"Jürgen, tummel dich"

11. Januar 2024. Heute erscheinen die Erinnerungen des vor einem Jahr gestorbenen Theatermenschen Jürgen Flimm. Ihr Titel beruft sich auf Johann Sebastian Bach: "Mit Herz und Mund und Tat und Leben". 

Von Andreas Wilink

11. Januar 2024. Das Kind "läuft","rennt", klettert" und macht sich in seinem Überschwang dabei schuldig. Davon handelt der Prolog seiner Erinnerungen. Das gehört zur christlichen Sündenlehre. Der Protestant, der im heiligen Köln und im katholischen Salzburg sowie im evangelischen Hamburg (Thalia Theater) und Berlin (Staatsoper Unter den Linden) Intendant sein wird, weiß das.

Jürgen Flimm sagt es mit einer Bach-Kantate und mit universalem Anspruch:"Herz und Mund und Tat und Leben". Die vita activa kommt in der Formel mehr zum Ausdruck, als das reflektierend pietistische der Innenbeschau. Man könnte es auch Geschäftigkeit nennen. Boy Gobert, einer seiner frühen Förderer, rät dem aufstrebenden Regisseur: "Jürgen, tummel dich".

Schauspiel oder Oper?

Der Text der Titel gebenden Kantate (147/147a) spricht vom Bekenntnis des Glaubens, vom Zeugnis-Ablegen"ohne Furcht und Heuchelei". Glauben an was? An die Musen und an die Wirklichkeit der Kunst. Sie verspürt der 1941 in Gießen geborene, in Köln aufgewachsene Arztsohn, wenn er in der Aula der Albertus-Magnus-Universität Bachs Matthäus-Passion hört, besonders die Choräle: "Ich will hier bei Dir stehen ..." Ein Treuegelöbnis.

Was Flimm beschreibt, sind Metamorphosen. "Im Theater passiert alles zum ersten Mal" (diese Einsicht schenkt ihm Paul Hoffmann, Schauspieler und Direktor des Burgtheaters) – immer wieder. Die Wandlungen beginnen in Köln-Lindenthal, bei Günter Wand und dem Gürzenich Orchester, um sich viel später zu den Bach-Deutungen von Nikolaus Harnoncourt, dem Freund, zu entwickeln. Überhaupt, denkt der Leser nicht selten, Flimms Favoritin ist die Oper, hinter der die Schauspielkunst zurücksteht.

Anfänge als Assistent 

Fix mischt er, der als Knirps sein eigenes Puppentheater betrieb, selbst mit. Der Student der Germanistik, Theaterwissenschaft und Soziologie, der"kesse Jüngling" und"hochinfizierte" Zeitgenosse besucht parallel eine private Schauspielschule, beginnt schon zu spielen und zu inszenieren, bevor er in München Assistent bei August Everding und Hans Schweikart wird. Start für einen Marathon.

Gegen Gründgens und die Mitläufer und Mittäter im kurzen Tausendjährigen Reich zieht er vom Leder, beruft sich auf die Exilierten und auf seinen Schullehrer, der ihm Celan, Brecht und die Neue Musik nahe gebracht habe und freies Denken in der restaurativen Adenauer-Republik. (Wenn man parallel Günther Rühle liest, stellt sich das gleichgeschaltete Theater 1933 bis 1945 in seiner besseren Gestalt etwas weniger verworfen dar.) Flimm inhaliert die Avantgarden der 1960er Jahre, Stockhausen, Bernd Alois Zimmermann und Klaus Doldinger, Wellershoff und die Valente und wer sich sonst beim WDR die Klinke in die Hand gab, hört den anderen Klang, die neue Sprache und"tobende Unordnung" der Welt in Bild und Ton. Erkundet die Kunstszene mit Fluxus, Beuys, Nam June Paik etc. und das Kino der Nouvelle Vague, des italienischen Neorealismus, des amerikanischen Gegen-Hollywoods. Da ist dann selbst der genossene Cappuccino mehr als Bohnenkaffee, vielmehr ein Statement.

Spätgeborener Baal

Aus seiner Münchner Zeit (1968 bis 1972) dürfen die Kortner-Anekdoten nicht fehlen. Mit Fassbinders"Bremer Freiheit" an Boy Goberts Thalia Theater 1971 beginnt der Erfolg. Manchmal drängen sich auf einer Buchseite 20 und mehr Namen, überbietet der polyglotte Flimm den Phileas Fogg von Jules Verne. Wie nebenbei erfährt man, dass er mehrfacher Vater ist, en passant erwähnt er seine"Eitelkeit", bleibt aber im Persönlichen schmallippig.

Der 1968er und Jungsozialist – in Lederjacke mit Wolf-Biermann-Schnäuzer wie ein spätgeborener Baal – nährt auf der symbolischen Ebene in sich den Vatermörder, um selbst ein Patron und Souverän zu werden. Die Revolte war nicht anarchisch gesonnen, sie war auf In-Besitznahme der Throne aus. Das ist der Triumph dieser Nachkriegsgeneration und ihr Stachel im Fleisch, wenn sie den Gedanken zulassen. Flimm hat ein halbes Jahrhundert später zum Millennium-Wechsel in Bayreuth Wagners"Ring" inszeniert, der davon erzählt, dass Macht und Liebe sich ausschließen. Wenn das die Alternativen sind, scheinen sie im Theaterbetrieb auch zur Symbiose geraten zu können.

Von der New Yorker Met in die Metropole des Karnevals

Flimm wurde ein theatraler Großfürst, der in Zürich (16 mal), an der New Yorker Met und in Peking ("Woyzeck") inszeniert, die Ruhrtriennale von Gerard Mortier erbt, Salzburg managt, Kulturpolitik u.a. als Präsident des Bühnenvereins mitsteuert und der Toskana-Fraktion der SPD ein Genosse ist (wobei er Umbrien den Vorzug gab). Er hatte auch etwas von einem Zirkusdirektor wie Peter Ustinov in Max Ophüls’ Film "Lola Montez", wenn er etwa Jerôme Savary für ein Spektakel nach Köln in die Metropole des rheinischen Karnevals holt, ein Zelt zum Spielen aufschlagen lässt, Willy Millowitsch verpflichtet und Walter Bockmayer in die Hochkultur hievt.

Köln ist seine erste glückhafte Intendanz. Hier öffnet er das Schauspielhaus am Offenbachplatz ganz weit in die Stadt hinein, initiiert das "Theater der Welt"-Festival mit Ivan Nagel und richtet die erste große Pina-Bausch-Werkschau aus, engagiert Bondy, Gosch, Tabori und schon Wilson und findet sein Ensemble, darunter Ingrid Andree und Hans Christian Rudolph, um nur zwei von so Vielen zu nennen. Die folgenden 15 Jahre an der Binnenalster in "Hamburgs guter Stube", die er mit seliger Wehmut betrachtet, steigern noch das Hochgefühl. Eine seiner Tugenden als Intendant war es, zu gönnen und Regisseure zu verpflichten, die ihn, wenn nicht in den Schatten stellten, so doch in ihrer Strahlkraft überboten. Und weil sich niemand gern selbst dem Zwielicht preisgibt, schminkt Flimm mancherlei (wie seine Positionen an der Ruhr und an der Salzach) schön.

Kleine Sprünge, große Bögen

Ausführlich schreibt er über eine siebenstündige Veranstaltung Ende Januar 1993 im Thalia gegen Fremdenfeindlichkeit und die rassistischen Exzesse, für die er eine splendide Starrevue von Vanessa Redgrave bis Marcel Marceau aufgeboten hatte. Ganze acht Seiten widmet er dem fast gestrauchelten Welterfolg des "Black Rider" von Burroughs, Waits und Wilson. Während er Hebbels eiserne "Nibelungen" probt, erreicht er gemeinsam mit Gefährten im Kampf der Bürgerschaft um die Hausbesetzungen der Hafenstraße den Waffenstillstand. Flimm, artiste engagé und Friedefürst.

Ein Langlauf im Schnelldurchlauf: Flimm wirft hin, streut ein, reißt an, lässt es schwirren, macht kleine Sprünge und legt große Bögen, wenn beispielsweise die frühe Erfahrung mit Zimmermann und Jakob Michael Lenz fruchtbar bleibt, bis er dereinst als Chef der Ruhrtriennale"Die Soldaten" mit enormer Wucht in die Bochumer Jahrhunderthalle bringt und seinen Spielplan an der Berliner Staatsoper mit einer stattlichen Zahl an Komponisten der Moderne und Zeitgenossen bestückt.

Bild eines Kindes

Erzählen kann er, obwohl die Neigung, sich zu verplaudern, ihn selbst beschränkt. Das analytisch Tiefenscharfe kommt etwas zu kurz. Umso schöner, wenn er mit knappen Sätzen in die Herzkammer eines Stücks vordringt und dessen Blutbahnen verfolgt, eine Bühnenbild-Phantasie vor uns errichtet, Personen mit wenigen Strichen zeichnet, eine Stimmung, ein Klima aufruft. Es sind ebenso Erinnerungen eines Theatermachers wie die eines begabten Autors. Autobiografie ist Erfindung, Dichtung und Wahrheit, Sinnsuche, um Leben in eine Ordnung zu bringen, ihm Deutung aufzuerlegen und Folgerichtigkeit. Bei Jürgen Flimm, der mehr Bejaher als Verneiner und ein Genie der Freundschaft war, leutselig, gewieft und gesellig, ist die Fülle beeindruckender als das Einzelne. Das Resümee hat auch etwas von einem Gotha und Guinness-Buch fürs Theater (leider fehlt ein Register, und dem Lektorat unterliefen einige Namensfehler).

Als Genussmensch konvertiert Jürgen Flimm ins Römisch-Katholische: Ihm ist die Kunst ein Glück und Vergnügen, das Leben ein Fest. – Und doch, der Epilog benennt den Riss in seinem Leben, den Tod des Neugeborenen Benjamin, datiert 1973. So treffen sich Anfang und Ende im Bild des Kindes und runden sich zum Lebenskreislauf.

Jürgen Flimm
Mit Herz und Mund und Tat und Leben. Erinnerungen
Vorwort von Sven Eric Bechtolf
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024, geb., 349 S., 26 Euro.

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