Secondhand-Zeit - In Graz bringt Alia Luque das O-Ton-Monument aus dem russischen Postkommunismus von Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch auf die Bühne
Sprintrennen um die West-Wurst
von Reinhard Kriechbaum
Graz, 1. Dezember 2016. "Nur ein Sowjetmensch kann einen Sowjetmenschen verstehen", heißt es einmal etwas pessimistisch. Erklärung vielleicht dafür, dass die Bücher der Swetlana Alexijewitsch, immerhin Literaturnobelpreisträgerin 2015, doch etwas für Menschen mit ausgeprägter Neugier für osteuropäische Befindlichkeit geblieben sind. Welcher "Westler" hat denn schon wirklich wenigstens eines aus ihrer gewaltigen Prosa-Fünfergruppe (beginnend mit "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht", endend mit "Secondhand-Zeit") durchgeackert?
"Meine Zeit war schneller zu Ende als mein Leben"
Das Wort "durchackern" ist am Platz für Alexijewitsch' dokumentarischen Stil: Die Journalistin erfindet nicht, sondern sie montiert authentische Aussagen von unzähligen Menschen. Auch "Secondhand-Zeit" ist ein solches O-Ton-Monument, ein Szintigramm des Wort gewordenen Bauchgefühls. Gegenstand der Röntgenblick-Untersuchung: die malträtierte Sowjet-Seele, der 1991 so gut wie alle Werte, die ihr über Jahrzehnte aufgedrückt worden waren, innerhalb weniger Monate genommen wurden. Was geht vor im Verteidiger von Brest, wenn er die Plaketten und Orden für Verdienste um den Sowjetstaat als Reiseandenken-Ramsch für Touristen wieder findet? "Meine Zeit war schneller zu Ende als mein Leben", sagt einer resignativ, und fügt trotzig an: "Meine Zeit war eine große Zeit!" Was sollte er sonst sagen, wollte er nicht die Selbstachtung mit Füßen treten?
Die Spanierin Alia Luque bringt "Second-Hand" nun als Sportstück auf die kleinere Bühne des Grazer Schauspielhauses. Zwei Männer und zwei Frauen üben sich im Dauerlauf und in permanenten gymnastischen Verrenkungen und Lockerungsübungen. Wie eine Stafette übergeben sie einander das Wort. "Secondhand-Zeit – Leben auf den Trümmern des Sozialismus" ist kein pfiffiger Titel und der Text an sich alles andere als geeignet für einen flüssigen Theaterabend. Und doch ist letztlich erstaunlich viel Drive drin, wie die Argumente herausgepresst werden aus Menschen.
Gorbatschow in der Pizza-Hut-Werbung
Die Sportsfreunde der mühsamen Disziplin Selbst-Rechtfertigung verausgaben sich vor einer Video-Kulisse aus Schnipseln der Zeitgeschichte vor und nach der Wende. Gorbatschow ist plötzlich Hauptfigur in einer Pizza-Hut-Werbung. Einer sagt: "Gesiegt hat die Majestät, die Wurst". Wie war das doch mit Brecht, dem Fressen und der Moral? Glasnost: So durchsichtig war es nicht, was kommen würde: die gelebte Nicht-Utopie, das ideologische Vakuum. Der Eintausch der kommunistischen Chimäre gegen eine Konsumgesellschaft ohne greifbare Werte.
Der Titel "Secondhand-Zeit" wirkt so gesehen beinahe euphemistisch. Es sind ja nicht einmal Werte aus zweiter Hand, auf denen die neue Gesellschaft aufbaut. Wen wundert's, wenn viele die Vergangenheit verklären und angesichts des Hochmuts der Oligarchen in ihrer Erinnerung die alten kommunistischen Potentaten wie niedliche, tröstende Kuscheltiere herumgeistern? "Kein chickes, ein normales Leben" erträume er für sich, meint einer ganz unprätentiös. Man möchte ihm sofort Beifall spenden.
Durchaus marktschreierisch zugespitzt wird – im Buch wie in der Dramatisierung –, dass der Westen all diesen Menschen, so sehr sie auch für die Perestrojka brannten, nicht mehr als hypervolle Supermarktregale zugeliefert hat. Markenbewusstsein statt kommunistischer Ideale, ein fragwürdiger Tausch. Verbreitete Ansicht: Bloß nicht an Putin rühren, der nächste Despot ließe nicht auf sich warten und auch nicht der nächste "typisch russische" Aufstand: "sinnlos und ohne Erbarmen".
Im Sport-Setting der Grazer Aufführung wird klar: Die Trauerarbeit in Sachen Ideologie, die den Bach runter ist, bedeutet viele leere Kilometer. Und viele Sprints, mit oder ohne Fehlstart, führen ins Nichts. Die Langstrecken-Perspektive bleibt nebulös.
Secondhand-Zeit – Leben auf den Trümmern des Sozialismus
von Swetlana Alexijewitsch
aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
Regie: Alia Luque, Bühne und Kostüme: Christoph Rufer, Video: Richard Haufe Ahmels, Dramaturgie: Elisabeth Geyer.
Mit: Fredrik Jan Hofmann, Mathias Lodd, Sarah Sophia Meyer, Tamara Semzov.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.schauspielhaus-graz.com
"Eine bewegende Vorstellung", schreibt Julia Braunecker von der Kleinen Zeitung (3.12.2016). Der Spagat zwischen Verehrung und Verteufelung der Vergangenheit wird auf vielschichtige Weise nachvollziehbar."
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