Ivanov - Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Verfallsdatum abgelaufen
von Stefan Forth
Hamburg, 18. Januar 2020. An diesem Abend gehen die Partys ans Eingemachte. Eva Mattes trägt es massenhaft auf die Bühne des Deutschen Schauspielhauses. Irgendwann steht sie überall rum, die giftig grün glibschige Stachelbeerkonfitüre, abgefüllt in überdimensionierte Einmachgläser, die wahlweise auch als Tanzpodeste genutzt werden können. Eine süße Grundlage für bittere Wahrheiten in einer grandiosen Inszenierung von Čechovs "Ivanov".
Eine Hochzeit und zwei Todesfälle
Zu feiern gibt es darin vordergründig allerhand: einen 20. Geburtstag, eine Beerdigung, eine Hochzeit und eine Verlobung. Dazu kommt ein weiterer Todesfall am Schluss, über den allerdings einfach hinweggetanzt wird, als wäre nichts gewesen, obwohl sich ausgerechnet die Titelfigur vorlagengetreu eine Kugel ins Hirn schießt. So leicht lässt sich das apathische Partyvolk aber nicht erschüttern, das da im clubbigen Rotlicht zu dumpfen Beats vor sich hin zuckt.
"Nothing thrills us anymore", säuselt Ensemble-Neuzugang Eva Maria Nikolaus nachgerade lasziv ins Mikro und bringt so das Lebensgefühl dieser Bühnengesellschaft auf den Punkt. Die meisten sind irgendwie angeödet, kaum einer hat noch Ziele oder gar Visionen, weil sowieso alles egal zu sein scheint. Während der Großteil die Leere des Lebens durch Smalltalk, Suff oder sonstige Sedierung lautstark zu übertönen versucht, geben sich zwei Figuren offensiv der Schwermut hin: der mittelalte Ivanov und die junge Saša, Tochter seiner Nachbarn und Gläubiger.
Zeitbomben unter sich
Er steht bei den Partys auf weitgehend leerer schwarzer Bühne meist irgendwo hinten mit dem Gesicht zur Wand. Sie macht einen auf Rebellin und blafft auch noch bei ihrem eigenen Geburtstag gelangweilt die Gäste an. Es ist ein wahnsinnig aufregendes verlorenes Paar, das Regisseurin Karin Beier da zusammengebracht hat: den großartigen Devid Striesow in der Titelrolle und die ausdrucksstarke Aenne Schwarz, die ihm im wütenden Aggressionspotential in nichts nachsteht. Zwei Zeitbomben, die allerdings erst dann in ihrem Unglück zusammenfinden können, als Ivanovs erste Frau Anna elendig an Tuberkulose gestorben ist.
Angelika Richter verleiht dieser dem Tode geweihten, einsamen Figur im Schreckenskabinett der Partyzombies eine gespenstisch lebendige Aura. Wenn sie im bunten Morgenmantel tanzt und Purzelbäume schlägt, dann versucht sie sich kraftvoll verzweifelt an diese Welt zu klammern, die den meisten anderen nichts mehr zu bedeuten scheint, denn: "Die Zukunft hat keine Zukunft mehr." Auch wenn die Sommer "unerträglich heiß" werden und ein Hurrikan auf den nächsten folgt – egal. Die Gegenwart ist sowieso ohne Ausweg und am Ende kann alles nur noch schlimmer werden.
Es sind solche behutsamen Marker am Rande des Partygeschehens, mit denen die Regisseurin und ihre kluge Dramaturgin Rita Thiele in ihrer schlüssigen gemeinsamen Textfassung den "Ivanov" erstaunlich nah ans Jahr 2020 heranholen. Während der Brite Robert Icke erst kürzlich in Stuttgart mit einer vergleichsweise plakativen Aktualisierung des Stoffes nur bedingt überzeugen konnte, besticht die Inszenierung am Hamburger Schauspielhaus durch feine Zwischentöne, sprachliche Sensibilität und bis ins letzte Detail durchchoreographierte Szenen, in denen das Drama jederzeit in die Komödie kippen kann und umgekehrt.
Meistermagierin der Bühne
Beim nahtlos brutalen Übergang etwa von Annas Beerdigung zu Ivanovs Wiederverheiratung tauscht die Braut eine selbstbewusst weit geschnittene Variante von Hot Pants und schwarzen Strümpfen gegen einen nicht minder modischen weißen Hosenanzug mit Spitzenschleier, der Rest vom Fest schleppt ein paar Luftballons an - und schon kann die Party weitergehen. Karin Beier ist eine Meistermagierin der Bühne: Mit einem Handstreich erschafft sie an diesem Abend wie aus dem Nichts bildgewaltige Welten. Als wäre sie Shakespeares Prospero.
Zu allem Überfluss kann sie sich auch noch auf den Luxus eines verschwenderisch guten Ensembles verlassen. Alle sind sie toll, alle kommen sie zu ihrem Recht, und alle stellen sie sich in den Dienst der Inszenierung. Eva Mattes zum Beispiel genießt es sichtlich, als Mutter-Matrone die geizige alte Hexe geben zu können. Lina Beckmann, Bastian Reiber und Michael Wittenborn machen aus vermeintlichen Nebenfiguren großartige traurige Clowns, denen allein man stundenlang beim komischen Kampf um Würde und Bedeutsamkeit zuschauen könnte.
Fehlte der aktuellen Spielzeit am Schauspielhaus bislang ein echtes Highlight, hat sich das mit diesem Abend furios verändert. Dieser "Ivanov" ist unbedingt sehenswert, ebenso lustig wie berührend. Die Party kann also weitergehen. Genug Eingemachtes ist schließlich vorhanden.
Ivanov
von Anton Čechov
Deutsch von Peter Urban, in einer Fassung von Karin Beier und Rita Thiele
Regie: Karin Beier, Kostüme: Astrid Klein, Mitarbeit Kostüm: Janin Lang, Mitarbeit Ausstattung: Selina Puorger, Musik: Jörg Gollasch, Licht: Annette ter Meulen, Choreografie: Thomas Stache, Dramaturgie: Rita Thiele.
Mit: Paulina Alpen, Lina Beckmann, Jonas Hien, Vlatko Kucan, Eva Mattes, Eva Maria Nikolaus, Bastian Reiber, Angelika Richter, Maximilian Scheidt, Aenne Schwarz, Ernst Stötzner, Devid Striesow, Samuel Weiss, Michael Wittenborn.
Premiere am 18. Januar 2020
Dauer: 3 Stunden 10 Minuten, eine Pause
www.schauspielhaus.de
Kritikenrundschau
In ihrer "faszinierend spartanischen Inszenierung" habe Karin Beier in "spektakulärer Kahlheit" sogar auf eine Bühne verzichtet, schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (20.1.2020). Das "hinreißend aufspielende Ensemble" erschaffe dabei "mit beseelter Verve ein morbid verstrahltes Kraftfeld, dessen hochenergetische Konzentration auch das Publikum miteinschließt". Mit einigen "eingestreuten kurzen Fremdtexten" werde das Stück zur Gegenwart geöffnet, mehr sei auch "nicht nötig, um die ohnedies vorhandenen Korrespondenzen locker auszumalen". Karin Beier zeige sich mit dieser "grandiosen" Inszenierung "auf der Höhe ihrer Regiekunst und erweist sich als Meisterin der beredten Reduktion".
Devid Striesow führe als Ivanov "drei Stunden lang einen Zappelirrsinn vor, als müsse es ihn sogleich zerreißen", so Wolfgang Höbel auf Der Spiegel (19.1.2020), wo Karin Beiers Hamburger Inszenierung direkt mit jener von Johan Simons in Bochum verglichen wird. Die Frauen und Männer um diesen "Rumpelstilzheld" herum seien, "als habe George Grosz sie gemalt", ein "Haufen überdrehter Monstermenschen". Karin Beier suche immer wieder die "grelle Komödie, in der die Schauspieler wodkaselig wanken und nuscheln und die Lachbedürfnisse vieler Theaterbesucher bedienen". Da bleibe es "bei aller Bewunderung ein bisschen unbegreiflich, warum im Jahr 2020 eine Bande von so klugen, hochbegabten Theatermenschen gerade die Geschichte des Jammerlappens Iwanow erzählen musste". Am Ende stehe "vergnügliches Edelboulevardtheater".
Um die "Psychopathologie des Verlierers" gehe es Regisseurin Karin Beier, so Michael Laages im Deutschlandfunk Kultur (18.1.2020). Humorvoll gehe es dabei trotz der im Stück angelegten Melancholie aber kaum zu. Regie und Dramaturgie hätten sich dafür entschieden, das "innere Ausgehöhlt-Sein und Nicht-Wissen" darzustellen und gingen der Frage nach "wie man sich selbst in dieser Welt, wie sie ist, zu positionieren hat, um zu überleben und um eventuell auch anderen das Überleben zu ermöglichen". Damit werde dieser Čechov ziemlich "direkt auf die Gegenwart" heruntergebrochen.
"Bei Devid Striesow wirkt der Suizid per Kopfschuss auf offener Szene alles andere als unausweichlich. Er steht sich in enervierender Weise selbst im Weg, man möchte ihn schütteln, damit er sich zusammenreißt. Trotz aller mangelnder Sympathie für Ivanov ist sein Abgang zumindest bedauerlich", schreibt Alexander Menden in der Süddeutschen Zeitung (22.1.2020). Regisseurin Karin Beier streiche den Kitsch immer dann, wenn Vlatko Kucan die Szene mit traurigen Bassklarinettentönen untermale.
"Beiers dreistündiger 'Ivanov' ist mit Klezmermusik und weißen Luftballons manchmal recht kitschig, aber auch und vielleicht gerade deswegen stimmungsvoll und ergreifend", schreibt Katrin Ullmann in der taz (25.1.2020). "Grandiose Schauspieler beleben diese Inszenierung. Sie zeichnen mal feinsinnig, Eva Mattes und Michael Wittenborn etwa als Sašas Eltern, und auch mal karikiert (Lina Beckmann kann wohl kaum anders) jede einzelne (Neben-)Figur. Diese egozentrische Gesellschaft rückt einem nah durch dieses phänomenale Ensemble, durch Spieler mit großer Lust und Präzision."
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Also mich hat dieser "Ivanov" gelangweilt. Das war weder eine "Čechov-Party", noch war die Inszenierung "berührend". Beier hat auf ihre üblichen Regiemittel gesetzt: Zusätzliches Staraufgebot mit TV-Präsenz als Verstärkung des eigenen Starensembles, das in kleineren Rollen glänzen darf, Musik (am besten einen der mehrere Musiker auf der Bühne), durchchoreografierte Tanzeinlagen, etwas eingestreute oberflächliche Gesellschaftskritik am schönen Schein inklusive komödiantischer Einlagen und viele bunte und auch mal laute Effekte. Kurz und gut: Anspruchsvoll verpackte Unterhaltung für das zahlungskräftige Hamburger Premierenpublikum. Motto: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass.
Hermann Hofer (LN, 21.1.) und Ruth Bender (23.1.), die des Posters #3,
Thomas Rothschild, auf Kultura Extra (19.1.).
Ein Zug ist all diesen Kritiken gemeinsam: Sie loben, teilweise frenetisch, die Inszenierung Karin Beiers.
Währenddessen die Nachtkritik-Kommentare hier bislang, abgesehen von
Herrn Rothschild freilich, im Fahrwasser des einzigen Verrisses in den Medien, die ich bislang dazu wahrnahm, der Kritik Wolfgang Höbels, segeln.
Was den positiven Kritiken wie der einen negativen samt hiesigen Kommentaren wiederum gemein ist, ist, daß sie meineserachtens weder im Positiven noch im Negativen wirklich den "Spitzen" und der Flächenwirkung des Premierenabends sonderlich gerecht werden, wo sie überhaupt darauf eingehen.
Daß sich eine beträchtliche Personengruppe um Ivanov herum gruppiert, spricht zunächst weder für ihn noch gegen ihn; nun, gewiß ein Gemeinplatz ist das, warum sollte es mit vielen Kritiken, die sich um eine Inszenierung scharen, liebe Himmlische Marotten, sich sonderlich anders verhalten; bei #4 könnte man ja fast auf Karin Beier in der Ivanovrolle verfallen. Wollen wir keine Werbetexte, sondern eben Kritiken,
zu einzelnen Inszenierungsereignissen lesen oder gar liefern, tun wir, denke ich, gut daran, den jeweiligen Einzelbefunden, die unsereserachtens an einem Lob oder auch Tadel uns nicht aufgehen, nachzuspüren und sie dann zu befragen.
Solch einen kritischen Befragungsgestus finde ich beispielsweise sogar im Zuge der Inszenierung , als es in einer Szene mit Lebedev, Dr. Lvov und Graf Sabelskij (Wittenborn, Weiss, Stötzner) um die attestierte Tuberkolose Anna Petrownas geht. Sabelskij leugnet den Befund schlichtweg und rundum, doch, trotz oder gar wegen seines trunkenen Zustandes ?, Lebedev hakt nach, insistiert "Warum soll der Doktor sich täuschen ?" Es kommt heraus, daß Sabelskij sich gegen den Gedanken wehrt, ja, verwahrt, daß ein Mensch einfach so verschwinden könne. Diese, nun immerhin erhellte, Trotzhaltung liegt aber zudem auch einem äußeren Verhalten zugrunde, welches dann eben sich im Verein mit der Handlungsweise Ivanovs gegen den Doktor und gegen die Erholung auf der Krim richtet, will sagen, daß jener menschlich- allzumenschliche Trotz des Grafen gerade eben jenes Verschwinden eines Menschen mindestens begünstigt. In einer der Kritiken las ich dann auch das Attribut "menschlich" bezüglich des Grafen Ernst Stötzners, und ich würde mich nicht wundern, wenn dieses wesentlich auf besagte Szene zurückgeht. Doch, auch Ivanov wird dann "verschwinden", wie unbemerkt und vor aller Augen: Wo ist der Graf in diesem Moment ?? Es gibt in dieser Inszenierung ja immer wieder gleichsam Inseln, wo es zu -auch berührenderen- Begegnungen kommt, sind diese auch spärlich, was für mich immerhin hinreicht, die Begriffe "Monster" und "Karikaturen" zumindestens nicht unhinterfragt stehenzulassen.
Eine weitere der Feiern geht über den Selbstmord Ivanovs hinweg,
so scheint es am Ende, ganz ähnlich wie das kulinarische Gespräch gegen Ende der Gotscheff-Inszenierung (2004/2005, eine Inszenierung mit geteiltem ersten Platz in der TheaterHeute-Kritikerumfrage, 6 Stmmen und einer Theatertreffenladung) den "an die Wand gesprayten Selbstmord" Ivanovs gleichsam ignoriert. Tatsächlich bin ich recht verblüfft darüber, von dieser Inszenierung, der die Beier-Inszenierung, denke ich, manche Referenz abstattet, so garnichts zu lesen, wohl aber, bei Herrn Rothschild eine Bemerkung bezüglich der anderen Erfolgsinszenierung des "Iwanow" durch Peter Zadek (1989/1990, erste Inszienierung mit 7 Stimmen im TH-Jahrbuch 1990).
Weiteres zu einem späteren Zeitpunkt ...
(Höbel) Ivanov, kein Jota zu hören, dabei ist das doch beinahe, wie ich es sehe, die wesentlichste Neuerung bzw. Anregung, welche die Inszenierung liefert, oder ? Frau Bender spricht in den Kieler Nachrichten von einer "Vertiefung" des Tschechowstückes; meint sie damit etwa die Konsequenzen , welche sich interpretatorisch aus der ziemlichen Unzugänglichkeit der JUGENDGRUPPE ergeben könnten ?? Es sieht (leider) nicht so aus; Ruth Benders "Kritik" bleibt nämlich leider schuldig, worin die etwaige "Vertiefung" oder das "Neugesehen" (Kafka) durch die Inszenierung bestehen soll - und zwar weder auf der stückinhaltlichen Ebene noch von der Inszenierungskomparatistik her ("Vertiefung" brauch ein Relat !). Tatsächlich geriet die JUGENDGRUPPE auch immer mehr ins dramaturgische Hintertreffen, so daß diese im zweiten Teil des Abends fast nur noch irgendwo wie Staffage (!) herumzuliegen schien bis dann die Feierlichkeiten zur Saschahochzeit anhoben (und dann doch einige interessante Kommentare der männlichen "Jugendlichen" betreffs des Ivanovschen "Geschicks" (den Preis hoch zu treiben ?!); Katrin Ullmann erinnerte ja so viel an die "Virginia Woolf"-Inszenierung (ihre Nachtkritik dazu vom 18.1.2019) fast genau vor einem Jahr, an dieser Stelle auch mich, denn Honey und ihr Mann gerieten dort ganz ähnlich empfindlich beinahe zur bloßen Kulisse, nur fehlt heuer etwas von der Funktion, welche ich seinerzeit in meinen Kommentaren darin noch annehmen beziehungsweise gedanklich durchspielen möchte. Es stimmt für mich einfach nicht, daß diese Inszenierung nicht nach hinten erheblich energetisch abgesunken sein soll und damit lang, mithin auch langweilig wurde; und so gab es im zweiten Oberrang bereits in der Pause mehrere Personen, die den Premierenabend verließen, was sich im Laufe des zweiten Teiles des Abends noch verschärfte und auch am Applausverhalten ablesbar war. Mir scheint es, daß der zweite Oberrang das Treiben dann doch recht nüchtern bzw. ernüchtert verfolgte und beispielsweise kaum einen Anlass dazu gefunden haben dürfte, Frau Bazingers Rede von der "Nichtbühne" zu folgen, ganz im Gegenteil: Wir im zweiten Oberrang hatten vor dem Start der Premiere die Gelegenheit, gegen ein Pfand ein hauseigenes Opernglas zu lösen,
ein lustiger Vorgang, der etwas von einer eigenen "Installation" im Rangfoyer für mich hatte (und mich schon so ein bißchen für den Abend voreinnahm sogar...), gerade ob der Tiefe, nicht der neuen etwa im Benderschen Sinne stückbezogen, sondern der Bühnentiefe. Für uns im zweiten Oberrang, von "billigen Plätzen" verbietet der Anstand zu handeln, gab es glasklar eine Bühne, sehr geehrte Frau Bazinger.
Warum nicht Zeit nehmen sich, nicht vergleichen ferner (#1) ???
Der Satz in #1 über den beleidigten Zuschauer wäre zum Beispiel eine der Gelegenheiten, noch einmal über diese Inszenierung nachzudenken. Gehe ich, was so naheliegend ist, von mir selbst aus, so fühle ich mich nicht beleidigt, wirklich nicht, allerdings eben auch nicht so "gefordert", wie es bei einer "Ivanov"-Inszenierung sehr wohl möglich ist (und wieder und wieder ja auch zu "Erfolgsinszenierungen" geführt
hat bzw. wohl haben mag, ich nannte zwei, im Thread zur Stuttgarter Aktualisierung, die auch hier angesprochen wurde verschiedentlich, finden sich weitere, wobei es schon lustig ist, daß ich nicht nur einmal in Kritiken las, daß Stück werde selten gespielt, bei Franz Wille im TheaterHeute-Jahrbuch 2005 Samuel Finzis Leistung in Gegenüberstellung zu "Legionen von Ivanovdarstellern" gewürdigt finde). Ich würde, anders als "Himmlische Marotten" in #1, an dieser Stelle nicht von einer so aufdringlichen, direkten, will sagen: übergriffigen Didaktik handeln, denke aber schon ein wenig zu verstehen, wie die Inszenierungsweise eine "Didaktik durch die Hintertür" letztlich nicht vermeiden konnte, so sie es wollte. Das scheint mir schlicht damit zusammenzuhängen, daß die im Programmheft anvisierten "Zieltexte" nicht der selben Auflösungsdynamik ausgesetzt
werden wie in etwa jene "Vorurteile", bei Tschechow die "Ventile" und "Schrauben" betreffend, welche sich im Verlaufe der Stückrezeption so ergeben, zB. wenn wir die Möglichkeit des den Preis treibenden Tatuffes zeitweise wieder nähergelegt finden (plötzlich, denn von Entwicklung im psychologischen Spielsinne sehe ich eher weniger, und gelegentlich hat das Spiel des Striesowschen Ivanov etwas Hypertheatrales, fast unfreiwillig Komisches in seiner Athletik, die so garnicht auf die allerlei "Krankheitsbilder" passen mag, von einem Extrem zum anderen in Sekundenschnelle gehendes, und wenn er sich in der Sarah-Szene dann zu Boden wirft, hat das den Charme etwa einer Schwalbe im 16er ), und mithin immer wieder irritiert bzw. destruiert werden, so daß wir einer -kaum zwangsläufig zu nennenden- Auflösung des Ivanovstoffes beiwohnen können bei dem gleichzeitigen Eindruck, daß jene Grundvorstellungen aus dem Programmheft im Hintergrund wie eine "erkenntnis- und/oder motivationsleitende" Folie fungieren (sollen), aber meineserachtens nicht wirklich wirken (und es wohlmöglich der Anlage nach auch nicht können). Über die "Krankheitsbilder", wie ich das gerade nannte, müßte man dann beinahe fortfahren, denn es ist schon recht kurios, was da alles so nebeneinander zu stehen kommt, beispielsweise "Depression" und "Die Psychopathologie eines Verlierers"; man kann das ja als Symptom der Anregung durch die Inszenierung auffassen, für mich aber ist das ein Signum einer gewissen Beliebigkeit, und ich möchte weder als ein Verlierer nun auch noch meine Medikamente gegen eine Depression schlucken (müssen) noch als Depressiver dem Vorurteil ausgesetzt sein, bei meiner Krankheit handele es sich um eine Psychopathologie eines Verlierers. Es ist erstaunlich, wie wenig das bislang irgendjemandem hier im Forum aufgestoßen ist, muß ich für meine Begriffe gestehen. Um den Topos des "unnützen Menschen" drückt sich diese Inszenierung weitestgehend herum, sowohl im Verstande der Basarows, Besuchows, Raskolnikows, Petschorins oder Oblomows als auch in einem heutig-hiesigen Sinn, denn im Alltag wird alles Mögliche passieren, nur nicht, daß jemand, der in einem aufgeregten Ton von überflüssigen oder unnützen Menschen handelt, Gehör oder gar Verständnis finden könnte; vielmehr läuft ein solcher Mensch höchstwahrscheinlich an eine feste Mauer aus zur Borniertheit verfestigter Moral im Sinne einer Spielart von "Richte nicht, so wirst Du selbst nicht gerichtet": "Überflüssiger Mensch" , das ist ein "No go" (...oder ein Trojanowbuchtitel etwa) wie das "N-Wort"
(Gotscheff thematisierte das dementsprechend)..
Den stärkeren Eindruck hinterlassen deshalb deshalb die Frauen: Josefine Israel, die von Aenne Schwarz die Rolle der jungen Braut Sascha übernommen hat, und trotzig aufstampfend darauf beharrt, dass man anders leben müsse; Angelika Richter, die hustend und zombiehaft als seine an Tuberkulose erkrankte Frau Anna Petrowna über die Szenerie geistert; Eva Mattes, die als seine künftige Schwiegermutter Sinaida Sawischna so patent wirkt, wenn sie tonnenweise Stachelbeerkonfitüre heranschleppt, sich aber als berechnende alte Hexe entpuppt; oder natürlich Lina Beckmann, die große Komödiantin im Ensemble, die aus ihrer kleinen Nebenrolle eine typische Lina Beckmann-Figur macht.
Beckmann, aber auch Bastian Reiber und Michael Wittenborn garantieren dafür, dass der Abend nicht in Tschechow-Melanchole versinkt. Mit ihren kleinen Comedy-Einlagen lassen sie immer wieder die Komödie durchschimmern, als die „Ivanov“ von Tschechow ursprünglich angelegt war, bevor er das Stück überarbeitete und schließlich unter der Gattungsbezeichnung Tragödie veröffentlichte.
Das erlesene Ensemble aus Publikumslieblingen des Hauses und eingeladenen Stars kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser „Ivanov“ von Karin Beier dieselbe Schwierigkeit wie so viele Tschechow-Abende hat: Wie kann man von der Lethargie, Oberflächlichkeit und inneren Leere erzählen, ohne dass die Inszenierung in tiefe Spannungslöcher fällt und sich die knapp drei Stunden oft ziehen wie Kaugummi?
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/11/16/ivanov-schauspielhaus-hamburg-kritik/
Ich verneige mich vor Karin Beier und ihrem Ensemble!
Nun könnte gerade dieses Nicht-Erreichen der Menschen die Inszenierungsidee gewesen sein. Auch das gezeigte "Übertanzen" aller Enttäuschungen, Beziehungs- und Heiratsabbrüche und der Selbsttötung von Ivanov könnte die individuelle Verlorenheit in gesellschaftlicher Oberflächlichkeit und vorgespielter Spaß-Fassade zeigen wollen. Doch warum zieht sich eine solch platte Regieidee (ich meine es so, wie ich es schreibe) über drei Stunden? Vielleicht, weil es so gefällig wird. Auch wenn ich die zum Publikum gesprochenen Passagen als "innere Monologe" verstehe, so fehlt die Tragik, in den gezeigten sozialen Beziehungen jenseits von Plattitüden spürbar zu werden. Das aus meiner Sicht WESENTLICHE von Cechovs liebevollem Blick auf die – bei aller Tragik - unterschiedlichen Bewältigungen menschlichen Daseins in ihrem Gefangensein fehlt. "Bekanntes soll Erkanntes werden", schreibt Brecht und wird hierin von Pina Bauch zitiert. Eine solche Untersuchung verpasst diese Inszenierung, obwohl Cechov und die brilliante Übersetzung des Cechov-Kenners Peter Urban hierfür präzises Textmaterial liefern.
Wenn Karin Baier ihre Schauspieler*innen wie Jürgen Gosch in seiner berührenden Cechov-Inszenierung von „Die Möve“ von 2009 auf die leere Bühne treten lässt und diese auch hinten sitzen lässt, so hat sie bei mir Erwartungen geweckt, dass auch bei dieser Inszenierung die Abgründe unserer letztendlichen menschlichen Isolation sozial gezeigt, genauer im Theaterraum erforscht werden. Jürgen Gosch hat noch über die Premiere hinaus nicht aufgehört, genau diese Abgründe und Sehnsüchte zu erforschen. Etwas davon wünsche ich Frau Beier für ihre nächsten Inszenierungen.