Unbedingte Augen

Sie hat sich mehr als rar gemacht in den letzten Jahren. Auf der großen Theaterbühne sah man Jutta Hoffmann zuletzt vor zwölf Jahren, in einer fast schon versunkenen Theaterepoche: als Rosa Luxemburg in Einar Schleefs Inszenierung "Verratenes Volk" am Deutschen Theater Berlin. Die Schauspielkollegin Inge Keller stellt in dem hier anzuzeigenden Buch die "kleine Anfrage", warum man sie denn in keinem Theater mehr erleben könne.

juttahoffmannJutta Hoffmann antwortet 90 Seiten später so: "Schleef fehlt. Er fehlt mir als Regisseur. Er fehlt dem deutschen Theater. Es ist so, als würde eine Säule fehlen, das Dach hängt schief." Es ist natürlich nur die halbe Wahrheit, denn auch im Film ist sie kaum noch zu sehen: Jutta Hoffmann ist einfach eine, die einen enorm hohen Anspruch an ihre Kunst hat. Wird er nicht erfüllt, so steht sie nicht zur Verfügung.

Nicht zuletzt von dieser Unbeugsamkeit erzählt dieses Buch. Und von Zeiten, in denen es nicht gerade ungefährlich war, in künstlerischen Fragen unbeugsam zu sein. 1967 etwa will sie im DEFA-Film "Kleiner Mann – was nun?" die Rolle des Lämmchens durchaus nicht proletarisch anlegen: "Und wenn Ihnen das nicht passt, müssen Sie mich umbesetzen." Die Funktionäre knirschten mit den Zähnen und besetzten sie nicht um – eine bessere als sie hätten sie ohnehin nicht finden können. Denn das seiner selbst bewusste, das bewusst zeigende Spiel beherrschte und beherrscht sie wie keine zweite.

Als Nachschlag zu einer im vergangenen Jahr gezeigten Ausstellung im Filmmuseum Potsdam zeichnet der Band "Jutta Hoffmann. Schauspielerin" chronologisch die Arbeitsbiographie dieser Ausnahmekünstlerin nach: vom mit dem Silbernen Löwen ausgezeichneten DEFA-Star zur gefeierten Theaterschauspielerin bei Dieter Dorn, Peter Zadek und eben Schleef. Im Gespräch festgehaltene eigene Erinnerungen werden dabei von vielfältigem Material ergänzt, von Zeitdokumenten ebenso wie von Ehrbezeigungen ehemaliger Weggefährten. Vor allem aber ist das Buch ein Fest der Schwarzweiß-Fotografie: Von diesen Bildern mag man sich nicht losreißen, und schon gar nicht von diesen "unbedingten Augen" (ein Wort des großen DEFA-Regisseurs Egon Günther) in diesem so unfassbar wachen Mädchengesicht. (Wolfgang Behrens)

 

Peter Warnecke, Birgit Scholz (Hg.):
Jutta Hoffmann. Schauspielerin.
Das Neue Berlin, Berlin 2012, 192 S., 19,95 Euro.

 

Neue Erinnerungen

Seit mehr als 50 Jahren arbeiten sich Philologen wie Theaterwissenschaftler an George Steiners kritischem Essay "Der Tod der Tragödie" ab. Erstaunlicherweise wurde seine These jedoch noch nie auf die Theaterrealität bezogen.

jcanarisDie Paderborner Literaturwissenschaftlerin Johanna Canaris hat dies nun in ihrer Studie "Mythos Tragödie" getan. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist, dass auf dem Theater die Tragödie alles andere als tot sei. Auf den Mythos-Begriff greift sie ergänzend dazu zurück, um begründen zu können, warum die Tragödie trotz ihres vermeintlichen Todes so lebendig ist: Canaris versteht Mythos dabei – in Anlehnung an die einflussreichen Theorieentwürfe des Ägyptologen Jan Assmann – durchweg funktional, nämlich als Möglichkeit des Erinnerns.

Um die erinnerungsstiftende Wirkung der Tragödie in der Gegenwart zeigen zu können, geht sie zunächst auf die beiden im deutschsprachigen Raum wesentlichen historischen Bezugsgrößen ein. Im ersten Teil rekonstruiert sie Stationen der attischen und im zweiten Positionen zur deutschsprachigen Tragödie von Lessing bis Müller. Dabei ist sie vielfach wohltuend prägnant, wenn etwa angesichts dieser Schwerpunktsetzung im Raum stehende Fragen nach der Berücksichtigung der Seneca-Tragödien oder des barocken Trauerspiels handstreichartig erledigt werden.

Im dritten Teil zeigt Canaris anhand einiger prominenter Aufführungen der letzten Jahre (so etwa Dimiter Gotscheffs Inszenierung von Aischylos' Perser und Michael Thalheimers Version der Orestie, aber auch der Uraufführung von Elfriede Jelineks Ulrike Maria Stuart durch Nicolas Stemann), wie die Auseinandersetzung mit der Tragödie das Verständnis dessen, was sie selbst ist, dynamisiert: Durch das Theater bleibt die Tragödie nicht nur lebendig, jede Inszenierung verändert auch das kulturelle Gedächtnis, indem es neue Erinnerungen an Tode und Tote wachruft.

Der Essayist Sebastian Kleinschmidt, seit 1991 Chefredakteur der Literaturzeitschrift Sinn und Form, hat Ende der Neunziger Jahre einmal kritisch auf die Ironiekonjunktur der Gegenwart hingewiesen. Canaris Studie behauptet nicht deren Ende, aber sie zeigt, dass zumindest ein Teil der Theatermacher die mit dieser Konjunktur einhergehende Pathosallergie überwunden hat. (Kai Bremer)

 

Johanna Canaris:
Mythos Tragödie. Zur Aktualität und Geschichte einer theatralen Wirkungsweise. Transcript Verlag, Bielefeld 2011, 366 S., 34,80 Euro

 

 Alte Kämpfe

"Umschlagplätze der Kritik": Nachdem die drei Leipziger Theaterwissenschaftler Sebastian Göschel, Fee Isabelle Lingnau und Corinna Kirschstein bereits 2010 kulturkritische Schlüsseltexte von Herbert Ihering aus drei politischen Systemen veröffentlicht haben, legen sie nun mit einer Biografie des prominenten Theaterkritikers nach. ihering Herbert Ihering (1888-1977) gehörte zu den wichtigsten Theaterkritikern in der Weimarer Republik. Dabei war er mehr als ein Schöngeist mit Schreibe; er pochte auf die gesellschaftliche Funktion der dramatischen Kunst und mischte sich kulturpolitisch immer wieder ein.

Im heutigen Springe bei Hannover geboren, schrieb Ihering ab 1909 Theaterrezensionen und stieg allmählich zu einem bedeutenden Kritiker mit Basis in Berlin auf. Im Feuilleton kreuzte er mit seinem großen Gegenspieler Alfred Kerr die Feder. Zielte dieser pointierte Stilist auf die Lust und Gunst des Lesers ab, so stand für Ihrering die Verbesserung der Theaterkunst als Aufgabe der Kritik ganz oben. In Nazideutschland konnte der Linksliberale und Brecht-Förderer nur sehr bedingt journalistisch arbeiten. Er beschränkte sich auf Portraits – in denen er freilich den jüdischen Teil der Theaterkultur unter den Tisch kehrte – und wurde schließlich Dramaturg am Wiener Burgtheater. Nach dem Krieg zog er nach Berlin-West, arbeitete allerdings als Chefdramaturg am Deutschen Theater in Berlin-Ost, ab 1949 das Staatstheater der DDR.

In drei essayistischen Blöcken gehen die Autoren diesem bewegten Leben in drei politischen Systemen nach: In flüssiger Sprache tritt hier eine brüchige Biografie zutage. Ihrering wird als ein kluger Kopf sichtbar, der zwischen Sollen und Sein hin und her gerissen war. Trotz mancher Anpassungsbewegung hielt er an der Kraft der Kultur fest, an welcher auch der Theaterrezensent seinen Anteil habe: Nicht Lob oder Tadel, sondern die Begründung sei das schöpferische Element der Kritik. (Tobias Prüwer)

 

Sebastian Göschel, Corinna Kirschstein, Fee Isabelle Lingnau:
Überleben in Umbruchszeiten, Biografische Essays zu Herbert Ihering.
Horlemann Verlag, Leipzig und Berlin 2012, 344 S.,15,90 Euro

 

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