmen Sie also das Recht zu behaupten, daß "aus ganz anderen Gründen als solchen, die sich in der Aufführung finden ließen" diese Kritik ausgefallen ist, wie sie eben dasteht?
Ich war in "Blaue Spiegel", gerade die von Ihnen in Zweifel gezogenen Rezensionen geben die Eindrücke, welche ich selber im Verlauf des Abends gewonnen habe, besonders treffend wieder... Somit könnte ich mit demselben Recht wie Sie den anderslautenden Kritiken "politische Kritik" (eben gegen derartige ästhetische/dramaturgische Konzepte) vorwerfen... Tue ich aber nicht, weil ich mir der Tatsache bewußt bin, daß es nicht nur "objektive Kritik" (denn nicht einmal über die Beherrschung oder Nicht-Beherrschung des Handwerks herrscht oft Einigkeit) nicht gibt, sondern daß jedes "Urteil" über ein künstlerisches Produkt eine bestimmte Position bezieht und damit ex- oder implizit "politisch" ist.
MfG,
M.-T. Sch.
Man kann sich schon fragen, warum ein Autor wie Ostermaier so überschätzt wird. Dafür sind auch manche Kritiker verantwortlich.
Deshalb ist die Nachtkritik-Seite oft so lesenswert, weil die Karten hier nicht so langweilig verteilt sind wie z.B. in Theater Heute oder Theater der Zeit.
Großartige Ehrlichkeit! Ich danke Ihnen, Herr Merck!
Herr Merck hat seinem Beruf alle Ehre gemacht und dabei ist es am unwichtigsten ob es "gefallen" hat oder nicht. Herr Merck hat das beschrieben, was ich gesehen habe. Der Herr Kritiker von der FAZ hat GElöst mit ERlöst verwechselt, kann ja mal passieren.
ihre kleinen Kommentare zur FAZ und NZZ-Kritik haben so etwas peinlich oberschlaues.
Jeder, der Kritiken schreibt,macht natürlich Politik und wenn Herr Stadelmeier bestimmten Regisseuren(Gosch) nachreist, um sie immer und immer wieder zu verreißen und anderen(Barbara Frey), um sie immer und immer wieder zu erheben, so tut er das ja fast schon mit rührender Ehrlichkeit.
Seine Kritik heute früh in der FAZ hat mir nun ziemlich aus dem Herzen gesprochen. Leider muß man sagen, so sehr man sich immer wieder über ihn ärgert: Er ist einer der intelligenteren, vor allen Dingen präzisen deutschen Kritiker. Und Andrea Breth ist vermutlich eine der letzten genauen,präzisen,intelligenten Regisseure einer Theatertradition,die mit ihr aussterben wird. Leider sind die meisten Kritiker der Komplexität ihres Blickes nicht gewachsen. (komischerweise viele Zuschauer schon)Ich fand diese BLAUE SPIEGEL Arbeit das großartigstem, was ich seit langem am Theater gesehen habe.Die Schauspieler improvisieren etwa die Hälfte des Textes jeden Abend neu-das ist eine unglaubliche Leistung und ein unglaublicher Mut.
Davon träumt das Theater seit Jahrzehnten.
Und von Improvisationen des Niveaus von Corinna Kirchhoff und Wolfgang Michael hat man gar nicht zu träumen gewagt.
Die Bilder des Stückes, die Überlagerungen von Realität,Phantasien, Fiktionen, Träumen -auch ein uralter Theaterwunsch-ich habe es noch nie mit so leichter Hand inszeniert gesehen.
Es wäre so schön, wenn Kritiker,die von einem Abend überfordert sind, einfach schweigen könnten.
Was für ein Haß gegen den Autor(,von dem ich nicht weiß,ob er ein gutes Stück geschrieben hat), gegen die Regisseurin(,fürdie wir einfach dankbar sein müssen,weil sie ein aussterbendes Handwerk noch beherrscht: die (Un)tiefen von Menschen zu erzählen und aus den Schauspielern zu locken und gegen die Schauspieler,die einfach Atem beraubend waren.Ja, das war anstrengend
Es gab tatsächlich vor einem halben Jahrhundert einen ähnlichen Zorn gegen Kortner.
Ein verrücktes Phänomen: Dieser Zorn gegen Qualität.
Vielleicht gelingt es Ihnen mal,einer Probe von Frau Breth beizuwohnen und dann einer von -sagen wir mal- Sebastian Hertmann in Leipzig. An dem Unterschied können Sie merken, was ich meine.
Ja,es ist verrückt: In dieser unglaublich gut gebauten Aufführung ist dann so viel Raum für ungeheuerliche Improvisationen.
Interessant finde ich, nebenbei bemerkt, die Aussage von Herrn Steinebrunner, Mitarbeiter hätten freie Plätze besetzt um der Premiere zuzujubeln. Schon vom Augsburger ABC-Festival hieß es ja, es seien enorm viele Freikarten vergeben worden. Auch da wurden wohl Jublelperser gebraucht, nur hat es nichts genützt. Während damals freilich ein beträchtlicher Teil der Feuilletonisten sich für Ostermaier und sein Festival einsetzte, scheint die Ostermaier-Begeisterung nun auch bei den meisten von ihnen vorbei zu sein.
ich möchte doch drum bitten, nicht alles zu vermengen. Es gibt bei uns keine redaktionell zu verantwortenden "Unterstellungen, hämische Zynismen" gegen Regisseure oder Autoren oder Schauspieler.
Ich habe in der Kritikenrundschau kommentiert, ganz gegen unsere bisherige und auch zukünftige Praxis, weil mir die theaterpolitisch instrumentalisierte Kritik der genannten KollegInnen, die ich seit zwei Jahren beobachte, auf die Nerven geht. Diese KollegInnen sind doch eigentlich seriöse, hoch qualifizierte, vorbildhafte Journalisten, es ist mir ein Rätsel, wie sie es mit sich vereinbaren können, sich als derart plumpe, natürlich nicht als Stilisten plump, Propagandisten ihnen genehmer Theaterformen zu gebärden.
Ich verstehe auch nicht, wieso Sie einen Unterschied machen, zwischen der geforderten Kritik an anderen Kollegen und der von mir geäußerten. Warum geht das Eine, das Andere aber nicht?
Ein Letztes: natürlich bezahlen Theater den Kritikern Reisen, Unterkunft etc. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass nachtkritik.de es eigens und unübersehbar ausweist, wenn irgendwelche Geld- oder geldwerten Leistungen von Theatern oder anderer Seite in Anspruch genommen wird. Wir versuchen das grundsätzlich zu vermeiden. Was uns bisher auch, bis auf einmal gelungen ist. Also bitte, keine haltlosen Unterstellungen. Das "Wir" bei nachtkritik bezieht sich genau auf das Wir der KorrespondentInnen und der Redaktion. Es ist selbstredend - Sie können ja die unübersehbar unterschiedlichen Haltungen lesend erkennen - ein kleines, sich gegenseitig ermutigendes, ein wenig ironisches Wir.
Gruß
nikolaus merck
Lieber Fragesteller,
etc. war Blödsinn. Ich erzähle davon, was ich selbst kenne. Manche Theater, die möchten, dass Ihre Arbeit gesehen wird, machen KritikerInnen
das Angebot, die Unterkunft für sie zu besorgen und zu zahlen. Seltener die Reisekosten. Ganz üblich ist es, dass KritikerInnen ihre Hotelzimmer über das Theater buchen, wenn sie von außerhalb anreisen. Diese Zimmer zahlen die KritikerInnen selbst, die Theater bekommen spezielle Konditionen, die Zimmer kosten weniger als für Tagesgäste.
Es gibt auch Einladungen zu Festivals, etwa den Salzburger Festspielen, wo dann Reisekosten von dort gastierenden Theatern übernommen werden, für KritikerInnen, die die Arbeit beschreiben und am Heimatort von bekannt machen.
Bevor Sie sich jetzt aber empören, bedenken Sie bitte zweierlei: zum einen wird das Gros der Thetrberichterstattung von freien Kritikern übernommen, dennen die redaktionen keinerlei Reisekosten bezahlen und die wirklich miserabel entlohnt werden. Zeilengeld. Zum Anderen sind diese korrumpierenden Praktiken in Deutschland sehr verbreitet. In der Industrie ist derlei gang und gäbe.
Gruß
nikolaus merck
1. Der Vergleich mit der Industrie hinkt; die setzt eigene Gelder ein, bei den Theatern sind es Subventionen, die - wenn man den Theatern glauben darf - eigentlich viel zu knapp sind.
2. Es gibt Auswüchse, die so in der Industrie nicht möglich sind. Als Schlingensief in Brasilien eine Opfer inszenierte, wurde, mit deutschen Geldern, ein ganzes Heer von Kritikern eingeflogen. Natürlich haben die nach Deutschland euphorische Rezensionen geschickt, natürlich wollten sie alle beim nächsten Mal wieder dabei sein (davon lebt der Mann bis heute). Aber die Kritiken haben der Oper in Brasilien nicht einen zusätzlichen Zuschauer beschert, eine Kosten-/Nutzenrechnung findet, weil es Steuergelder sind, von vornherein nicht statt - das ist Korruption pur.
3. Auch von den Kritikern selbst wird beklagt, dass das Theater zu oft nur für Kritiker statt findet (Uraufführungen, Mode-Regisseure etc.). Aber wenn Theater sich eine Scheinöffentlichkeit einfach kaufen könnnen - und es ist eine Scheinöffentlichkeit, denn überregionale Kritiken werden nachweislich fast nur vom Theaterbetrieb wahrgenommen -, driftet das Theater vollends ab in Autismus und Irrelevanz.
Zur Zeit werden überall Verhaltenskodexe von Managern, Bankern, Politikern gefordert. Wäre es nicht an der Zeit für einen Verhaltenskodex der Theater?
Glauben Sie vielleicht, die Industrie wird nicht subventioniert? In welcher Welt leben Sie eigentlich?
Jubel hat nie irgendetwas mit der Qualität der Aufführung zu tun. Man braucht gar keine bezahlte Claque – jeder weiß doch, das in den Premieren viele Freunde der Künstler sitzen. Ein besonders lauter Jubler, der in „Blaue Spiegel“ neben mir saß, outete sich auch ungefragt als Freund einer der beiden jüngeren Schauspielerinnen
Den größten Jubel habe ich bei meinen beiden furchtbarsten Theatererlebnissen gehört: Bei Heribert Sasses Inszenierung „Richard III.“ , mit der er seinerzeit seine Intendanz im Schlosspark-Theater eröffnete, und bei Brigitte Grothums Brecht-Uraufführung „David“. Da wurde gekreischt wie besoffen.
Ich bin gespannt, wieviele Leute noch in der dritten oder vierten Vorstellung von „Blaue Spiegel“ sitzen werden, wenn auch der letzte Künstlerkumpel es gesehen hat.
Das Schlingensief heute noch von den „Kritiken“ seiner Inszenierung in Manaus zehrt, ist Schwachsinn. Erstens waren die gar nicht so doll. Zweitens waren es meistens gar keine Kritiken, sondern Erlebnisreportagen. Und wer Schlingensief vorher nicht mochte, hat sich auch davon wohl kaum beeinflussen lassen.
Außerdem wüsste ich gerne, welche „Kritiker“ geschrieben haben sollen, „Eine Kirche der Angst“ sei in Berlin gefeiert worden. Alle großen Zeitungen hatten doch bereits die Premiere in Duisburg im September besprochen und deshalb haben sie, bis auf ein paar Berliner Lokalblätter, jetzt gar keine Kritiken mehr geschrieben. Richtig ist allerdings, dass es einen entsprechenden dpa-Bericht gab, den viele Zeitungen als Meldung gedruckt haben. Nur hat das nichts mit den Kritikern zu tun.
Wenn die Feuilletonisten Ostermaiers ABC-Festival anders berurteilten haben als sein neuestes Theaterstück, dann kann das dreierlei bedeuten: Entweder machen sie doch nicht immerzu Politik. Oder sie wissen sehr wohl zu unterscheiden zwischen dem Festivalorganisator Ostermaier und dem Dramatiker Ostermaier. Oder über das Festival haben eben nicht die selben Leute geschrieben wie jetzt über das Stück, und weil es keine mafiöse Instanz gibt, die die Meinungsmache im Feuilleton steuert, kamen sie zu unterschiedlichen Urteilen.
Im Übrigen finde ich es immer wieder lustig, wie sich hier die Zu-kurz-Gekommenen und vom Theaterbetrieb übersehenen über Leute aufregen, die im Gegensatz zu ihnen Erfolg haben (Kritiker oder Künstler).
Wieso der Aufwand, den die Theater betreiben, um Kritiker anzulocken, auf Kosten von Inhalt und Publikum gehen soll, habe ich nicht ganz begriffen. Meinen Sie die Sucht nach Erstaufführungen und großen Namen? Aber dem würde man mit Ihrem "Verhaltenskodex" ja auch nicht beikommen.
Lieber Embonpoint,
Sie täuschen sich was die Adressaten der Angebote der Theater anlangt. Da geht es nicht nur um Bauchladenkritiker.
merck
Jedenfalls sind der arme Schaubühnenintendant Ostermeier und der noch ärmere Autor Ostermaier tatsächlich zwei völlig verschiedene Personen, beide aus Bayern (gelegentlich auch Baiern geschrieben), aber der eine ist blond und stark und der andere dunkel und stark, um wenigstens kurz die augenfälligsten Unterschiede zu markieren.
Liest bei Nachtkritik vor der Veröffentlichung eigentlich keiner Korrektur?
Hallo Mensch Meier,
wir lesen alles Korrektur, natürlich, aber mitunter passieren uns dennoch Fehler. Allein, wo steht hier etwas von einem Ostermeier, wenn Ostermaier gemeint ist?
Grüße,
Dirk Pilz
Mensch Meier, da haben Sie recht!, ein ärgerlicher Fehler, der aber flugs korrigiert wurde.
Herzlich,
Dirk Pilz
Zu den machtkritischen Kommentaren gehören z.B. auch die hier erschienenen Kommentare zur Einladung von "Alle Toten fliegen hoch" zum Berliner Theatertreffen. Ein offensichtlicher Skandal, für den die Jurymitglieder sich schämen müssten, aber im Print wird das ignoriert.
Deshalb brauchen wir die Nachtkritik.