Die Inszenierungen des Jahres wählen

27. Januar 2021. Dies ist die Vorschlagsliste mit 40 Inszenierungen, die von den nachtkritik.de-Korrespondent*innen und -Redakteur*innen als die wichtigsten der letzten zwölf Monate nominiert wurden. Es war ein schwieriges Jahr, es fing stark an und wurde durch die Verbreitung des Corona-Virus erst einmal ausgebremst, nahm dann mit Streams und Online-Premieren wieder Fahrt auf. Die Nominiertenliste spiegelt die Situation mit Produktionen, die noch live und analog zu sehen waren, Hybridveranstaltungen und reinen Digitalarbeiten.

Bis zum 1. Februar 2021 um 24 Uhr können Sie nun ihre Stimme(n) für 1 bis 10 Inszenierungen dieser Liste abgeben. Die zehn am häufigsten gewählten Produktionen bilden die Auswahl des virtuellen nachtkritik-Theatertreffens 2021. Das Ergebnis veröffentlichen wir am 3. Februar 2021.

Wir listen die Nominierungen fürs nachtkritik-Theatrtreffen, aufgeteilt nach Regionen, in alphabetischer Reihenfolge.  Jede/r Korrespondent*in und jede/r Redakteur*in hatte eine Stimme. Nominiert werden konnten Produktionen, deren Premiere im Zeitraum vom 12. Januar 2020 und dem 23. Januar 2021 lag. Durch einen Klick auf die einzelnen Kandidaten öffnet sich die jeweilige Begründung der/s Nominierenden sowie, wenn vorhanden, ein Link zur Nachtkritik:

 

Baden-Württemberg

{slider=1. Black Box von Stefan Kaegi / Rimini Protokoll
Regie: Stefan Kaegi
Premiere am 13. Juli 2020 am Staatstheater Stuttgart|closed}

Die "Black Box" schleust die Gäste einzeln durch das Innere des Staatstheaters. Rimini Protokoll inszeniert aber weit mehr als einen interaktiven Rundgang. In gebührendem Abstand können die Akteure das Gefühl von Schauspieler*innen im Moment vor dem Rampenlicht erfahren, miteinander in Kontakt treten oder frei entscheiden, es sein zu lassen. "Black Box" war aus der Not geboren, aber wer dabei war, der wird dank der Einblicke und der eigenen emotionalen Erfahrung eine stärkere Bindung ans Theater spüren: Ein Reichtum zu Corona-Zeiten. (Steffen Becker)

 

Eine interaktive Reise durch die Gedärme des Theaters in das pulsierende Herz, die Bühne. Man irrt alleine, geführt durch die Öde menschenleerer Gänge und Räume, im Ohr den quirligen Theateralltag, der akustisch als Gespensterwelt zum Leben erweckt wird. Soghaft, überraschend, erhellend. (Verena Großkreutz)

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{slider=2. Die Lage von Thomas Melle
Regie: Tina Lanik
Premiere am 18. September 2020 am Staatstheater Stuttgart |closed}

In Thomas Melles Stück “Die Lage” geht es um die Suche nach einer Wohnung, nicht vordergründig um Krieg. Doch der Autor verknüpft beide Ebenen klug. Regisseurin Tina Lanik schafft es mit dem überzeugenden Stuttgarter Ensemble, die Verzweiflung der Yuppies und ihre Lebenslügen in diesem Zeitstück ebenso in packende Theaterbilder zu übersetzen wie den Zerfall der Gesellschaft – Menschlichkeit bleibt da auf der Strecke. (Elisabeth Maier)  

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{slider=3. Qingdao – a messy archive. Deutsche Kolonialvergangenheit in China
von Mathias Becker, Chen-Ting Chen, Dora Cheng und Lisa Zehetner
Premiere am 2. Mai 2020 am Nationaltheater Mannheim Online|closed}

Die ostchinesische Hafenstadt Qingdao war von 1898 bis zum Ersten Weltkrieg eine deutsche Kolonie. Dies ist ein kaum bekanntes wie unbearbeitetes Kapitel deutscher Geschichte. Ein Rechercheprojekt von Künstler*innen aus Qingdao und dem Jungen Nationaltheater seiner Partnerstadt Mannheim hat dies in einem, coronabedingt online präsentierten Projekt beleuchtet: ein hochsinnlicher wie materialreicher dreiteiliger Mix aus Zoom-Live-Talk (1. Akt), Stöbern in Papieren, handgefertigten Zeichnungen, Videos, alten Fotos und Karten, die im Zuge der Recherche zusammenkamen (2. Akt) sowie einer Live-Performance (3. Akt). Das Stück spannt den Bogen von 1898 bis zum Sommer 2020 und dem "chinesischen" Virus. Und schafft kluge, dialektische Reflexionsmöglichkeiten über die Differenz von physischer Präsenz von Menschen und Objekten und ihrer digitalen Auflösung, den Grenzen von Recherche und Dokumentation und ihrer künstlerischen Reflexion. Highlight ist die fast wie ein Game mit mehreren Leveln strukturierte Reise (die Schlüssel zum nächsten Level muss man immer selber finden) des 2. Akts durch die verschiedensten Schichten des Recherche-Materials: das "Messy Archive" eben. Es gibt 45 Minuten Zeit, es zu erkunden. Durch seine haptische, handgemachte Anmutung kommt es oft fast physisch nahe (sogar ein chinesisches Schattentheater kommt vor). Trotzdem entzieht es sich auf Grund der kurzen Zeit, die man zum Schauen hat, sofort wieder in die unendlichen Weiten des Netzes. (Esther Slevogt)

 

{slider=4. werther.live von Cosmea Spelleken und Ensemble / Freies Digitales Theater
Regie: Cosmea Spelleken
Premiere am 5. November 2020 Online |closed}

Goethes liebestoller Werther wird heutzutage gern lächerlich gemacht im Theater, oder gleich als Stalker dargestellt. Das freie digitale Theaterprojekt um die junge Regisseurin Cosmea Spelleken hingegen schafft es, die "Leiden des jungen Werthers" ganz ohne solche Tricks vom Staub des Ewiggestrigen zu befreien. In live performten WhatsApp-Konversationen, symbolgeladenen Instagram-Posts und romantischen Zoom-Dates werden Werther & Co. äußerst lebendig – und mit ihnen das junge Genre des Netztheaters, dem diese Arbeit neue Wege weist. (Sophie Diesselhorst)

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Bayern

{slider=5. Étude for an Emergency. Composition for ten bodies and a car von Florentina Holzinger
Regie: Florentina Holzinger
Premiere am 1. März 2020 an den Münchner Kammerspielen|closed}

Florentina Holzingers "Étude for an emergency. Composition for ten bodies and a car" ist eine Splatter-Performance. Frauen verprügeln sich mit B-Movie-Kong-Fu, knallen immer und immer wieder gegen Schaumstoffmatten, später auf die Kühlerhaube eines alten Opels. Bootcamp für den weiblichen Bühnentod. Nackt, schweißtriefend, kunstblutig und erbarmungslos iterativ. Ein intensives Workout für das Zuschauer*innenhirn. (Maximilian Sippenauer)

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{slider=6. Opening Ceremony von Toshiki Okada
Regie: Toshiki Okada
Premiere an den Münchner Kammerspielen am 11. Juli 2020|closed}

Zum Abschluss der Intendanz von Matthias Lilienthal inszeniert Toshiki Okada eine "Opening Ceremony" im Olympiastadion: mit einer spektakulären Flugeinlage, quicklebendigen Grashalmen in den Zuschauerreihen, einer Vielzahl von Super Marios und einem Team von behutsam den Fußball-Rasen pflegenden Gärtnern. Im übergroßen, genug Sicherheitsabstand ermöglichenden Ambiente, aber mit eingestreuten Skurrilitäten und leisen Zwischentönen präsentiert sich Lilienthals Ensemble als individuell tanzende, aber nach fünf Jahren doch gut eingeschweißte Truppe. Dazu ein Text, der zwischen den Zeilen auch dem scheidenden Chef, den eigenverantwortlich arbeitenden Künstlerinnen und Künstlern seines Hauses, der programmatischen Ausrichtung auf ein diverses, ästhetisch alle möglichen Kreuzungen zulassendes Theater huldigt. Darauf kann man zum Finale schon mal stolz sein. Der Samen ist gesät, der Wind wird ihn weitertragen, und man wird sich trotz einiger Turbulenzen gerne an einige Erlebnisse während der Ära Lilienthal an den Kammerspielen erinnern, auch an diese zarte, wehmütige und doch heitere Inszenierung am Schluss. (Michael Stadler)

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{slider=7. Scores that shaped our friendship von und mit Lucy Wilke und Pawel Dudus
Premiere am 13. Februar 2020 am Schwere Reiter/Tanztendenz München |closed}

In sieben Kapiteln umkreisen die mit der neuromuskulären Störung SMA geborene Performerin Lucy Wilke und der queere Tänzer Pawel Dudus das, was ihre Freundschaft leicht, aber auch besonders macht, und klopfen dabei die Normen ab, die zwischenmenschliche Begegnungen reglementieren. Es geht um den Mut, eine Utopie zu versuchen, um Nähe und die Kunst, einander sein zu lassen, wie man ist. Für all das erfinden sie eine gemeinsame (Bewegungs-)Sprache. Sehr berührend und intim, gerade weil die beiden dabei ganz bei sich bleiben, ihrem Körpergefühl, ihrer Lust und ihren Stärken (statt Defiziten.) (Sabine Leucht)

 

{slider=8. Take the Villa and Run! von René Pollesch
Regie: René Pollesch
Uraufführung am 30. Oktober 2020 am Staatstheater Nürnberg |closed}

Gedanken-Billard aus dem Modellbaukasten: Das aktuellste Pollesch-Projekt, exklusiv wie immer, lässt den einst in Nürnberg entstandenen Designer-Entwurf der wirtschaftswunderlichen "Villa im Tessin" in vollem Realo-Format von 106 vergrößerten  Einzelteilen entstehen – aber erst, nachdem das ganze Modell-Haus geklaut und als Gedankensprungschanze neu montiert wurde. Der Frauen-Chor aus zwölf skandierenden Cowgirls steht unter Tatverdacht, das DarstellerInnen-Quartett regt sich mächtig auf über das Leben als solches. Nahezu ohne Stamm-Ensemble (nur Franz Beil ist als Berliner Schrittmacher dabei) bringt René Pollesch sein System auch mit fränkischer Hilfe mächtig zum Brodeln. Die grundsätzliche Frage, ob der ganze Chor Jesus sein könnte und wie man ihn dann kreuzigen soll, bleibt allerdings offen. (Dieter Stoll)

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Berlin

{slider=9. 4.48 Psychose von Sarah Kane
Regie: Ulrich Rasche
Premiere am 17. Januar 2020 am Deutschen Theater Berlin|closed}

Mit einem polyphonen Schmerzensoratorium löst Ulrich Rasche das letzte Stück von Sarah Kane aus der individualpathologischen Einhegung seiner Aufführungsgeschichte. Denn als trauriger Wahn lässt sich hier nichts mehr abtun. Stattdessen werfen Kanes Zeilen in Rasches Rhythmisierung mit ihren drei umwerfenden Hauptdarstellerinnen sprachanalytische Blitzlichter in die Schwärze des Zuschauerraums. Dort sitzen wir, mitleidend, mitschuldig. Ein bestürzender, großer Abend. (Janis El-Bira)

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{slider=10. Schwarzer Block von Kevin Rittberger
Regie: Sebastian Nübling
Premiere am 5. September 2020 am Maxim Gorki Theater Berlin |closed}

Dass sich der Theaterraum und seine Wände in eine große Leinwand verwandeln, ist kein Besonderheit. Zumal nicht im Theaterjahr 2020. Aber herausstechend wie Regisseur Sebastian Nübling zum Saisonauftakt die Bilder vom Vorplatz des Maxim Gorki Theaters ins Haus übertrug. Draußen inszeniert er einen Straßenkampf, in dem unbequeme Gesinnungen aufeinanderknallen und Gewaltbereitschaft ziemlich körperlich wird, wenn das Ensemble über den Hof und die Container-Spielstätte jagt. Drinnen nehmen einen die Bilder fest in die Klammer und machen es leicht denjenigen zuzuhören, die der Gewalt von rechts nicht mit zivilgesellschaftlicher Correctness entgegentreten wollen. (Simone Kaempf)

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{slider=11. Sleeping Duties. Probleme sind eine gute Lösung von Valerie Oberhof, Stephanie Petrowitz, Ursula Renneke, Vanessa Stern
Regie: Vanessa Stern
Premiere am 19. November 2020 in den sophiensaelen Berlin Online |closed}

Ein irrsinniges Vergnügen – vier Winterschläferinnen auf dem Weg nach oben: Valerie Oberhof, Stephanie Petrowitz, Ursula Renneke und Vanessa Stern weisen mit gravierenden Hasenzähnen, flauschigem Gemüt und herrlicher Komik den Weg aus der Krise. (Shirin Sojitrawalla)

 

{slider=12. Ultraworld von Susanne Kennedy und Markus Selg
Regie: Susanne Kennedy
Premiere am 16. Januar 2020 an der Volksbühne Berlin|closed}

Eine technikphilosophische Spekulation im Design eines Adventure-Games. Die Segnungen des Silicon Valley erschaffen hier den neuen Menschen. Sein Paradies ist der Moment selbst, der Augenblick, gänzlich befreit von Zukunft und Vergangenheit. (Michael Wolf)

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{slider= 13. Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden von Sibylle Berg
Regie Sebastian Nübling
Premiere am 24. Oktober 2020 am Maxim Gorki Theater Berlin|closed}

Wie verabschiedet man sich von (s)einem Leben? Vier Frauen, die eigentlich nur eine sind, erproben das Verschwinden. Schnodderig-direkt ist ihr Ton – diesem chorisch monologisierenden Quartett kauft niemand den Schneid ab. Sebastian Nübling destilliert die Komik aus Sibylle Bergs traurig-böser Suada über ein miss(ge)lingendes Dasein und findet mit den famos energievollen Spieler*innen einfache und wirkmächtige Inszenierungsideen: Rollatoren werden zu DJ-Pulten und unter Bademänteln blitzen leopardengemusterte Kleider. Streamtauglich frontal auf der Vorderbühne inszeniert, transportiert sich auch über den Bildschirm der Spielwitz dieses ungebremsten komatösen Rants. Ein furioser finaler Erinnerungsflash! (Elena Philipp)

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{slider=14. Show Me A Good Time von Gob Squad
Regie: Gob Squad
Premiere am 20. Juni 2020 online am HAU Berlin und La Jolla Playhouse St. Diego|closed}

Am Ausgang des ersten Lockdowns, als die Theater wie vom Eise befreit in den Mittsommer spazierten, machten Gob Squad etwas, das so simpel wie schlagend war: Sie stellten je eine*n Performer*in auf die große, leere Bühne des HAU1 und ließen Kolleg*innen durch den Stadtraum schwirren, um für ihn/sie Spielideen zu sammeln. Gemäß dem Motto "Show Me A Good Time". Es waren Stehgreif-Begegnungen, via Kamera ins Theater gesendet. Stunde um Stunde lief ähnlich ab, mit fixen Abläufen im Script, wie in einer Beckett’schen Wiederkehr des Gleichen, aber doch offen für spontane Ereignisse und Wendungen. Im Ganzen gab dieser Abend eine eindrucksvolle Allegorie auf das bleierne Lockdown-Jahr 2020, in dem der Funken des Bühnenlebens über Distanzkommunikation am Leben gehalten wurde. Er war ein Hybrid par excellence, coronatauglich ebenso gut am Heim-PC wie analog zu schauen. In internationaler Vernetzung zwischen Berlin, Sheffield und San Diego. Eine urbane Künstlerreise durch eine wundersame und wunderbare Mittsommernacht. (Christian Rakow)

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Brandenburg

{slider=15. Antifaust. Ein Faust-Kommentar von Jo Fabian
Regie: Jo Fabian
Premiere am 29. Februar 2020 am Staatstheater Cottbus |closed}

Ein Abschied als Meilenstein - bildgewaltiges Theater wie bei Jo Fabians letzter Premiere in Cottbus gab's selten irgendwo. "Goethes lächerlicher Faust" - mit diesem Nietzsche-Wort wird "Antifaust", wie theoretisch der Abend zunächst auch wirken mag, zum durch und durch theatralischen Ereignis. Das ist totales Raumtheater, dabei wie frei improvisiert über den Goethe- und "Faust"-Diskurs hinaus: als Blick auf die letzten Tage der Menschheit, aber ohne Karl Kraus. (Michael Laages)

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Hamburg

{slider=16. Eine Frau flieht vor einer Nachricht nach dem Roman von David Grossman
Regie: Dušan David Parízek
Premiere am 24. Januar 2020 im Malersaal des Deutschen Schauspielhaus Hamburg |closed}

Die Aufführung macht aus Weltpolitik großes Schauspielerthea­ter. Es geht um Israel, ein Land im permanenten Ausnahmezustand, der die Menschen zerfrisst. Die behutsame, schonungslos genaue Regie seziert dieses Lebensgefühl und damit den Kern des über 700 Seiten langen Romans. Dušan David Parízek und die Schauspieler Ute Hannig, Paul Herwig und Markus John gehen mit den lebenssatten Figuren gedanklich überall hin, erkunden ihre Antriebe, wissen nichts besser, nehmen alles kompromisslos ernst. Die Aufführung entwickelt eine beeindrucke Klarheit in der emotionalen Intensität. Wobei hinter der individuellen Not auch das Psychogramm einer vom militärischen Denken durchdrungenen Bevölkerung sichtbar wird: Immer wachsam vor den täglich möglichen Selbstmordan- oder Raketeneinschlägen sein zu müssen, stets Misstrauen gegenüber Arabern hegen zu sollen. Die Angst vor dem Tod wird so zu einer Angst vor dem Leben. (Jens Fischer)

Zur Nachtkritik

 

{slider=17. Geschichten aus dem Wiener Wald von Ödön von Horváth
Regie: Heike M. Goetze
Premiere am 7. November 2020 als Livestream am Deutschen Schauspielhaus Hamburg|closed}

Goetze hüllt ihre Inszenierung wortwörtlich, schließlich verantwortet sie auch Bühne und Kostüme, in eine alptraumhafte Atmosphäre. Ihr buntes Kostümpatchwork verdeckt nicht nur die Körper und Köpfe der Darsteller*innen, sondern auch – und das macht das Alptraumhafte aus – deren Gesichter. Diese maskenhaften Figuren berühren, gerade durch ihre Anonymität und Austauschbarkeit, die Schauspieler*innen lassen Schaudern, gerade durch das Ungefähre in ihrer Figurenzeichnung. Mit diesen Figuren vor knisternder Soundkulisse gelingt Goetze eine eindringliche "Geistervorstellung", deren Geister noch lange nicht tot sind. (Katrin Ullmann)

Zur Nachtkritik

 

{slider=18. Ivanov von Anton Tschechow
Regie: Karin Beier
Premiere am 18. Januar 2020 am Deutschen Schauspielhaus Hamburg|closed}

Bei Karin Beier spielt Devid Striesow die Titelfigur. Von Anfang an signalisieren die Körperhaltung und die leisen Kopfbewegungen den Depressiven. Aber Beiers Sympathie gehört ihm. Die Personen der Handlung scheinen isoliert, sprechen oft über die riesige leere Bühne hinweg miteinander, aber Ivanov steht, auch wenn er gar nicht anwesend ist, im Zentrum. Unvermittelt lässt Karin Beier das Stück, in das sie mit ihrer Dramaturgin Rita Thiele behutsam ein paar Fremdtexte montiert hat, nach seiner Einleitung mit Musik, Choreographie, Licht und Haltungen ins Groteske kippen. Die Gesellschaft, an der Ivanov krankt, wird somit in scharfen Kontrast zu ihm selbst gesetzt. Sie wirkt wie ein Albtraum. (Thomas Rothschild)

Zur Nachtkritik

 

{slider=19. molto agitato von György Ligeti, Johannes Brahms, Georg Friedrich Händel und Kurt Weill
Regie: Frank Castorf
Premiere am 5. September 2020 an der Hamburger Staatsoper |closed}

Frank Castorf schlägt wild assoziativ Haken quer durch die Musikgeschichte – und schafft dabei offene Räume in Zeiten geschlossener Gesellschaften. Das Ergebnis ist ein multimediales Glamourtrash-Gesamtkunstwerk mit einem überragenden Ensemble, das vor demonstrativ leerer Bühne immer wieder neu in Wallung gerät. Ein grandios irritierender, lustvoll lasziver Abend wie ein theatraler Befreiungsschlag. (Stefan Forth)

Zur Nachtkritik

 

{slider=20. Care Affair von Frauen und Fiktion
Regie: Frauen und Fiktion (Anja Kerschkewicz, Eva Kessler, Felina Levits, Paula Reissig)
Premiere am 17.Oktober 2020 am Lichthof Theater Hamburg in Kooperation mit dem Theaterdiscounter Berlin|closed}

Im Corona-Jahr wurde Care-Arbeit plötzlich systemrelevant, bezahlt wurden Pflege, Hilfe und Unterstützung aber trotz symbolischer Anerkennung immer noch nicht ordentlich. Das Kollektiv Frauen und Fiktion hat mit "Care Affair" eine beeindruckende Arbeit zu diesem Komplex entwickelt, ironisch, bunt, queer, politisch scharfsinnig. Die Premiere im Hamburger Lichthof Theater fand noch unter strengen Hygienestandards statt, die zweite Aufführungsserie musste dann vom Berliner Theaterdiscounter ins Netz verlegt werden. (Falk Schreiber)

 

Niedersachsen

{slider=21. Überleben von Werkgruppe2
Regie: Julia Roesler
Premiere am 29. Februar 2020 am Staatstheater Oldenburg |closed}

Unmittelbar bevor dem ehemaligen Krankenpfleger und Serienmörder Niels Högel der Prozess gemacht wurde, hatte die Werkgruppe2 angekündigt, das Verfahren mit Schauspieler*innen zu begleiten, um die Mordserie später auf die Bühne zu bringen. Ihre weit über Oldenburg hinaus skandalisierte Produktion "Überleben" hat eine beispiellose Gratwanderung zwischen dokumentarischem Theater, politischer Diskursentfaltung und schließlich auch praktischer Gedenkarbeit vollbracht – und dabei eine Theatermaschine in Bewegung versetzt, die nicht zuletzt auch beachtlichen ästhetischen Überschuss produziert. (Jan-Paul Koopmann)

 

Nordrhein-Westfalen

{slider=22. Blackbird von Matthias Brandt 
Regie: Christian Schlüter
Premiere am 5. September 2020 am Theater Bielefeld |closed}

Im September keimte kurz die Hoffnung, dieser Herbst würde einen Theaterfrühling bescheren. Dazu trug nicht zuletzt Christian Schlüters melancholische und trotzdem nicht humorlose Inszenierung von Matthias Brandts Coming-of-Age Roman "Blackbird" am Theater Bielefeld bei. Mit der mehrstimmigen Schlussszene bewies Schlüter zudem eindrucksvoll, dass Romanadaptionen auf dem Theater künstlerischen Eigenwert haben können – gerade auch dann, wenn sie sich voll und ganz auf ihre Vorlage einlassen. (Kai Bremer)

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{slider=23. Früchte des Zorns nach John Steinbeck
Regie: Rafael Sanchez
Premiere am 19. Dezember 2020 am Schauspiel Köln Online |closed}

Ein Beispiel dafür, wie man aus der Distanz noch emotionale Wirkung erzielt, wie man sich dem Film annähert, ohne die Künstlichkeit des Theaters aufzugeben. Aber: Theater ohne Zuschauer, nur eine Konserve aus schlechten Zeiten für und über andere schlechte Zeiten. (Gerhard Preußer)

 

{slider= 24. GAIA-Projekt – eine Cyborg-Oper von kainkollektiv
Regie: Mirjam Schmuck
Premiere am 27. Juni 2020 bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen|closed}

"Gaia-Projekt. Eine Cyborg-Oper" von Kainkollektiv (Ruhrfestspiele Recklinghausen) zeigt weitere Potentiale des digitalen Theaters. Nicht nur, dass Regisseurin Mirjam Schmuck Filme, Live-Videokonferenzen, grandiose animierte Gothic-Novel- Zeichnungen, Tanz und Theater in dramaturgisch kluger, pathetisch-fröhlicher Weise zusammenbringt und dabei die griechische Muttergöttin der Erde feiert, sie zeigt auch, wie Frauen sich – nicht nur in der Pandemie, aber auch – solidarisieren: sechs Künstlerinnen aus Teheran, Kamerun, Paris, Krefeld und Düsseldorf erschaffen gemeinsam einen Abend über die Kondition und Kraft von Frauen, den Wahnsinn des weiblichen Overloads, vor und zu Corona-Zeiten. (Dorothea Marcus)

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{slider=25. I build my time von André Kaczmarczyk
Regie: André Kaczmarczyk
Premiere am 25. Januar 2020 am Düsseldorfer Schauspielhaus |closed}

Als diese Aufführung Premiere hatte, im Rahmen des Jubiläumsfests "50 Jahre Schauspielhaus am Gründgens-Platz", ahnte man noch nichts Böses. "I build my time" entpuppte sich als eine mitreißende Revue, eine Rückschau also auf 50 Jahre Geschichte und Theatergeschichte, voller lustiger und berührender Momente, exzellent gespielt, getanzt. Magisch. Dann fiel der Vorhang (… so round about für ein Jahr). Wir haben uns doch nicht verrechnet? (Martin Krumbholz)

 

{slider=26. Iwanow von Anton Tschechow
Regie: Johan Simons
Premiere am 18. Januar 2020 am Schauspielhaus Bochum|closed}

"Iwanow" und nicht etwa "Hamlet" war die bisher beste Inszenierung in Johan Simons' Intendanz am Schauspielhaus Bochum, wahrlich ein Meisterwerk. Gleichzeitig eine One-Man-Show für Jens Harzer, der in den ersten Sekunden schon eine Ahnung für seine Figur vermittelt, die sich in vier Stunden, in denen man atemlos lauscht und schaut, zu einem spannungsvollen, plastischen Bild verdichtet. Und auch eine große Ensemble-Leistung, die zeigte, wie wunderbar Simons' neue, diverse Schauspieler*innen-Schar zusammengewachsen ist. (Max Florian Kühlem)

 

Das Tschechow-Stück und seine Chronik der Seelenmorde öffnen sich, als sei es ein Roman von Henry James oder als läge Iwanows Anwesen auf dem Zauberberg, wo ein Kapitel "Der große Stumpfsinn" heißt. Johan Simons nimmt sich alle Zeit der Welt, verwaltet sie klug und gewichtet sie gleich. Sie vergeht nicht, ob langsam, ob schnell, ob angeregt, ob sterbensmüde, sie steht still. Langeweile und Kurzweil überblenden in eins. Das leise Anschlagen einer Glocke kündet von vielen letzten Stündlein. Aber dann wird mit dem Instrument so laut gebimmelt, dass das Leben noch einmal wiederkehrt – für Jens Harzer als Iwanow und all die anderen überflüssigen Menschen. (Andreas Wilink)

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{slider=27. Lolita (R)evolution (Rufschädigendst) – Ihr Alle seid die Lolita Eurer selbst! von Jonathan Meese
Regie: Jonathan Meese
Premiere am 15. Februar 2020 am Theater Dortmund|closed}

Die Erinnerungen an die Theaterabende vor dem ersten Shutdown im vergangenen März sind schmerzlich. Was hat das Theater seither nicht alles verloren. Doch keine Erinnerung ist so herzzerreißend wie die an Jonathan Meeses erzradikales Spektakel. Knapp drei Stunden lang haben er und seine sechs Mitstreiter*innen sich in exzessiven Improvisationen verloren, die um Deutschland und Demokratie, Kunst und Terror, Richard Wagner und John Boormans “Zardoz” kreisten. Ein unendlich befreiendes Ritual, in dessen Verlauf sich das Ensemble in Kreuzritter*innen der Kunst verwandelt hat. Alle strebten nach dem Gral höchster Freiheit und fanden ihn im Rausch des reinen Spiels. (Sascha Westphal)

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Rheinland-Pfalz

{slider=28. Ein ganz gewöhnlicher Jude von Charles Lewinsky
Regie: Sara von Schwarze
Premiere am 10. Oktober 2020 am Theater Trier in der Europäischen Kunstakademie Trier |closed}

Die Bitte eines Sozialkundelehrers, vor seiner Klasse einen Vortrag über sein Leben als Jude in Deutschland zu halten, veranlasst Emmanuel Goldberg, den "ganz gewöhnlichen Juden", sich mit seiner Religion, der er bislang kaum etwas abgewinnen konnte, auseinanderzusetzen. Während er seinen Absagebrief an den Lehrer formuliert, gerät er immer tiefer in den Konflikt mit sich selbst und seiner Umwelt, für die er auf keinen Fall ein Objekt des Mitleids und der Nachsicht sein will – der "Betroffenheitsmodus" der Philosemiten in seiner Umgebung bringt ihn zur Weißglut. Mit selbstquälerischer Genauigkeit seziert Klaus-Michael Nix in der Hauptrolle seine Figur und vermag damit auf subtile und manchmal sehr arrogant-burschikose Weise die Zerrissenheit, aber auch die Überheblichkeit, den Zynismus und die Verbitterung zu vermitteln, die sich in seinem Goldfarb angesammelt haben. Die überzeugende Figurenzeichnung dürfte Sara von Schwarze und ihrem Hauptdarsteller nicht zuletzt dadurch gelungen sein, dass die Regisseurin, in München geboren und in einer ultra-orthodoxen Umgebung in Israel aufgewachsen, eigene Erfahrungen eingebracht hat. (Rainer Nolden)

 

Sachsen

{slider=29. Der nackte Wahnsinn + X von Michael Frayn
Regie: Sebastian Hartmann,
Premiere am 16. September 2020 am Staatsschauspiel Dresden|closed}

Wie anfangen? Wie neu anfangen? Wenn das Leben von Beginn an nur auf Probe, weil zerbrechlich ist? Sebastian Hartmann lässt sich treiben, wie es seine Art ist und erfindet einen wilden, hoch emotionalen Assoziationsreigen, in dem alles auf dem Spiel steht. (Tobias Prüwer)

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{slider=30. Einmeterfünfzig von Rainald Grebe
Regie: Rainald Grebe
Premiere am 19. September 2020 am Staatsschauspiel Dresden |closed}

Mit seinem bereits während der ersten Coronawelle im Frühjahr 2020 angekündigten Stück trifft Rainald Grebe nicht nur geradezu tagesaktuell das primäre Thema des Jahres. Der lakonische Titel verrät es schon. Der Kabarettist verharrt auch nicht nur in der bekannten Ironie oder verfällt in Sarkasmus. Das knapp zweistündige Werk steigert sich vielmehr streckenweise schon beinahe sentimental in eine Liebeserklärung an das Theater und seine "systemrelevante" Unverzichtbarkeit. Und gerät zugleich zu einer Hommage an den Schauspielerberuf, dessen abverlangtes Quasi-Berufsverbot wie der Verzicht auf eine unentbehrliche Droge erscheint. (Michael Bartsch)

 

{slider= 31. Eriopis von E.L. Karhu
Regie: Anna-Sophie Mahler
Premiere am 6. März 2020 am Schauspiel Leipzig |closed}

Die Autorin E.L. Karhus hat den klassischen, viele Male variierten Dramenstoff Medea um eine außergewöhnlich Interpretation und ebenso singuläre Perspektive erweitert: ums Leid der Tochter. Die Regisseurin Anna-Sophie Mahler hat mit ungewöhnlich eindrucksvollem, hoch intelligentem Video-Einsatz eine gleichermaßen spannende und witzige wie menschlich ergreifenden Erzählform in höchster, aber auch einfacher bildmächtiger Ästhetik gefunden. Das Ensemble hat dieses Konzept kongenial realisiert. (Harald Raab)

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{slider= 32. Searching for Macbeth nach William Shakespeare
Regie: Christian Friedel
Premiere 5. September 2020 am Staatsschauspiel Dresden |closed}

Eine Shakespeare-Show, ein dramatisches Konzert im Wald Birnam, ein eigenes Genre, exakt auf der Schnittstelle zwischen Ernst und Unterhaltung. Friedel entzieht die Inszenierung von Anfang an den gängigen Fragen. Kaum zu sagen, was er aus dem Stück herausinterpretiert, was vielleicht hinein. Was er ins Heute holt, was im Damals versteckt. Vordergründig: nichts außer Spielfreude und Phantasie. Denn dieser verkürzte Abend ist erstmal (und das ist gut so!) nur eins: eine dreidimensionale, multimediale Illustration, getragen von Musik und Donner und Licht und Projektionen und großartig trotzenden Schauspielern. . Robert Wilson meets Coldplay, deutlich mehr als eine Notlösung. (Matthias Schmidt)

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Österreich

{slider=33. Automatenbüffet von Anna Gmeyner
Regie: Barbara Frey
Premiere am 30. Oktober 2020 am Burgtheater Wien |closed}

Eine famose, gleichwohl kaum gekannte oder -spielte Autorin der Zwischenkriegszeit auf die Bühne zu bringen, ist schon Verdienst genug; gerade wo Frauen in den "satisfaktionsfähigen" Positionen am Theater nach wie vor nicht eben überrepräsentiert sind. (Grüße an Kill the Trauerspiel!) Zu einer der großartigsten Premieren des (zugegeben: in kaum einer Hinsicht großartigen) Jahres 2020 wird das, wenn man es so wunderbar eigensinnig, stimmig und atmosphärisch dicht, zugleich mit soviel feiner Komik inszeniert wir Barbara Frey – und dann auch noch die Darsteller*innen zu Höchstform auflaufen. War nicht alles schlecht 2020, auch am Theater nicht. (Andrea Heinz)

Zur Nachtkritik

{slider=34. Die Traumdeutung von Sigmund Freud von Dead Centre
Regie: Dead Centre (Bush Mourkazel, Ben Kidd)
Premiere am 16. Januar 2020 am Akademietheater Wien |closed}

Verspielte Geschichtsstunde mit angewandter Traumdeutung und bestechenden Zaubertricks. Das irische Regieduo Dead Centre schämt sich nicht, Theater für das Publikum zu machen, es behutsam einzubinden. Dieser geradezu unerhört freundlich in Richtung Zuschauerraum ausgestreckte Arm macht die Arbeit von Bush Moukarzel und Ben Kidd unterhaltsam und erfolgreich, aber dadurch nicht weniger innovativ oder intelligent. Der Einsatz technischer Hilfsmittel dient der Verblüffung, aber auch dem behandelten Stoff. In diesem Fall wird eine Zuschauerin auf die Bühne geholt, der nicht nur ein Traum gedeutet wird, sie wird auch unvorbereitet zur Hauptfigur des Abends. Übergriffig? Erstaunlicherweise nein. Coronatauglich? Leider auch nicht. Umso einzigartiger. (Martin Thomas Pesl)

Zur Nachtkritik

 

{slider=35. Reineke Fuchs von Johann Wolfgang Goethe
Regie: Mina Salehpour
Premiere am 2. Oktober 2020 am Schauspielhaus Graz|closed}

Regisseurin Mina Salehpour hat exemplarisch herausgeschält, wie sich ein Populist ohne Skrupel stets nach Bedarf seine alternativen Fakten zusammendreht. Insofern hat Goethe, selbst Karrierist von Gnaden, die Trumps, Orbans und Erdogans dieser Welt hübsch vorgedacht. Das wurde gut auf den Punkt gebracht und ziemlich gut gespielt. (Reinhard Kriechbaum)

 

{slider=36. Schwieriges Thema von Milena Michalek & Ensemble
Regie: Milena Michalek
Premiere am 12. Februar 2020 am Kosmos Theater Wien |closed}

So schwierig! Das mit der Pubertät und den Körpern, Selbstbestimmung, Fremdbestimmung, Pickeln und Macht. Wachsen Rüssel, Höcker, Hörner und Antennen – üppige Prothesen gegen jede Produktivität. Andererseits: In den Raum ragend, mit so ganz unklaren Körpergrenzen, wagen vier Musketiere eine Vergemeinsamkeitung, werden Schmetterling. Ein Theaterabend wie ein Prisma! Um im Elefanten die Mücke, in der Mücke den Elefanten zu sehen. Ziemlich extrem schwierig wow. (Theresa Luise Gindlstrasser)

 

Schweiz

{slider=37. Einfach das Ende der Welt nach Jean-Luc Lagarce
Regie: Christopher Rüping
Premiere am 3. Dezember 2020 im Schiffbau des Schauspielhaus Zürich |closed}

Die Distanz des Corona-Theaters kriecht in dieser Inszenierung als Unsicherheit, als Lähmung in jede Pore. Das Ensemble – durchweg großartig – fragt: Wie weit lassen sich Familienmitglieder Raum für Veränderungen? Inwieweit frieren sie die anderen ein in Erinnerungen, inwieweit nehmen sie spätere Entwicklungen wahr? Christopher Rüping findet dafür zusammen mit Bühnenbildner Jonathan Mertz atemberaubende Bilder. (Valeria Heintges)

Zur Nachtkritik

 

{slider=38. Graf Öderland von Max Frisch
Regie: Stefan Bachmann
Premiere am 14. Januar 2020 am Theater Basel in Koproduktion mit dem Residenztheater München|closed}

Die 95 Minuten verfliegen in einem hypnotischen Bilderrausch. Ein kanaltiefer Riesentrichter von Bühnenbreite schafft eine Unterwelt, in die die Figuren als Abziehbilder ihrer bürgerlichen Existenz hinunter tänzeln, torkeln, rutschen. Ein surrealer Ort, von dem über einen Trichter überakustische Klänge an uns herangetragen werden. Thiemo Strutzenberger als Titelfigur ist kein Bundesbeamter, bei dem plötzlich der Schalter auf Amok kippt: Sein Staatsanwalt ist von Beginn weg die Unruhe selbst und gefährlich unberechenbar. (Claude Bühler)

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{slider=39. Medea* nach Euripides
Regie: Leonie Böhm
Premiere am 19. September 2020 im Pfauen des Schauspielhaus Zürich|closed}

Medea steht einsam an einem toten Punkt: Das streicht Leonie Böhm in ihrer Inszenierung – im Grunde ein Monolog – heraus. Die sozialen Bande sind gerissen, es gibt keinen festen Boden unter den Füßen (sondern nur flottierende Tücher). Das destruktive und selbstdestruktive Handeln hat seine alternativlose Eigendynamik schon in Gang gesetzt. Böhm legt ihr Augenmerk auf die Entwicklung, die dem “Passage à l'acte” vorausgeht. Die Selbstermächtigung, die ihm inneliegt. Die neuen Entfaltungsmöglichkeiten, die der Durchbruch vielleicht schafft. Wie Maja Beckmann das schauspielerisch entwickelt, wie Leonie Böhm es bildhaft macht, wie Johannes Rieder es musikalisch spiegel, ist atemberaubend und klug. (Andreas Klaeui)

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{slider=40. Revue 2020 von Antje Schupp und Gregor Brändli
Regie: Antje Schupp
Premiere am 26. Juni 2020 bei den Zürcher Festspielen / Opernhaus Zürich / Schauspielhaus Zürich |closed}

Aus den Koordinaten 20er-Jahre-Revue und Corona-Klima-Requiem machen Antje Schupp und ihr Team eine unerschrockene Crossover-Show zwischen Oper und Musical, Kabarett und Zeitanalyse, E und U. Lisa-Katrina Mayer führt hinreißend lässig und zugleich scharf analysierend durch die Krisen-Szenarien. Angesichts von Corona-Bedrohung und Erderwärmung verhandelt sie zusammen mit Sänger*innen und Musiker*innen in sieben Stationen die Endlichkeit unseres Seins, aber auch künstlerische Strategien, mit diesen Bedrohungen umzugehen. "We shall overcome" ist vielleicht nicht die Lösung, aber ein Strohhalm, der bleibt. (Georg Kasch)

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