Trippeln, Wippen und Verrenken

von Verena Großkreutz

Stuttgart, 23. Februar 2019. Wahrlich bizarr, dieser Dichterling Oronte. Wie er in mehreren Anläufen sein Möchtegern-Sonett "Hoffnung" zum Vortrag bringen will und dies mit merkwürdig exaltierten Armschwüngen untermalt, sich immer mehr hineinsteigert in seine holprigen Verse, dabei fast in Ohnmacht fällt. Aber noch bizarrer als seine Bewegungen ist Orontes Kostüm, in das Sven Prietz gesteckt wurde: Grüner, schulterfreier Wams, goldene Plateauschuhe und Pluderhose überm Kugelbauch, eine riesige Perlenkette um den Hals. Solche bunten, eigenwilligen Outfits tragen alle Menschen des Hofstaats in Bernadette Sonnenbichlers Inszenierung von Molières Komödie "Der Menschenfeind" im Schauspielhaus Stuttgart. Auch der einsamen Arsinoé (Katharina Hauter) hat Kostümbildnerin Tanja Kramberger was Todschickes verpasst: Die Perücke, geformt wie zwei Riesenhörner, thront zentnerschwer auf ihrem Kopf, ihr lila Reifrock geht in die Breite wie ein sperriges Schutzschild.

Schein statt Sein

Alceste verabscheut sie alle – wegen ihrer Heuchelei, ihrer Verstellungen und Oberflächlichkeit, ihres Lästerns und ihrer Lügen. Eigentlich ist "Der Menschenfeind", in dem Molière 1666 eine Gesellschaft aufs Korn nahm, in der Schein mehr bedeutet als Sein, deshalb heute aktueller denn je. In Stuttgart ist er aber in einem zeitlosem Beliebigkeitsraum verortet: Die Bühne von Wolfgang Menardi ist ein großer, leerer, heller Tanzsaal. Alles weiß, alles clean, der Boden verspiegelt, hinten ein Auftrittsportal, gerahmt durch weiße Vorhänge: alles Theater hier im Theater. Die Bühne bietet genügend Platz für all die grotesken Hüpf- und Verrenk-Tänze, zu denen der Hofstaat zusammenkommt. Auch wenn die Höflinge sprechen, trippeln sie meist auf der Stelle und verbiegen ihre Gelenke. Alles Fassade, Maske, durch und durch künstlich: ihre Sprache, ihr Äußeres, ihr Gebaren. Alles so "unecht und geziert" wie die Verse von Oronte.

Menschenfeind 2 560 DavidBaltzer uIm Leben muss man sich ständig verbiegen. Benjamin Pauquet (Acaste), Sebastian Röhrle (Clitandre), Celina Rongen (Éliante), Robert Rožić (Philinte), Therese Dörr (Célimène) © David Baltzer

Selbst Philinte (Robert Rožić), eigentlich der gut meinende Freund des Misanthropen, ist hier ein eitler, oberflächlicher Fatzke, und wie auch die Marquis Clitandre und Acaste ist er ziemlich tuntig unterwegs – als wäre das die einzige Darstellungsform männlicher Künstlichkeit. Da ist gleiches bei den Frauen viel differenzierter. Herrlich etwa Celina Rongen als stets hyperventilierende, hippelig-nervöse Èliante, die (mit kugeligen Zöpfen und Ballonfrisur) Sex mit Philinte versucht, der einige Mühe hat, pünktlich seine raffiniert geschnürte Hose aufzukriegen. Lustig auch Alcestes Diener Dubois: Mal fährt Julian Lehr auf Putzschuhen Schlittschuh, um den Boden zu polieren. Dann springt plötzlich eine Klappe auf und Dubois mit windschiefer Frisur guckt heraus, als sei er von hinten durch die Wand gerammt worden.

Und originell auch: Oben am Bühnenhimmel baumeln drei Gondeln. Darin sitzt je ein Musiker. Die Live-Band taktet die Tänze, unterlegt die Dialoge, synchronisiert Bewegungen – mit Posaunenswing, Gitarrenriffs und Bass-Dumdidum.

Menschenfeind 3 560 DavidBaltzer uAllein unter Heuchlern und Hochstaplern: Matthias Leja als Alceste © David Baltzer

Aber was ist mit Alceste, der titelgebenden Hauptfigur? Er, sein Wollen und Tun geraten doch tatsächlich ins Abseits an diesem Abend. Matthias Leja lässt ihn brüllen und granteln, was das Zeug hält. Aber Alceste gehört von Anfang an nicht dazu, ist ein radikaler Außenseiter. Sitzt erst im Publikum und kehrt am Ende dahin zurück. Alles ein Kontrast: Sein dunkler Schlabbermantel, seine "normalen" Bewegungen, sein ungekünsteltes Sprechen der gereimten Verse. Er wirkt auf der Bühne wie ein Besucher in einem lebendig gewordenen Panoptikum. Dass er die skurrile Gesellschaft dieser Popanze nicht lange aushalten und sie bald verlassen wird, ist von Anfang an genauso klar wie das Scheitern seiner Liebe zu Célimène, präzise gespielt von Therese Dörr, die der Figur – allem karikierenden Gehabe lasziver Posings zum Trotze – auch Feinheiten abgewinnen kann: etwa das unentschiedene Lavieren zwischen echten Gefühlen und Spaßgesellschaftsmimikry inklusive flottem Vierer.

Aber weil von Anfang an alles klar ist, bleibt der Abend vor allem eines: völlig spannungslos. Denn Sonnenbichler hat etwas Entscheidendes übersehen. Die äußere Handlung im "Menschenfeind" ist extrem minimiert, die Kunst Molières war es vielmehr, die Konflikte aus den Wesenszügen der Hauptfiguren zu entfalten. Nimmt man ihnen ihren Charakter und degradiert sie einheitlich zu tumben Karikaturen, kann sich nichts anderes entwickeln als Langeweile – denn der Menschenfeind bleibt mit sich allein.

 

Der Menschenfeind
von Molière
Deutsch von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens
Bearbeitet von Bernadette Sonnenbichler und Gwendolyne Melchinger
Regie: Bernadette Sonnenbichler, Bühne: Wolfgang Menardi, Kostüme: Tanja Kramberger, Komposition und musikalische Einrichtung: Jacob Suske, Choreographie: Jean Laurent Sasportes, Licht: Sebastian Isbert, Dramaturgie: Gwendolyne Melchinger.
Mit: Therese Dörr, Katharina Hauter, Julian Lehr, Matthias Leja, Benjamin Pauquet, Sven Prietz, Sebastian Röhrle, Celina Rongen, Robert Rožić, Musiker: Marvin Holley (Gitarre), Marc Roos (Posaune), Fabian Wendt (Bass).
Premiere am 23. Februar 2019
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de

 

 

Kritikenrundschau

"Die Suche nach Wahrheit kann auch dann ein Verbrechen sein, wenn man sich selbst dabei zugrunde richtet. Immerhin: Diese Einsicht nehmen wir mit aus den hundert Minuten, die Bernadette Sonnenbichler nicht immer mit Kurzweil zu füllen vermag", schreibt Roland Müller in der Stuttgarter Zeitung (24.2.2019). "So sehr die Kostüme von Tanja Kramberger auffallen, so sehr frieren sie mit ihrer Neigung zur Karikatur jede Figur ein, noch ehe sie ein Wort gesagt hat. Die auf Formalismen setzende Regie tut ein Übriges, um das Ensemble der aufgeputzten Inszenierung weitgehend in Schach zu halten."

"Die Zuschreibungen an diesem Abend sind eindeutig: Die Welt ist eine Bühne und als solche auch von Bühnenbildner Wolfgang Menardi konzipiert. Und nur derjenige, der an der Oberflächlichkeit verzweifelt, ist der Gute. Schlecht sind die, die sich für Mode, Poesie und feuchtfröhliche Feste interessieren", schreibt Nicole Golombek von den Stuttgarter Nachrichten (24.2.2019). Sie findet Sonnenbichlers Lesart "erstaunlich naiv". Golombek schließt: "Das alles ist ästhetisch, stringent und schön anzuschauen. Ein bisschen brav dann aber auch und überaus vorhersehbar, ein bisschen mehr Ambivalenz hätte dem tollen Treiben auch gedanklichen Glamour verliehen."

 

 

 

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