Das Wagnis

25. April 2024. Der Tod von René Pollesch reißt eine tiefe Lücke. An der Volksbühne und in der Theaterlandschaft überhaupt. Wie weiter in Berlin? Ein Streifzug durch die Ensemble-Bühnen der Hauptstadt.

Von Christine Wahl

Die Welt tickt anders an der Volksbühne, an der Schaubühne und in der ganzen Berliner Theaterlandschaft © Gianmarco Bresadola

25. April 2024. Im Kommentarbereich auf nachtkritik.de wurde kürzlich eine denkwürdige Frage gestellt. "Können wir endlich anfangen auszusprechen, dass das, was wir im Theater suchen, in diesen Betrieben nicht mehr zu finden sein wird?", schrieb "Golden Girl" unter der jüngsten Premierenkritik aus dem Deutschen Theater Berlin und monierte: "Klingt alles wie die Reproduktion der Reproduktion. Wo sind die Experimente? Die ernst gemeinten Versuche?"

Konkret ging es um die hildensaga, Ferdinand Schmalz' feministische "Nibelungen"-Überschreibung in der Regie von Markus Bothe. Aber natürlich zielt der Kommentar weit über den Abend und das Deutsche Theater hinaus. Die Frage, was wir gegenwärtig in den "Betrieben" vorfinden – und was es genau ist, was wir dort suchen –, hat durch den plötzlichen Tod des Volksbühnen-Intendanten René Pollesch eine akute Relevanz bekommen. Schließlich gilt die Volksbühne, seit dort unter der Intendanz von Frank Castorf ab den 1990er Jahren das Theater revolutioniert wurde, durch alle Höhen und Tiefen hindurch als ästhetischer Referenzpunkt. Wie hier inszeniert und gespielt wird – das kann man lieben, bewundern und als Inspiration verstehen, darüber kann man sich aufregen und ärgern, und dagegen kann man auch ein künstlerisches Differenzprogramm behaupten. Nur zweierlei kann man nicht: daran vorbei und dahinter zurück.

Heute wird sich die Volksbühne in einer großen Trauerfeier von René Pollesch verabschieden. Die Frage, wer ihm als Intendant nachfolgen soll, ist nach wie vor völlig offen. Und dieser Text hat mitnichten vor, sich in die Personaldebatte einzuschalten, die in den Feuilletons so munter tobt wie in den hiesigen Kommentarthreads. Er will die tragische Zäsur vielmehr als Anlass zum Nachdenken nehmen, in welchen ästhetischen Kontext hinein die neue Volksbühnenleitung eigentlich gesucht wird. Wie sieht es aus an den großen hauptstädtischen Ensemblebühnen, zu denen neben dem Haus am Rosa-Luxemburg-Platz das Deutsche Theater, das Berliner Ensemble, die Schaubühne und das Maxim Gorki Theater zählen? Lauert tatsächlich überall die "Reproduktion der Reproduktion"?

Das Deutsche Theater

Die ästhetische Wiederverwertung einstmals avancierter Theatersprachen liegt zurzeit überproportional im Trend. So auch im Deutschen Theater; zumindest, wenn man sich die Auftaktpremieren der neuen Intendanz nach dem Leitungswechsel von Ulrich Khuon zu Iris Laufenberg anschaut – und die Reaktionen darauf. Der Regisseur habe "seinen Castorf und Hartmann studiert", komme aber "nicht im Mindesten an deren intellektuelle Schärfe" heran, postete "Referent Ziell" zu Alexander Eisenachs Produktion Weltall Erde Mensch einen Eindruck, den sowohl viele Kommentatoren als auch hauptberufliche Kritikerinnen teilten. Ein Kollege sieht im Recycling "der Berliner Theaterästhetik der vergangenen Jahre", das er gegenwärtig am DT vorfindet, sogar das exemplarische Scheitern der Branche.

Was aber am DT unter der neuen Intendanz von Iris Laufenberg bislang tatsächlich auffällt, ist die Unterrepräsentanz originärer künstlerischer Handschriften.

Nun bewegen sich Epigonalitätsvorwürfe bekanntermaßen in einer Grauzone: Was dem einen noch als Stil-Inspiration gilt, empfindet die andere längst als ärgerliche Kopie. Zudem lässt sich ohnehin nicht jeder Darstellungsform eins zu eins der Urheber oder die Urheberin zuordnen. Was aber am DT unter der neuen Intendanz von Iris Laufenberg bislang tatsächlich auffällt, ist die Unterrepräsentanz originärer künstlerischer Handschriften. Es geht – um Missverständnissen vorzubeugen – nicht darum, dass das Haus keine abrechenbaren Erfolge vorzuweisen hätte: Claudia Bossards Rainald-Goetz-Uraufführung  Baracke wurde zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen, Theresa Thomasbergers Klaus-Theweleit-Fortschreibung Männerphantasien gastierte bei "Radikal jung", und Claudia Bauers Kurt-Schwitters-Abend Ursonate – im hiesigen Kommentarbereich übrigens des volksbühnenepigonalen Herbert-Fritsch-Styles bezichtigt – avancierte zum Feuilleton-Hit.

DeutschesTheater copyright JuliaBaier 04Iris Laufenberg ist seit Beginn der Spielzeit 2023/2024 Intendantin des Deutschen Theaters Berlin © Julia Baier

Aber Regisseure mit so unverwechselbar eigenen Theatersprachen wie Sebastian Hartmann oder Ulrich Rasche, die bis dato regelmäßig am DT arbeiteten und die man an einem derart profilierten Haus auch erwartet, sind mit Khuons Intendanzende ersatzlos verschwunden – und mit ihnen einige stilprägende und im besten Sinne eigenwillige Schauspielerinnen wie Linda Pöppel, Katrin Wichmann oder Kathleen Morgeneyer.

Was Iris Laufenberg stattdessen vorhat, lässt sich gar nicht so leicht entschlüsseln. Ästhetisch ist die bisher präsentierte Bandbreite aus Neuinszenierungen und Übernahmen vom Schauspielhaus Graz, ihrer vorherigen Wirkungsstätte, schwer auf einen Nenner zu bringen. Bei genauem Hinsehen wird aber durchaus eine Linie erkennbar – die sich vor allem gesellschaftspolitisch definieren lässt. Inszenierungen wie Jan-Christoph Gockels Heiner-Müller-Dekolonisierung Der Auftrag/Psyche 17 oder Suzie Millers #MeToo-Stück Prima Facie bedienen explizit identitätspolitische Diskurse. Darüber hinaus werden viele Abende feministisch gelabelt oder stellen – wie jüngst eine lose Folge diverser Königinnendramen – ausdrücklich Protagonistinnen in den Mittelpunkt. Häufig gewinnt man hier den Eindruck, dass inhaltliche Entschiedenheit über den ästhetischen Entwurf dominiert und Inhalte allzu eilfertig in eindeutigen Aussagen zu komplexen Sachverhalten aufgehen.

Die Kommentatorin "Julia Klemmer" nicht die einzige, die der gesellschaftspolitischen DT-Agenda mangelnde Diskurshöhe und bloße Äußerlichkeit attestiert: "Hauptsache 'feministisch' im Begleittext, fürs eigene Gefühl, der Gesellschaft Impulse geben zu können!", gibt sie angesichts der "hildensaga" zu Protokoll. Was sie dagegen tatsächlich auf der Bühne vorgefunden habe, seien "Gags auf Bauernfängerniveau und ein biederes Bedienen der scheinbaren deutschen Theater-Mode".

Das Maxim Gorki Theater

Das Haus, das sein Profil explizit aus einer gesellschaftspolitischen Motivation heraus begründet und diese tatsächlich mit ureigenen Künstlerästhetiken zu verbinden weiß, gibt es in Berlin eigentlich schon: das Maxim Gorki Theater. Als Shermin Langhoff hier 2013 Intendantin und damit die erste türkischstämmige Chefin einer deutschen Staatsbühne wurde, öffnete sie das Haus mit ihrem Co-Intendanten Jens Hillje unter dem Label "postmigrantisches Theater" für praktisch alle anderen als die bis dato branchenüblichen Perspektiven. Inszenierungen wie Yael Ronens Cancel-Culture-Musical Slippery Slope oder Falk Richters Väter-Abend In My Room haben für die theatrale Auseinandersetzung mit Herkunft, Identität und Identitätspolitik Maßstäbe gesetzt.

Derzeit ist am Gorki leider weitgehend Diskursruhe eingekehrt. Man sieht viel postmigrantisches Erzähltheater, oft Bühnenadaptionen erfolgreicher (Debüt-)Romane wie Behzad Karim Khanis Neuköllner-Jungs-Gang-Rapport Hund, Wolf, Schakal oder Dinçer Güçyeters Mutter-Sohn-Geschichte Unser Deutschlandmärchen. Zwar gehörte dieses Segment schon immer zu den Programmsäulen des Hauses – und gerade im letzten Fall war das Gorki auf dieser Schiene auch wieder einmal in Bestform zu erleben. Aber es fehlt an anderen ästhetischen Ansätzen, quasi an der friedlich koexistierenden Stil-Opposition im Haus.

Gorki Theater UteLangkafel MAIFOTOTheater mit erweitertem Heimat-Begriff: das Maxim Gorki Theater unter Leitung von Shermin Langhoff © UteLangkafel / MAIFOTO

Der 1976 im bosnischen Travnik geborene Regisseur Oliver Frljić, der nach dem Weggang von Jens Hillje auf der Position der künstlerischen Co-Leitung nachgerückt ist, füllt diese Leerstelle bis dato nicht aus. Denn seine international gefürchtete Stilmixtur aus Dekonstruktion und schrillem Provokationstheater, bei dem zu Aufrüttelungszwecken auf offener Bühne Waterboarding praktiziert oder Nationalflaggen aus Vaginas gezogen werden, hatte sicher anderswo seinen Ort und vermutlich auch seine Zeit. Aber Berlin anno 2024 ist es nicht.

Auch darin ist sich die Online-Kommentaria mit dem Rezensionsfeuilleton einig: Während Nachtkritik-User Konrad Kögler angesichts der jüngsten Frljić-Inszenierung am Gorki über "Holzhammer-Polittheater" stöhnt, konstatiert der Kollege von der Süddeutschen Zeitung – bezugnehmend auf einen Schauspieler, der sich "über einem hübschen Modell des Reichstags entleeren" muss – den Übergang "von der Analphase zur Banalphrase".

Die Schaubühne

Der gegenwärtige Stil- und Diskursschwund an Berlins kleinstem Staatstheater hat maßgeblich mit dem Weggang von Yael Ronen und Falk Richter zu tun. Beide sind mit Beginn dieser Spielzeit vom Gorki zurück an die Schaubühne abgewandert, wo sie bereits früher wichtige Arbeiten gezeigt hatten. Jetzt haben sie dem Haus am Lehniner Platz mit ihrem Re-Entry direkt zwei Einladungen zum Berliner Theatertreffen beschert. Es sind die einzigen für die Hauptstadt und die ersten für die Schaubühne seit sechs Jahren.

Die Schaubühne gehört zu den wenigen Theatern, die das Problem des Ermattens der Avantgarde nicht haben.

Dass es damals ausgerechnet Didier Eribons Essay Rückkehr nach Reims in der künstlerisch sehr eigenen Bühnenadaption des Intendanten Thomas Ostermeier war, der die Theatertreffen-Jury überzeugte, erscheint im Rückblick umso zwingender. Während andere Häuser vor sechs Jahren noch tief in der postmodernen Dekonstruktion und dem Fukuyama'schen Bewusstsein vom "Ende der Geschichte" feststeckten, das sich inzwischen als trügerisch erwiesen hat, waren in dieser Schaubühnen-Aufführung mit Nina Hoss und Eribon selbst Künstler zu erleben, die ernsthaft nach den Ursachen politischer Verschiebungen suchten und im Kontext sozialer Beobachtungen und soziologischer Theorien die eigenen Biografien hinterfragten: Ein seinerzeit seismografisches Verfahren, in das sich Falk Richters diesjähriger Theatertreffen-Abend The Silence nahtlos einfügt und das inzwischen unter dem Label der "Autofiktion" allerorten als heißer Bühnentrend gilt. Kein Wunder: Lassen die politisierten Zeiten jene postmodernen Formenspielchen, die gerade noch so schwer en vogue waren und deren Spätausläufer weithin zu besichtigen sind, plötzlich doch so unglaublich alt aussehen!

SILENCE GianmarcoBresadola 3Autofiktion at its best: Dimitrij Schaad in "The Silence" von Falk Richter an der Schaubühne © Gianmarco Bresadola

Die Schaubühne gehört zu den wenigen Theatern, die dieses Problem des Ermattens der Avantgarde nicht haben. Als Haus, das durch die gesamte ästhetische Dekonstruktionsphase hindurch das Drama, die Erzählung und das Subjekt behauptet und dafür die Skepsis bis Verachtung der Zeitgeist-Apologeten ertragen hat (Kritikerinnen eingeschlossen), steht es jetzt in aller Souveränität dort, wo andere sich gerade erst mühsam hinzubewegen versuchen. Nun zahlt sich aus, dass der Schaubühnen-Intendant Thomas Ostermeier seinen eigenen ästhetischen Realismus stets an internationale Weiterentwicklungen anzuschließen verstanden und die hyperrealistische Sozialdramatik eines Alexander Zeldin ebenso ans Haus geholt hat wie den "globalen Realismus" von Milo Rau.

Die Schaubühne bildet damit genau jenen Gegenpol zur Volksbühne, der die Theaterrevolution eben nicht negiert, sondern sich von vornherein an einem anderen Punkt aufgestellt hat. Und weil gerade das Beharren auf dem Drama und dem Subjekt es auch ermöglicht, in die "Lücken und Leerstellen der Ideologien" vorzustoßen, wie Esther Slevogt es unlängst anhand des FIND-Festivals in der Schaubühne beschrieb, ist man hier auch im Vorteil gegenüber den vielen Bühnen, die gegenwärtig eher blutarme, politisch überformte Thesenträger-Figuren an die Rampe stellen. Kein Wunder, dass die Schaubühne vielen zurzeit als das interessanteste Haus in Berlin gilt.

Das Berliner Ensemble

Die New York Times vertritt jedenfalls eine klare Minderheiten-Position, wenn sie stattdessen das Berliner Ensemble als "das vielleicht spannendste Theater dieser Stadt" bezeichnet. Das US-Medium feiert die ehemalige Brechtbühne als "Ort, an dem Repertoirestücke und neue Werke durch außergewöhnliche Schauspieler und innovative Regisseure belebt werden". Bestenfalls trifft dieses Statement, mit dem das BE auf seiner Website wirbt, auf die Brecht-Traditionspflege zu. Hier ist man zwischen Barrie-Kosky-Dreigroschenoper und schrägem Suse-Wächter-Puppenspiel tatsächlich vergleichsweise originell unterwegs.

Stilistisch betrachtet, ist es die durchgesetzte, gediegen in den Mainstream übergegangene Avantgarde von gestern, die hier gepflegt und von schauspielerischen Hochkaräterinnen wie Constanze Becker oder Bettina Hoppe auf die Bühne gebracht wird.

Ansonsten ist der Innovationsgrad der profilprägenden Regiehandschriften, die sich Oliver Reese mit seinem Intendanzantritt zur Spielzeit 2017/18 ans Haus geholt hat, schon etwas in die Jahre gekommen. Das muss nicht in jedem Fall von Nachteil sein: Tennessee Williams' Endstation Sehnsucht in der Regie des Dramenskeletteurs Michael Thalheimer anno 2018 gehörte zu den interessantesten Berliner Abenden der letzten Jahre.

Aber stilistisch betrachtet, ist es eben eher die durchgesetzte, gediegen in den Mainstream übergegangene Avantgarde von gestern, die hier gepflegt und von schauspielerischen Hochkaräterinnen wie Constanze Becker oder Bettina Hoppe auf die Bühne gebracht wird. Ein echter Coup ist dem Haus jetzt mit der Verpflichtung des Ifflandring-Trägers Jens Harzer gelungen, der zusammen mit Marina Galic und Sebastian Zimmler ab Herbst fest ins Ensemble kommt. Welche Bewegung das ins Haus bringt, gehört zu den spannenden Fragen der kommenden Saison.

BE Reese 1200 Jonas HolthausIntendant Oliver Reese auf dem Dach des Berliner Ensembles © Jonas Holthaus

Bis dato sehen Regiehandschriften wie die ausgeklügelte Retro-Ästhetik einer Mateja Koleznik, die andernorts Theatertreffen-Einladungen generiert, hier seltsamerweise viel älter aus, als sie sind. Auch die litauisch-amerikanische Regisseurin Yana Ross, der aus Zürich ein großer Ruf vorauseilte, ist mit einem kaum für möglich gehaltenen Netzfehler in Berlin aufgeschlagen, als sie Anton Tschechows Iwanow in einen Gütersloher Tennisklub verlegte. "Es gibt Texte, die möchte man gar nicht schreiben, weil so ein tiefes, geradezu ozeanisches Sinnlosigkeitsgefühl in einem aufsteigt", stöhnte Christian Rakow in seiner Nachtkritik auf.

Die Volksbühne

Einen Abend, der augenscheinlich das genaue Gegenteil "konventioneller Theatermittel" aufbot, sah – an der Volksbühne – Kommentator Raphael Heckler. Dafür spricht jedenfalls, dass für das Gesehene offenbar noch kein Beschreibungsinstrumentarium existiert: "Was auch immer das ist", so der Post, "es ist umwerfend". Die Arbeit, auf die er sich bezieht, gehört nicht nur zu den am meisten, sondern auch am kontroversesten kommentierten der Saison: Fabian Hinrichs' Lord-Byron-Abend Sardanapal.

Von "Wahnsinnsabend" bis "Enttäuschung pur" reichen die Wortmeldungen. Wo die einen monieren, "seit Castorfs Weggang funktioniert ja gar nichts mehr", fordern die anderen: "Wir sollten wieder lernen wahrzunehmen, was unsere Sinne und die eigene Intelligenz unserer Sinne uns sagen. (…) Sonst erkennen wir nur das, was wir eh schon wissen. Dazu braucht man Kunst nicht. Das zeigt der Abend, er ist im Wortsinn phänomenal."

Konsequenter als irgendwo sonst wird Kunst hier radikal autonomieästhetisch gedacht.

Damit steht "Sardanapal" exemplarisch für das, was die Volksbühne in ihren besten Abenden ausmacht: keine vorgestanzten Schemata zu bedienen, sondern etwas zu zeigen, was man wirklich noch nie gesehen hat. Anders ausgedrückt: Die Volksbühne pflegt die maximale Differenz – zu den Wahrnehmungsroutinen des Alltags, zu angestammten Repräsentationsmustern, zu kulturpolitischen Absichten und damit, ganz prinzipiell, zum Funktionalisierungsgedanken von Kunst. Konsequenter als irgendwo sonst wird Kunst hier radikal autonomieästhetisch gedacht. Mit Spielweisen, die von außen betrachtet fremd und spinnert wirken, weil sie die Decodierungsroutinen aushebeln: Das Querstehen zum Gängigen öffnet den Blick aufs Unvertraute. In diesem Sinne war die Volksbühne – sowohl in ihren Inhalten als auch in ihren Darstellungsweisen – emphatisch unverständlich, sprich: jenseits des Verstandenen unterwegs.

Aus diesem radikalen Kunstanspruch heraus entstand das Wagnis – mitsamt dem Risiko, dass Inszenierungen auch scheitern können; und zwar nicht irgendwie, sondern wirklich krachend. Und nur dieses Wagnis brachte die epochalen Theatersprachen hervor, die prägend wurden für ganze Generationen wie den Pollesch-Stil, auf dessen Basis P-14-Volksbühnengewächse wie Bonn Park wiederum eine ganz eigene innovative Ästhetik entwickelt haben – jüngst zu sehen bei They them Okocha in Frankfurt oder bei Keine Sorge (Religion) in Düsseldorf.

pollesch24VBaussen018 DavidBaltzerKondolenz-Gestecke am Portal der Berliner Volksbühne nach dem Tod von Intendant René Pollesch im Februar 2024 © David Baltzer

Dass René Pollesch die Künstlerexistenz deutlich näher war als das Intendantenamt, ist sicher richtig. Richtig ist aber ebenso, dass man auch unter seiner Leitung in diesem Haus die radikalsten, gewagtesten Abende sehen konnte, die das gesamte Haupstadttheater zu bieten hatte – mindestens. Zwölf nackte Frauen, die in luftiger Höhe und maximal orgiastisch einen vom Schnürboden hängenden Helikopter umturnen: Solche Bilder weiblicher Selbstermächtigung hatte kein feministischer Empowerment-Abend der Saison zu bieten.

Die Volksbühne – und mit ihr Berlin im Ganzen – braucht jemanden, der oder die das kann: Raum schaffen für wirklich neues, radikal künstlerisches Theater. Der Berliner Kultursenator Joe Chialo sieht sich damit dem denkbar anspruchsvollsten Suchprofil konfrontiert. Da kann man nur bekräftigen, was Kommentator Hans Zisch schreibt: "Anstatt das wir weiter herumnebelkerzen, würde ich lieber konstruktive, informierte Vorschläge hören und lesen wollen, die wir Joe Chialo mitgeben können. Denn aus der Wahl seiner Informant/inn/en wird sich vorentscheiden, wer infrage kommt. Wir sollten diesen Informationskreis wesentlich vergrößern. Zügig."

 

Wahl ChristineChristine Wahl, geboren in Dresden, studierte Germanistik, Philosophie und Soziologie in Freiburg und Berlin. Seit 1995 freie Autorin u. a. für den Tagesspiegel, Theater heute und den Spiegel. 2020–2021 war sie Redakteurin bei "Theater der Zeit", seit 2022 ist sie Mitglied der nachtkritik-Redaktion. Als Jurorin war sie u. a. für das Berliner Theatertreffen, den Hauptstadtkulturfonds, den Kranichsteiner Literaturpreis, den Berliner Senat und das Festival "Impulse" tätig und gehört aktuell dem Auswahlgremium der Mülheimer Theatertage und der Jury des Festivals "Radikal jung" an. Autorin und Herausgeberin des Buches "welt proben" über Rimini Protokoll (Alexander Verlag Berlin, 2021).
 

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Kommentare  
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Das Wagnis in Berlin im Stadttheater zu suchen, ist ein Wagnis an sich oder ist Christine Wahl konservativ geworden? Ich empfehle als Gegengift BAUCHGEFÜHL im Theater Thikwa mit hannsjana. Großartig!
Essay Berliner Theaterlandschaft: Freie Radikale
Christine Wahls Diagnose dessen was fehlt, muss man zustimmen, und ich würde gern hinzufügend aus dem Kommentar von 'commedia' unter Fabian Hinrichs' Abschiedsbrief an Pollesch zitieren: "Würdigt, ermöglicht, riskiert künstlerische Freiheit im Geiste und im Tun, für das Polleschs Wirken einen Maßstab bildet! Überdenkt, inwiefern Ihr als Theaterschaffende Theater als Funktionäre für Funktionäre macht! (...) Schaut, ob Ihr nur ein Fünkchen des Muts zum Randständigen habt (...)!"
Vermutlich wird man Positionen, die derartige Kriterien erfüllen, nicht bereits prominent im Getriebe des Kopie-der-Kopie-Betriebs finden, man muss den Blick richten auf freie, möglichst unideologische Radikale, die für hohe künstlerische Qualität stehen. Um einmal zu beginnen: Das Team des Ballhaus Ost, Sahar Rahimi, Sebastian Blasius, Anta Helena Recke.
Essay Berliner Theaterlandschaft: Zweifel
Die Volksbühne, der Mutterkuchen künstlerischer Radikalität? I doubt it. Der Nimbus der frühen 90er Jahre strahlt offenbar immer noch hell.
Essay Berliner Theaterlandschaft: Zwei andere Akzente
Vielen Dank für den kenntnisreichen Überblick über die Berliner Häuser.

Zwei Akzente würde ich anders setzen:

1.) In Iris Laufenbergs Eröffnungssaison sehe ich als roten Faden, dass sie auf Komödie gerade in Zeiten der Krise setzt. Das war für mich auch die Message ihrer Antritts-PK. Stoffe wie Heiner Müllers "Auftrag" werden ganz bewusst auf ihr komödiantisches Potenzial abgeklopft und überschrieben. Hinzu kommt der Versuch, jüngere, weibliche Zielgruppen anzusprechen.

Gerade bei den jüngsten Premieren fiel mir die Schwierigkeit auf, dass Größen wie Uli Matthes oder Almut Zilcher, die schon bei Bernd Willms/Oliver Reese am Haus waren, wie Fremdkörper in diesen Konzepten wirken. Im besten Fall wird ein Abend wie "Penthesilea" so auf Zilcher zugeschnitten, dass sie ihn prägen kann, im schlechteren Fall fühlt man sich wie in der "hildensaga" im falschen Film, wenn die Nornen-Sprechkunst von Matthes neben dem Klamauk der Nibelungen-Karikaturen steht. Die Intendanz von Iris Laufenberg ist ja noch jung, so dass hier vielleicht aus den verschiedenen Theater-Welten, die aufeinander treffen, noch mehr produktive Reibung entsteht.

2.) Ich würde schon sagen, dass Oliver Reeses BE momentan die ungewöhnlichste Bandbreite hat. Christian Rakow beschrieb es in einer Breth-Nachtkritik als "Wundertüte". Man weiß nie so genau, was man als nächstes bekommt. Ein entscheidender Maßstab in der Spielplanpolitik ist der Erfolg beim Publikum, den hat Reese offensichtlich, angesichts der Auslastungszahlen.

Das führt dann dazu, dass man am selben Haus so - auch aus meiner Sicht - furchtbar altmodisches, aus der Zeit gefallenes Theater wie "Die schmutzigen Hände" von Koleznik durchsteht, es aber auch Freiräume wie für die "Hedda"-Drag-Version im Werkraum oder den Überraschungs-Hit "It's Britney, Bitch!" von Sina Martens/Lena Brasch gibt, die erst mal unter dem Nachtkritik-Radar blieben, aber nun regelmäßig das große Haus füllen.

PS: Harzer/Galic/Zimmler kommen erst im Herbst 2025 nach der Lux-Intendanz aus HH ans BE

PPS: Der Empfehlung für "Bauchgefühl" schließe ich mich an!
Essay Berliner Theaterlandschaft: Die raren absoluten Ausnahmen
Sehr dankbar über diesen klugen, genau hinschauenden Kommentar von Christine Wahl, auch wenn ich ihm nicht in jedem Punkt zustimme. Aber passend zu dem von ihr beschriebenen Sujet tut es gut, eine wohlüberlegte, begründete und mit Beispielen belegte Meinung zu lesen als wie so oft nur Thesen, Thesen, Thesen.

Davon ab ist es mir aber noch ein Anliegen, die erwähnten, jüngeren Regiepersonen vor dem Vorwurf der Epigonalität zumindest teilweise in Schutz zu nehmen: Erstens kann die Kopie der erstw Schritt zur eigenen Originalität sein und niemand weiß, wie sich künstlerische Laufbahnen noch entwickeln. Zweitens sind und waren Leute wie René eben absolute Ausnahmekünstler, wenn es die an jeder Ecke gäbe, wären sie ja keine Ausnahmen.
Essay Berliner Theaterlandschaft: Vielen Dank!
Eine solche Analyse vermisste ich seit Jahren! Vielen Dank!
Auch wenn mein Blick ein etwas Anderer ist: Der des zahlenden Besuchers/Kunden, für den ein Theaterbesuch ein Teil der Freitzeitgestaltung ist - und der der Ansicht ist, dass seine Bedürfnisse bei den Berliner Inszenierungen in vielen Fällen unberücksichtigt bleiben.
Geschrei und Identitätsgewusel - verbunden mit der Zerstörung von Inhalt, Form und Sprache. Da fühle ich mich nicht angesprochen. Es bleibt dann noch der Besuch des Staatsballetts; da gibt's zwar keine Sprache, aber noch einen künstlerischen Anspruch an Form und Inhalt.
Auch wenn das als "Mainstream" (Ich sehe da höchstens noch ein Rinnsal.) bewertet wird, würde ich mich einfach freuen, wenn (auch) künftig (und vermehrt) versucht würde (auch im Hinblick auf die Möglichkeit der Weitergabe an "nachwachsende" Besucher-/Kundengenerationen) herausragende Inszenierungen aus der Vergangenheit einfach zu reproduzieren (z.B. das Antikenprojekt von Peter Stein).
Essay Berliner Theaterlandschaft: Radikal gute Idee!?
Echt jetzt, wird in Berlin an allen großen Theatern nur gestümpert? Aber mal ehrlich: die neunmalkluge Empfehlung der Nachtkritikerin, jetzt endlich mal ein "radikal künstlerisches Theater" zu erfinden ist nach der ganzen Besserwisserei vorher schon beachtlich banal. Klar, kann man ja mal fordern. Fordert z.B. Claus Peymann ja auch.
Essay Berliner Theaterlandschaft: Unbedingtheit und Risiko
#7: Nein, um's Stümpern geht es nicht, sondern um das "Durchbrechen angestammter Repräsentationsmuster" (Christine Wahl), die Arbeit an neuen Ästhetiken, die auch Peymann nicht (mehr) für sich beanspruchen kann. Die neue Volksbühnenleitung müsste tatsächlich das, was fehlt, in Angriff nehmen: Eine Unbedingtheit und Risikobereitschaft in künstlerischen Dingen, eine diskursive und ästhetische Kompetenz auf Höhe der Zeit, bestenfalls auch die Fähigkeit, Theater aus festgebissenen Identitätsdebatten herauszuführen, ohne diesen Diskurs zu igonieren (siehe #6). Sicher braucht es auch ein Händchen für den Umgang mit dem 'Geist' der Volksbühne, aber jenseits von Nostalgie bzgl. der frühen 90er - Aufbruch und Rebellion müssen heute anders aussehen (siehe #3, ebenso das Interview mit Alexander Scheer).
Die von #2 genannten Namen gehen in eine gute Richtung - sie sind künstlerisch interessant und überraschend, jünger, aber erfahren, nicht durch den Betrieb abgeschliffen, kommen teils wie Pollesch aus Gießen... Bitte dahingehend weiterdenken!
Essay Berliner Theaterlandschaft: Radikal künstlerisch
Genau, das muss man fordern: radikal künstlerisch. Das war es, was Pollesch auszeichnete, das ist es, was Holzinger zeigt, was Susanne Kennedy bringt und was den in #2 genannten Künstler:innen eigen ist und darüber hinaus einer ganzen Reihe anderer, die nicht aus dem Zentrum des Betriebs kommen. Dort nämlich, man muss es konstatieren, zumal in Berlin, geht es allemal niemals radikal zu, dafür immer konsequent nach Betriebslogik. Das produziert nur noch so eine Art ARD-20:15 Programm auf der Bühne. Unterhaltsam, nicht ganz schlecht gemacht, aber vollkommen irrelevant, künstlerisch betrachtet.
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