Schrei der Entrüstung

18. Februar 2024. Mit Sätzen wie "Es gibt jetzt mehr Nazis in Wien als 38" war "Heldenplatz" bei der Uraufführung 1988 ein Skandal sondergleichen. Nach Claus Peymann hat sich jetzt Frank Castorf Thomas Bernhards Suada vorgenommen und führt Schmerzen und Sehnsüchte zusammen in eine dunkle Welt – über weite Strecken in absoluter Hochform.

Von Gabi Hift

Thomas Bernhards "Heldenplatz" von Frank Castorf am Burgtheater Wien inszeniert © Matthias Horn

18. Februar 2024. Ich weigere mich. Ich lasse mich nicht von diesem ewig-kindischen Provokateur Frank Castorf in eine Rolle drängen. Er will uns dazu bringen, Buh zu schreien und ihn zu beschimpfen, so wie seinerzeit Bernhard und Peymann beschimpft worden sind – aber ohne mich. Ich entledige mich zuerst schnell des Berichts über das nervige Ende, damit ich dann zu meiner Begeisterung kommen kann.

Die Uraufführung von 1988 wurde erst durch den Heldenplatzskandal zum Sensationserfolg. Durch die Morddrohungen, durch die vor den Türen des Burgtheaters ausgekippten Mistfuhren, die Buh brüllenden Menschen. Die Verleugnung der Mitschuld Österreichs an den Verbrechen des NS-Staats war damals noch Staatsdoktrin, die Österreicher sahen sich als erstes Opfer Hitlerdeutschlands. Von den Konzentrationslagern hatte angeblich niemand etwas gewusst. Zwar hatten Hunderttausende Hitler zugejubelt, als er am 13. März 1938 am Wiener Heldenplatz den "Anschluss" Österreichs ans Deutsche Reich verkündete, aber nach '45 wollte niemand an diesem Tag dabei gewesen sein, kein einziger Mensch. Daher die ungeheure Empörung über "Heldenplatz".

"Mehr Nazis als 1938"

In dem Stück stürzt sich der jüdische Professor Schuster, der '38 geflohen und '68 nach Wien zurückgekehrt ist, aus dem Fenster seiner Wohnung direkt am Heldenplatz, weil sich nichts verändert hat und er damit nicht mehr leben kann. Seine Frau hört Tag und Nacht die "Heil Hitler"-Schreie und wird davon verrückt. Der überlebende Bruder des Professors prangert den ungebrochenen Antisemitismus an ("Judenhass ist die reinste, die unverfälschteste Natur der Österreicher") und behauptet: "Es gibt jetzt mehr Nazis in Wien als 38". Ein Schrei der Entrüstung kam damals unisono aus allen Schichten, allen Medien. Politiker jeglicher Couleur fanden, "das müsse man sich nicht gefallen lassen", sogar der Jude Bruno Kreisky.

Es war klar, dass heute mit diesen Aussagen nicht mehr so leicht ein Skandal zu entfachen sein würde, trotz ihrer –gerade jetzt wieder – entsetzlichen Aktualität. Die schrecklichen Anschuldigungen wurden (genau wie davor schon Helmut Qualtingers "Herr Karl") nach anfänglicher Empörung von der österreichischen Volksseele assimiliert und sind jetzt heitere Folklore. Wie würde Frank Castorf, selbst als Provokateur berühmt, damit umgehen? Den Text auf die aktuelle politische Lage zu beziehen, läge auf der Hand, wäre aber politisch korrekt, was Castorf verachtet. In den Medien hoffte man trotzdem auf einen neuen Skandal, und Castorf erzählte in Interviews, er fühle sich bei Buh-Konzerten wunderbar, wie Mick Jagger. Und er versucht er ganz offensichtlich, sich diesen Genuss zu verschaffen.

Wildes, erratisches Universum

Gleich zu Beginn ruft Marcel Heupermann mehrmals laut "Buh" in den Zuschauerraum, und am Ende soll das Publikum wohl bitteschön abliefern, worauf es der Anfang eingestimmt hat. Zu diesem Zweck verläppert die Inszenierung in den letzten eineinhalb Stunden provokant in nicht enden wollenden, selbstreferentiellen Blödelnummern. Für ein paar läppische Buhs reicht das. Mehr ist nicht drin, dazu waren die ersten drei Stunden zu großartig. Ein wildes, erratisches Universum ersteht da auf der Bühne, eine Kathedrale der Sehnsüchte, Ängste und Mythen, in der das bittere Lachen über die Bernhard-Texte unheimlich widerhallt.

Heldenplatz c Matthias Horn 2743Ein Zwischenreich, voller Sehnsüchte und aus tiefster Dunkelheit menschlicher Wesen: Frank Castorfs "Heldenplatz" am Burgtheater Wien © Matthias Horn

Castorf geht weg von dem, was alle Rechtschaffenen heute wissen, hin zum Rätselhaften, das sich dahinter auftut. Bernhard hat in diesem Stück seinen ganzen Hass auf die Österreicher den Juden in den Mund gelegt. Damit braucht er ihn nicht mehr zu begründen, die Juden haben allen Grund zu hassen, ihre permanente Angst ist mehr als verständlich; dass manche Verfolgte der Shoa es jahrzehntelang schaffen und dann irgendwann doch nicht mehr, ist beglaubigt, durch die Selbstmorde von Jean Amery, von Paul Celan, von Primo Levi 1987, an den Thomas Bernhard vielleicht bei seinem Professor Schuster gedacht hat.

Traumbilder vorm New Yorker U-Bahn-Fenster

Aber der Hass, der aus dem Mund des Professors kommt, klingt so wie der aller Bernhard’scher Protagonisten. Jüdinnen und Juden, die über ihre Erlebnisse geschrieben und gesprochen haben, klingen anders. Bei ihnen tut sich meist ein Abgrund von Fassungslosigkeit auf, von tiefer Trauer – und voll Sehnsucht nach einer Welt, die sie verloren haben. Genau nach dieser Sehnsucht fragt diese Inszenierung. Warum ist die Familie Schuster nach Wien zurückgekommen? In die Stadt der Mörder? Was haben sie zu finden gehofft?

Wir befinden uns in einem merkwürdigen Zwischenreich zwischen Orten und Zeiten. Auf der Bühne dreht sich eine kleine Welt, wie sie für Aleksandar Denić typisch ist. Im Hintergrund das berüchtigte Foto von '38: eine riesige Menschenmasse mit zum Hitlergruß erhobenen Armen. Im Inneren eines kleinen Kubus steckt das Wohnzimmer der Familie Schuster, aber gleich daneben führt eine Stiege hinunter zur "Borough Hall Station" in Brooklyn. Plakate sehen aus wie in den 30er Jahren. Im Zentrum der Drehbühne ragt der meterhohe Pappmachée-Unterkörper einer offenbar kopfüber abgestürzten Marilyn Monroe aus dem Boden. Im Untergrund, im Video übertragen, ein New Yorker U-Bahnabteil, vor dessen Fenstern Landschaften vorbeifahren oder Traumbilder.

 Heldenplatz1 1200 Matthias Horn uJazz liegt in der Luft © Matthias Horn

Die sechs Schauspieler*innen übernehmen abwechselnd die verschiedenen Figuren. Es geht sehr komödiantisch und stücktreu los, mit der Haushälterin, Frau Zittel, die demonstriert, wie der tyrannische Professor seine Hemden gebügelt haben wollte, mit der Gattin des Toten, die bügelt, den beiden Töchtern, dem Bruder des Toten, Onkel Robert. Alle sind sie in Schwarz, für die Beerdigung angezogen. An der Hinterwand des Hauses lehnen schwarz gekleidete Puppen, an denen sie vorbeimüssen, eine Hand zum Hitlergruß erhoben. Dann stürzen sie ab, liegen in Haufen, wie Leichenhaufen, aus denen immer noch die ausgestreckten Arme in die Luft ragen.

Dann auf einmal ein ganz anderer, expressionistischer Ton, Jazz liegt in der Luft. Franz Pätzold spricht über das dunkle Land im Herzen der Nacht, über Einsamkeit, darüber, wie sein Herz eins wurde mit allen Herzen, die diese Musik vernahmen, über wilde Freude, Stimmen, die wahrsagen von Liebe und Tod, ein rätselhafter, atemberaubender Monolog. Szenenapplaus.

Aus der Dunkelheit des Wesens

Es sind Texte des amerikanischen Autors Thomas Wolfe. Sie nehmen genauso viel Raum ein wie die von Thomas Bernhard, und die Assoziation, der Castorf hier gefolgt ist, erweist sich als genial. Wolfe schrieb in den dreißiger Jahren Kurzgeschichten und Reportagen. Sein Vater stammte aus Deutschland, er selbst war aber nie dort gewesen. Aber als er Deutschland bereist, spürt er eine tiefe Verbundenheit, und er kann die Sprache, die er nie gelernt hat, praktisch aus dem Stand verstehen. Alle Texte spielen in Zügen, zuerst in New Yorker Nächten, später in deutschen Zügen, sie sind eine Mischung aus scharfer Beobachtung, kleinen Skizzen und expressionistischen Traumwelten. Er ist gebannt von der Welt in Hitlerdeutschland, fasziniert und abgestoßen zugleich. Und das, meint er, steige aus seinem Blut auf, aus der Dunkelheit seines Wesens.

Oben, in der Welt der Professorenfamilie Schuster, singt Inge Maux beim Schälen der Kartoffeln für den Leichenschmaus ein jiddisches Trauerlied. Das passt oberflächlich gar nicht zur gottlosen, intellektuellen Familie Schuster - und wirkt doch nicht wie ein Klischee, sondern wie etwas, das aus der Tiefe der Zeiten aufsteigt, zur Verwunderung derer, aus deren Mund es kommt. Und korrespondiert mit den rätselhaften Sehnsüchten Thomas Wolfes.

Protest und Resignation

Mitten hinein hält Birgit Minichmayr den großen Monolog des Bruders, das Kernstück von "Heldenplatz" – seinerzeit gespielt von Wolfgang Gasser. Ohne jegliche Begründung ist sie dabei von Kopf bis Fuß als Mumie bandagiert. Nur ihre Augen und ihr Mund sind frei. Sie kann sich nur hüpfend bewegen, wie ein Brett über einen Stuhl legen und wie ein Klappmesser auf- und zuklappen. Das ist grotesk, ungeheuer komisch und hat eine fantastische Wirkung. Sie spricht, blafft, raunzt und bellt den Monolog in tiefstem Wienerisch, schimpft wüst: "Nein! Ich protestiere überhaupt nicht mehr!" Man lacht, wie man nur bei diesen Bernhard-Suaden lachen kann, und sie schreibt sich für immer in die Reihe der Bernhard-Monolog-Stars ein, ebenbürtig neben Bernhard Minetti, Traugott Buhre und Gert Voss.

Heldenplatz c Matthias Horn 3933Birgit Minichmayr hält im Mumienkostüm den großen "Heldenplatz"-Monolog © Matthias Horn

Später stimmt sie an: Es brent, briderlech, es brent! Oy, unser arm shtetl, nebbich, es brent! Es antwortet aus allen Ecken und ist herzzerreißend. Es folgen unzählige große Momente, im New Yorker Untergrund und bei dem Totenschmaus der Schusters; in Branko Samarowskis berührendem altem Mann, der mit einem Stadtplan Brooklyn bei Nacht erkunden will, erkennt man auf einmal Ahasver, den ewigen Juden.

Alles geht zusammen, antwortet aufeinander und erklärt nichts, sondern transzendiert die verschiedenen Welten in Richtung gemeinsamer Sehnsüchte und Schmerzen. Am Ende des ersten Teils steigen alle Figuren in ein U-Bahn-Abteil und Marie Luise Stockinger singt den Schlager: "Es fährt ein Zug nach Nirgendwo, den es gestern noch nicht gab", die Männer tragen jetzt riesige chassidische Pelzmützen, ein lächerliches, wahrhaftiges Klischee, "ich hab geglaubt du glaubst an mich und dass ich dich für immer hab" – und man sieht den Zug nach Auschwitz und Juden, die es noch in dieser Situation nicht fassen können, dass die Deutschen, an deren Freundschaft sie geglaubt haben, sie nicht mehr mögen. Wie tief einen das erschüttert, kann ich gar nicht beschreiben.

Den langen langen Schwachsinn am Ende kann man, muss man verzeihen, einem immer noch pubertären und nach langer Zeit wieder großartigen Castorf und einem wunderbaren Ensemble, das zusammengewachsen ist und eine eingeschworene Gang aus Wienerinnen und Deutschen bildet, über drei Generationen, wie in alten Volksbühnenzeiten.

Heldenplatz
von Thomas Bernhard
Regie: Frank Castorf, Bühnenbild: Aleksandar Denić, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Musik: William Minke, Videodesign: Andreas Deinert, Lichtdesign: Lothar Baumgarte, Dramaturgie: Sebastian Huber, Künstlerische Mitarbeit: Sebastian Klink, Live-Kamera: Andreas Deinert, Andrea Gabriel, Live-Videocutter: Georg Vogler, Eduardo Triviño Cely
Mit: Marcel Heuperman, Inge Maux, Birgit Minichmayr, Franz Pätzold, Branko Samarovski, Marie-Luise Stockinger.
Premiere am 17. Februar 2024
Dauer: 5 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.burgtheater.at

Kritikenrundschau

Was habe Castorf aus Bernhards Schwanengesang gemacht?, fragt Norbert Mayer in der Presse (18.2.2024) und antwortet: "Einen höllischen Zirkus von fünf Stunden, der für seine Anhänger ein Hochamt, fürs Ensemble ein fantastisches Fest, für viele aber wahrscheinlich eine Überforderung und für manche eine Zumutung ist." Castorf habe die bisher übliche Musikalität eines Kammerspiels entfernt und es mit Zusatzstoffen zu einer überlangen Operette gemacht. "Vielleicht wollte der Meister aus Deutschland mit seiner Show auch nur zart andeuten, dass Bernhards Werk auf der Bühne seine Halbwertszeit bereits erreicht hat." Das alles sei aber auch Schauspielertheater: "Sie machen das ausgezeichnet, mit ungeheurer Wandlungsfähigkeit."

"In bewährter Manier montiert der Regisseur Elemente in seine Inszenierung, die die Kernaussage bebildern sollen", schreibt Walter Mayr im Spiegel (18.2.2024). "In diesem Fall: dass auch in der Selbstgerechtigkeit Spätgeborener künftige Katastrophen verborgen sein können." Castorfs durchgehend grandioses Ensemble verausgabe sich dabei, von Rollentausch zu Rollentausch, bis zur Erschöpfung. Auch der des Publikums.

Frank Castorfs Idee, Thomas Bernhards Drama mit Texten von Thomas Wolfe und John F. Kennedy zu konfrontieren, sei zwar "nachvollziehbar", urteilt Margarete Affenzeller im Standard (18.2.2024). Eine "echte Verknüpfung" werde daraus jedoch nicht, die Inszenierung funktioniere "immer dann am besten, wenn Bernhard-Text an der Reihe sei. "Castorfs Botschaft" sei bei alledem "kaum je so klar" und "nie so ernst" gewesen wie hier.
"alles sehr kunstvoll gemacht, "Bleibt dieser Heldenplatz 'plus' in seiner Mechanik auch dysfunktional und oft durchhängend, so wirken am Ende das Unvermittelte, das aufgesprengte Drama und die damit frei werdende Masse deutlich nach", findet die Kritikerin.

"Castorf löst ein, was man von ihm erwartet", berichtet Cathrin Kahlweit in der Süddeutschen Zeitung (18.2.2024). Der Abend sei "ein gigantisches, anspruchsvolles, teilweise irre unterhaltsames, über Strecken ermüdendes Verwirrspiel aus Fragmenten von Bernhards Text - und, nun ja, anderem", so die Kritikerin. "Das ist alles großartig und bunt und grell, körperlich und laut, ein Berg an Text und Textilien, aus dem die sperrigen Sätze von Thomas Bernhard herausragen wie einzelne, schroffe Gipfel." Was nach mehr als fünf Stunden bleibe, seien aber auch: "Ins Publikum gesprochene, zelebrierte, deklamierte Monologe, deren Sinnhaftigkeit und Poesie sich irgendwann verlieren, weil es nicht um Inhalte, sondern um Sprachmasse, um Effekte geht."

An diesem Abend sei "alles sehr kunstvoll gemacht und technisch auf hohem Niveau umgesetzt", berichtet Martin Thomas Pesl in der Sendung Fazit auf Deutschlandfunk Kultur (17.2.2024). Nach einem "recht zackigen Beginn" und einem insgesamt für ihn "überraschend unterhaltsamen ersten Teil" werde es nach der Pause "sehr elegisch und melancholisch", was auch "etwas Ermüdendes" habe. Zwar habe der Regisseur "ein tolles Ensemble gestellt bekommen", das "dieses Pathos auch gut rüberbringen" könne. Gleichwohl habe er inhaltlich "vieles verschenkt, weil er nicht zu offensichtlich und zu naheliegend sein wollte", findet der Kritiker. "Es geht natürlich um Faschismus, thematisch sind Bezüge da, aber sie sind doch sehr lose und thematisch etwas beliebig."

Frank Castorf wolle "in seiner aufgesprengten Bernhard-Version zeigen, dass die Gefahr von Faschismus und Antisemitismus zwar zu allen Zeiten und überall lauert, dass das moralische Urteil aus der historischen Distanz heraus aber immer ein leichtes und auch wohlfeiles ist und dass die Positionierung im historischen Moment dagegen weitaus schwieriger sein kann", so Sven Ricklefs im Deutschlandfunk (18.2.2024). Wie immer bei diesem Regisseur sei vieles an der Inszenierung "überfordernd" und "manchmal auch überkanditelt", doch enthalte sie gleichzeitig – etwa in Monologpassagen von Birgit Minichmayr oder Franz Pätzold "Theatermomente, wie es sie selten gibt" und "für die allein sich dieser `Heldenplatz` schon lohnt".

Das brillante Ensemble bringe die theaterarchäologischen Fundstücke des 20. Jahrhunderts in der Konfrontation von Körper und Sprache noch einmal zum Leuchten, so Uwe Mattheiß von der taz (20.2.2024). "Castorf weigert sich, Geschichte lediglich im Rückspiegel zu betrachten. Bei Wolfe sucht er die Momente, in denen das Vermeidliche noch hätte vermieden werden können, aber nicht gesehen wurde. Castorfs Komposition fügt Wolfe und Bernhard so ineinander, dass ihre intertextuellen Brücken begehbar werden." Nüchternheit sei selten so rauschhaft wie in diesen fünf Stunden gewesen, schließt der Kritiker.

"Das alles" sei nicht wirklich Thomas Bernhard, "sondern wieder einmal original Frank Castorf", schreibt Martin Lhotzky in der FAZ (19.2.2024). "Und wieder wird nicht immer klar, was er uns da eigentlich sagen will", so der Kritiker weiter. "Für sein Panorama über die österreichische Abartigkeit, die ja leider tatsächlich in den letzten Jahren wieder fröhliche Urstände feiert – man denke nur an die Umfrageergebnisse der FPÖ –, hätte eine Stunde weniger mehr als gereicht."

Einen Abend, der "Durchhaltevermögen" verlange und sich auch zunehmend "in Blödheiten verliert", hat Andrea Heinz für die Zeit (22.2.2024) gesehen. Allerdings biete er auch "einige Glanzstücke, für die sich das Durchhalten lohnt". "Was Castorf am Text interessiert, das ist die Heimatlosigkeit der Exilierten. Diese Unbehaustheit findet ihren Ausdruck auch in formaler Vieldeutigkeit, die keinen Halt, kein Halten mehr bietet."

Die "Buhrufe" an diesem Abend signalisieren für Bernd Noack von der Neuen Zürcher Zeitung (22.2.2024): "Man will in Österreich seinen alten Bernhard wieder haben – und nicht so eine sinnlos aufgemotzte Seifenoper, in der man sich vor lauter Fremdtexten nicht mehr an Bernhards Beschimpfungen ergötzen kann." Aber auch der Rezensent seufzt über die Castorf'sche "Nummernrevue" und notiert, "man wird nicht schlau daraus. Die Zeiten und Orte drehen sich wie die Bühne – und schon ist man wieder von einem neuen Monolog gefangen, der brillant daherkommen mag, aber nur wie ein aus allen Zusammenhängen gefallener schauspielerischer Höhepunkt."

"Kein Skandal, nirgends", protokolliert Jakob Hayner in der Welt (24.2.2024). "Was Castorf auffährt, ist Verschwendung. Überfülle. Flow. Allein Minichmayr tritt mit geschätzt über ein Dutzend üppigen Kostümen von Adriana Braga Peretzki auf, vom tiefschwarzen Narrenkleid bis zum grellgelben Bananenfimmel. William Minkes Soundtrack vermischt Atmosphärisches mit verkokstem Austro-Pop ('Opernring Blues'). So kann man sich über fünf Stunden treiben lassen und erlebt großes Theater, aber auch alberne Pimmelparaden oder geschmacklose Gaskammerszenen."

Kommentare  
Heldenplatz, Wien: Kein Interesse an Gegenwart
Liebe Gabi Hift, worüber sollte sich das Publikum empören bei einem Regisseur, den Tom Wolfe und Kennedy mehr interessieren als die Gegenwart einer Bevölkerung, die im Begriff ist, einer Partei zur politischen Macht zu verhelfen, die eben erst zusammen mit dem Remigrationsexperten Sellner ihren Akademikerball gefeiert hat? Bei Castorf gibt es, anders als bei Bernhard, kein anhaltendes "Sieg Heil", das eine Witwe in den Verzweiflungstod treiben könnte. Aber offenbar versagt gegenüber einem Castorf jede kritische Haltung, der ein Geringerer nicht entgehen könnte.
Heldenplatz, Wien: Kein Interesse an Bernhard
Ganz ehrlich: Sie kennen das Stück "Heldenplatz" nicht und haben dennoch verstanden, auf welches Original es sich bezogen hat? Bei Bernhard gibt es eine Familienkonstellation ("intellektuelle Familie Schuster"), Rollenzuteilungen, konkrete Räume, Situationen und eine Musikalität; an diesem Abend wird ein Teil des Textes aufgeteilt auf das Team (nicht alle reden Bernhardtexte, wie Herr Pesl richtig anmerkt) und alles Psychologisierende ausgespart; "intellektuelle Familie Schuster"?, nee nur Text Text Text ohne Kontext; das ist nicht besonders "spannend" und aber auch nicht neu ... Hätte ich im Programmheft das Interview mit Herrn Castorf nicht gelesen, hätte ich keine Ahnung gehabt, dass es Texte von Wolfe oder Kennedy sind als obligatorische "Fremdkörper" (sonst wäre ich ja unterfordert) und viel mehr ... Strange Fruit? Gut, alles passt, auch egal ... Immerhin: Nicht nur die Presse hat das Interview zu lesen bekommen ... Bitte dann auch diese Autoren in der Ankündigung bzw. auf den Plakaten erwähnen ... apropos Plakate: in den Seitenstiegen gibt es noch Holzportale, wo früher jeweils die tagesaktuelle Abendbesetzung aufgehängt wurde. Die Kästen sind inzwischen leer. Eine weitere Tradition ist weg(gespart) worden, traurig ... so toll auch der Subway-Eingang (wenngleich fast zu breit) ist, so unauthentisch sind die Treppen: war das zu aufwendig, oder diente es (Teppich?) zur Verringerung einer Verletzungsgefahr? ... die [billige] Provokation bleibt aus: die "Gaskammer" in dem Betonding auf der Bühne, ist halt eine inszenatorische "Idee" (wozu?) ... es beginnt nicht "stücktreu", sondern mit der ausdrücklichen Erwähnung der Namen Frank und "seiner" Jeanne (soviel Eigenliebe ist immer bei Castorf) ... ganz zum Schluss kommen die Herren Schleef (mit dem obligatorischen Namenskalauer) und Trolle vor: damit jeder weiß, dass Castorfs Assoziationswelt sich weniger an Bernhard, vielmehr an Schleef orientiert? wohl deshalb auch die beiden nackten Männern in langen Mänteln (ähnlich wie bei Schleefs "Puntila" o.ä.) ... Wolfe, Kennedy, Schleef: wie wahr (#1): kein Interesse an Gegenwart oder an Bernhard ...
Heldenplatz, Wien: Heldenhaft
Die Kritik von Frau Gabi Hift zu Castorf's Heldenplatz Inszenierung ist hervorragend!
Über eine Premiere zu schreiben, die bei Castorf sehr oft lange in die Stunden geht ist sicherlich sehr anstrengend, um so mehr ist es bewundernswert, wie konzentriert sich Frau Hilft mit der Aufführung auseinandersetzt.
Danke!
R.Brünner, Berlin
Heldenplatz, Wien: Minichmayr empfehlenswert
Eine Empfehlung: die andere Birgit Minichmayr in „Andrea lässt sich scheiden“, ab heute in österreichischen Kinos, ab April in DE! Gute Erzählung (nichts forciertes); ja ein Gesellschaftsbild von HEUTE …
Heldenplatz, Wien: Letztes Abendmahl
Der Kommentar bezieht sich auf eine offensichtlich gekürzte Aufführung der Inszenierung. Die Vorstellung war bereits nach ca. 4 1/2 Stunden mit Pause zu Ende.

Die Inszenierung schließt mit einem Zoom auf Das letzte Abendmahl. Das, was kommen wird und uns bekannt sein könnte, hat sich noch nicht ereignet. Im Gegensatz dazu ist beim letzten Abendmahl in der Wohnung von Josef Schuster und seiner Frau bereits geschehen, was sich lange zuvor angekündigt hat. Wie oft in Inszenierungen von Frank Castorf hilft es, Werke gelesen zu haben, auf die er sich bezieht. Hier neben Heldenplatz von Thomas Bernhard, auch Erzählungen von Thomas Wolfe (From Death to Morning, informiert das Programmheft) und Tagebucheinträge von John F. Kennedy (Das geheime Tagebuch. Europa 1937), hilft es, Lieder und Bilder einordnen zu können.

Was entsteht ist eine Zusammenschau/Synopse, die Verschiedenes in einen Zusammenhang stellt, der sich nicht unmittelbar erschließt.

Verbindendes könnte die Sehnsucht nach Bekanntem sein, das so nicht mehr besteht, wird im Programmheft vorgeschlagen. "You can´t go home again."

Einzelne Kritikpunkte:

Was mich wirklich irritiert hat, war der Song Strange Fruits, in dem es um rassistisch motivierte Morde an BIPoC in den Südstaaten Amerikas geht. Den Holocaust in einen Kontext mit den Morden des Ku-Klux-Klan zu stellen, könnte nicht nur zum Verunmöglichen einer eindeutligen Lesart führen, sondern auch zu einer Nivellierung der Dimensionen des Holocaust und seiner Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Die Referenz auf Pussy Riot hat sich für mich nicht gut erschlossen. Ich war aber auch von der physischen Nacktheit von Marcel Heupermann und Franz Pätzold abgelenkt. Es gibt im Heldenplatz einen Bezug zu russischen Schriftstellern, die Josef Schuster liebte. Es gibt die Widerständigkeit von Pussy Riot gegen eine Verderben bringende Herrschaft und ihr Erkennen von Unrecht. Der Bezug auf Pussy Riot passt halbwegs, bringt aber mir nicht den großen Erkenntnisgewinn.

Robert Schuster als Mumie darzustellen, finde ich sehr sinnfällig. Die Figur sagt von sich, sie sei bereits gestorben. Von Robert Schuster wird gesagt, er nehme den Haß auf Juden nicht wahr. Dem widerspricht er in dem Monolog vehement. Er bekomme kaum Luft und könne sich kaum bewegen, wird die Figur charakterisiert. Die Szene mit Birgit Minichmayr war der absolute Höhepunkt in der Inszenierung. Grandios der inszenatorische Einfall, grandios, wie Birgit Minichmayr die Suada vorträgt.

Monologe. Es gibt viele Monologe in der Inszenierung. Einzelne werden schlicht stehend am Bühnenrand vorgetragen. Anstrengend, diesen zu folgen. Die Vielzahl führt leicht zu einem Allerlei, in dem der einzelne und einzigartige Monolog an Wirkung zu verlieren droht.

Ausgangspunkt des Stücks ist der Tod eines Menschen. Es gibt in Castorfs Inszenierung mehrere Bezugspunkte zu Toden und Umständen, unter denen der Tod eintrat. Der von Castorf angewandete Satz, dass Vielfalt zu Vieldeutigkeit führt und Eindeutigkeit verhindert, erschließt sich mir im Hinblick auf die Tode nicht wirklich.

Das Programmheft bietet einen Ansatz, die Inszenierung und die hinter ihr stehenden Absichten zu verstehen. Es hat mir das Verständnis für die Inszenierung erleichtert und daher empfehle ich den Erwerb.

Fazit: Sehenswert. Eine Entdeckungsreise.
Heldenplatz, Wien: Freue mich sündhaft
Ich fahre extra aus Berlin nach Wien und freue mich sündhaft.
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