Zentralfriedhof - Burgtheater Wien
Hallo Wien! – Halloween!
20. April 2024. Es wird Nacht und es wird schaurig. Bühne frei für den Tod und seine Mannen. Aber weil sie von Slapstick-Grandmaster Herbert Fritsch befehligt werden, kann es so schlimm nicht werden. Oder doch?
Von Gabi Hift
20. April 2024. "Es lebe der Zentralfriedhof und alle seine Toten", sang Wolfgang Ambros 1974 zum hundertsten Geburtstag des weltberühmten Wiener Friedhofs. Die Feier des Hundertfünfzigsten hat der unfreiwillig scheidende Intendant Martin Kušej nun als letzte Amtshandlung Herbert Fritsch anvertraut, dem Star des Turbo-Slapsticks und der überdrehten Komik – ungewöhnliche Instrumente zum Hinuntertauchen in die morbiden Abgründe des Wiener Gemüts.
Totengräber nehmen die Arbeit auf
Am Anfang leuchtet der Plafond intensiv blau, dann wird's stockfinster und hinter verschiedenen Öffnungen blitzt es schaurig rot. Wer das schon erlebt hat, erkennt es sofort wieder: so ist's, wenn man mit der Geisterbahn fährt. Schaurig und naiv. Ein liebenswürdiger alter Herr im schwarzen Anzug und mit Totengräberkäppi tritt auf, Hans Dieter Knebel, Kammerschauspieler. Er grüßt das Publikum mit verbindlichem Nicken, stützt sich gegen die Wand, schiebt ächzend mit den Füßen den Boden nach hinten – und die riesige Drehbühne setzt sich ganz langsam in Bewegung. Er hats geschafft, hat das Werkl in Gang gebracht! Dafür gibt es Szenenapplaus – grad so, wie er sich's sichtlich erhofft hat.
Nach und nach nehmen noch zehn weitere Totengräber ihre Arbeit auf. Dabei geraten sie in allerlei Schwierigkeiten, für Fritsch'sche Verhältnisse verläuft ihr Alltag aber erstaunlich leise und unspektakulär. Ein Kollege erscheint mit einem roten Jackett, die anderen wollen den Faux pas korrigieren, aber kaum zieht ihm einer die Jacke aus, steckt er selber drin, es ist wie verhext, die Jacke wandert von einem zum anderen, Arme werden aus Ärmel gezaubert wie Kaninchen aus Hüten.
Immer wieder verheddern sie sich, mit ihren Hosenträgern, mit ihren Schaufeln, mit den Speichen ihrer Dienstfahrräder. Die Gegenstände verwandeln sich unter der Hand in etwas anderes, Schaufeln werden ihnen zu silbernen Rittervisieren, die Pedale der Fahrräder zur Kurbel eines Leierkastens, die Räder zu Hüftpolstern einer Krinoline. Jede Figur hat ihre speziellen Marotten. Mein Liebling war (wieder einmal) Elisa Plüss, die ihre ehrgeizigen kleinen Ziele mit vorgestülpter Unterlippe verfolgt und auch dann nicht aufgibt, als ihr ein bestimmter Kollege zum x-ten Mal den Rang abläuft. Alle geben bedächtig ihr Bestes in diesem Mikrokosmos, so dass man sich fast fragt: ist das noch Fritsch oder ist das schon Marthaler?
Bleiche Hände aus Gräbern
Dann bricht die Nacht herein und es wird schaurig. Als erster wagt sich Yahya Micah James auf's finstere Gräberfeld, ängstlich nach links und rechts schauend sieht er nicht, dass direkt über ihm ein viele Meter hohes Skelett aus Pappe herunterschwebt – wie im Kasperltheater. Als er endlich nach oben schaut, fällt er vor Schreck auf den Rücken. Schon wachsen rundherum bleiche Hände aus den Gräbern. Beim Versuch sie zurückzustopfen fällt er (natürlich) selbst in ein offenes Grab, und ebenso ergeht es den Kolleginnen, die ihm zu Hilfe kommen. Zwar spucken die Gräber sie wieder aus, aber nun erschrecken sie vor ihren riesigen Schatten an der Wand. Aus ihren zitternden "Ahs" und "Ohs" schält sich der Donauwalzer. Dann gerät einem das "Ha" zum "Hallo", dem ersten gesprochenen Wort. Nun probieren es mehrere: "Hallo!", dann einer "Hallo, Wien!" und die anderen wiederholen es so lange, bis es alle verstanden haben: "Hallo Wien" = "Halloween".
Asche zu Kirschblüten
Es beginnt ein rauschendes Fest, die elf kleinen Totengräber sind nun selbst zu Gespenstern geworden. Die Geisterbahnängste lösen sich in einem blinden bunten Tänzchen auf und aus dem Bühnenhimmel schneit es buntglitzernde Lamettaflocken. Ein poetisches Bild, ohne Scheu vor Kitsch. Man denkt gleichzeitig an Asche und an die Kirschblüten, die es dieser Tage überall regnet – wie in einem Film von Kurosawa. Mit dem sentimentalen wie brutalen Wiener Gemüt hat das hier nichts zu tun.
Die Fritsch'schen Kreaturen sind große Kinder, und sie sind vollkommen unschuldig. Das ist verblüffend, man ist ja gewöhnt, entweder die Entlarvung scheußlicher Täter zu sehen oder aber von der Bühne herunter selbst angeklagt zu werden. Darf so etwas Simples, Tröstliches überhaupt sein? In der heutigen Zeit? (Denn wahrlich wir leben in finsteren Zeiten.)
Die verlorene Ehre der Wiener Seele?
Beim Applaus gibt es für das Regieteam einige laute Buhs – womöglich sind das Wiener Patrioten, die die Ehre der schwarzen Wiener Seele durch zu große Harmlosigkeit beleidigt sehen? Jedenfalls haben sie nicht erkannt, dass der, den sie ausbuhen wollten, noch gar nicht erschienen ist. Hinten am Würstelstand, unter der Leuchtschrift "eh schon wuascht", lehnt eine einsame Witwe in schwarzer Rüschenmantille. Sie wendet sich um und trippelt nach vorn zur Rampe, schüchtern und doch ein wenig eitel, und natürlich ist er's, Herbert Fritsch. Er schmettert einen einzigen, frohgemuten Ton ins Parkett, den nörgelnden, missmutigen Wienerinnen und Wienern zum Trotz und Trost.
Zentralfriedhof
von Herbert Fritsch
Regie und Bühne: Herbert Fritsch, Kostüme: Bettina Helmi / Elena Kreuzberger, Maria-Lena Poindl, Musikalische Leitung: Hubert Wild, Trampolinchoreographie: Yahya Micah James, Licht: Friedrich Rom, Dramaturgie: Sabrina Zwach.
Mit: Gunther Eckes, Dorothee Hartinger, Sabine Haupt, Yahya Micah James, Arthur Klemt, Hans Dieter Knebel, Elisa Plüss, Dunja Sowinetz, Tilman Tuppy, Hubert Wild, Paul Wolff-Plottegg.
Premiere am 19. April 2024
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.burgtheater.at
P.S. der Nachtkritikerin: Wer's "echter" Wienerisch mag, dem sei auf der anderen Seite des Rings im Volkstheater die wunderbare Produktion "Heit bin I ned munta wuan" empfohlen – ebenfalls eine Hommage an den Zentralfriedhof. Man kann sich aber auch sehr gut beides anschauen und den Heldenplatz gleich noch dazu. Das ergibt dann für Wiener*innen ein quasi kubistisches Spiegelbild aus drei verschiedenen Winkeln.
Kritikenrunschau
Herbert Fritsch habe sich bemüht, aber die echte Stimmung mag ihm nicht recht gelingen, so Bernd Noack in der NZZ (26.4.2024). "Er hat ein komisches Spektakel am Abgrund inszeniert, seine Schauspieler indes eher ins Prater-Gruselkabinett geschickt als aufs Gräberfeld." Aus dem Friedhof von Wien werde bei ihm ein Halloween mit Licht- und Soundeffekten, ein Totentanz mit Masken und Flitterglanz.
"Bei Fritsch treten die Bestattungshelfer als komödiantische Combo auf, als elfköpfiges Ensemble, das sich dem Tod so widmet, als wäre er nur eine Seite der Medaille", so Simon Strauß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (23.4.2024). "Und auf der anderen stünden: ausgelassenes Leben, verrückte Zufälle und überbordende Spiellust." Allerdings verliere die analoge Effekthascherei, die Fritschs Art des Theaters bestimme, auf der geisterbahnartig ausgeleuchteten großen Bühne der Burg über die ganze Strecke doch ein wenig an Wirkung. "Spätestens, wenn einer zum achten Mal auf ein Trampolin springt oder eine den Mund zur immer gleichen Fratze verzieht, überlegt man, ob Kürze hier nicht mehr Würze gebracht hätte." Und doch: "Es ist ein Fest der eigenen Art, dem man hier beiwohnt."
"In einer der am besten performten Sequenzen des Abends versucht ein Leichenbestatter (Yahya Micah James) die aus den frischen Gräbern unerwartet wieder herausdrängenden Gliedmaßen retourzustopfen", so Margarete Affenzeller im Standard (22.4.2024). "Ist ein Schädel einmal sachte und mit Distanz höflich zurückgedrückt, so schnellt verlässlich derjenige vom Nachbargrab empor." Allerdings: "Dem Abend mangelt es an Fleisch, sodass das Thema trotz einiger schöner Manöver oberflächlich bleibt und wenig Witz zeigt."
"Elf Darstellende betrieben simplen Mummenschanz", so Norbert Meyer in der Presse (21.4.2024). "Das sah anfangs sogar recht nett aus, erinnerte an den Grusel von Stummfilmen und Geisterbahnen." Der Effekt diverser Blödelei erschöpfe sich allerdings bald. "Man könnte auch sagen, Fritsch habe das Ensemble bei der letzten Premiere unter Direktor Kušej mutwillig in die Grube fahren lassen."
"Der deutsche Regisseur Herbert Fritsch macht sein Herbert-Fritsch-Ding, das bekanntermaßen manchen sehr gut gefällt, manch andere aber so kalt lässt, wie die scheenen Leichen sind, die der Wiener angeblich so gerne schaut", schreibt Georg Leyrer im Kurier (21.4.2024). "Wer gerne über verhedderte Körperzustände lacht, hat hier jede Gelegenheit, Kinder würden sich, ginge es nicht so morbid zu, herrlich amüsieren (das ist ein Lob!). Wer jedoch für Grübeltheater in die Burg geht, wird mit der gut gelaunten Friedhofschoreografie nicht happy sein (und nicht nur das Wortspiel 'Hallo Wien'/'Halloween' abgedroschen finden)."
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