Der Schimmelreiter / Hauke Haiens Tod - DT Berlin
Twin Peaks hinterm Deich
27. April 2024. Tierpräparate und Puppenspiel, überbordende Bilder und ein glänzendes Ensemble: Regisseur Jan-Christoph Gockel hat Theodor Storms archaische Geschichte von Deichgraf Hauke Haien und seinem Kampf gegen die Natur mit einer Adaption des Stoffs von Andrea Paluch und Robert Habeck zu einem Theaterfest verschnitten.
Von Janis El-Bira
27. April 2024. "Erster Rang", gibt der hauskundige Sitznachbar auf Nachfrage zu verstehen – da soll das prominente Autorenpaar wohl sitzen. Sehen wird man Robert Habeck und Andrea Paluch hingegen nicht. Schon gar nicht beim enthusiastisch zu nennenden Schlussapplaus, den Ensemble und Crew ganz für sich haben.
Es wäre auch zu seltsam gewesen an diesem eh seltsamen Doppelschlag-Wochenende im Hause Habeck / Paluch. Gestern die DT-Premiere des über 20 Jahre alten Hauke Haiens Tod-Romans, heute Abend gleich noch desselben Fernsehverfilmung unter dem wohnzimmertauglichen ARD-Titel "Die Flut – Tod im Deich". Mitten in der Debatte um angebliche Atomausstiegszweifel seitens des Umweltministers nun also Theater-Sitz und TV-Couch mit dem eigenen Buch? Muss sich ein bisschen wie Urlaub im alten Leben anfühlen.
Aberglaube und gefühlte Wahrheit
Aber dann das: Auf halber Strecke dieser rauflustigen Abendveranstaltung steht Manuel Harder als Deichgraf Hauke Haien auf einem mobilen Schlagzeugpodest, fährt vor der ersten Reihe auf und ab – und spricht emphatisch gegen das "Fahren auf Sicht" und die politische Lähmung in den jüngsten Krisenjahren. Da hört man also plötzlich den Berufspolitiker Habeck aus seinem Berufspolitiker-Buch Von hier an anders von 2021. Urlaub zu Ende, könnte man meinen: Hauke Haien und sein entschlossenes Eintreten gegen Aberglauben und gefühlte Wahrheiten – das ist ein Auftrag ans Hier und Jetzt.
Genau darum, so ließe sich herausschälen, geht es Regisseur Jan-Christoph Gockel mit diesem Doppelabend: Den schauerlichen Schimmelreiter Theodor Storms geistig anzunähern an die gänzlich zauberfreie Krimi-Version des Falls Hauke Haien bei Habeck/Paluch. Wo bei Storm nämlich der Deichbauer Haien wie von Gotteshand bestraft wird, weil er sich mit seinem mathematischen Geist an der Natur versündigt, wird er bei Habeck/Paluch als Mann des Eigensinns Opfer einer allzu menschlichen Intrige.
Gauklerfest des Theaters
Wie im jüngeren Roman hat Gockel die Tochter Haiens, Wienke, zur Scharnierfigur erkoren, die – eigentlich totgeglaubt, aber plötzlich wieder da – zwischen den Welten forscht, auf Spurensuche nach dem in den Fluten ertrunkenen Vater. Iven, ihren Retter von einst und heutiger Bouncer (Komi Mizrajim Togbonou), hauen die Auswirkungen dieser Identitätssuche fast aus seiner Hells-Angels-Montur …
Erheblich viel Spaß macht daran, dass Gockel und sein Ensemble aus DT-Spieler*innen und Schauspieler*innen des inklusiven Theaters RambaZamba plotmäßig im Krimi und gedanklich im 21. Jahrhundert unterwegs sind, ästhetisch aber süffigste Schauerromantik betreiben. Der Abend ist ein Gauklerfest des Theaters, Minute um Minute sinkt man tiefer in den weichen Sessel wohligen Grusels. Auch wegen der vielen Live-Videos auf dem portalhohen Gazevorhang spürt man dabei nicht nur den Anhauch gespenstischer Doppelpräsenzen, sondern wähnt sich direkt schon einen Tag weiter: Im Fernsehen der Sorte gemütliche ARD-Mystery mit grundehrlichem Unterhaltungswert.
Grelle V-Effekt Schneisen
Zentrum dieser Twin-Peaks-Gesellschaft hinterm Deich ist die ehemalige Tankstelle und jetzige Dorfkneipe, in der Almut Zilcher als hellsichtige Trine Jahns Zigarettchen schmökt und um ihren längst ausgestopften, aber an Marionettenfäden wundersamst verlebendigten Angorakater trauert (Puppenspiel mit echten Tierpräparaten: Michael Pietsch), den Hauke Haien einst tötete. Zilcher, von der man sich nicht umsonst schon immer gerne die giftigsten Theater-Zaubertränke einflößen ließ, ist eine herrliche Besetzung für diese Figur, schwarz timbriert und von stolz runtergebrannter Grandezza.
Als nicht minder glücklich erweist sich die Zusammenarbeit mit den RambaZamba-Spieler*innen. Bei Storm ein Detail, bei Habeck/Paluch weitaus wichtiger: Wienke Haien hat eine kognitive Einschränkung. Hieu Pham und Zora Schemm spielen sie mit Eigensinn und Würde als Ermittlerin in eigener Sache, während ihre Ensemble-Kolleg*innen immer wieder grelle V-Effekt-Schneisen in den Spuknebel schlagen oder am soghaft orgelnden Musikbett arbeiten.
Sympathisch überambitioniert
Dass der Abend sich natürlich zu viel ins Gepäck stopft, er anhand der toten und untoten Tiere auch noch von der Umweltkatastrophe künden will, den eigentlichen Krimiplot gar nicht zu Ende erzählt und den zentralen Konflikt zwischen Aufklärung und technikmoderner Naturunterwerfung kaum ausartikuliert – all das mag man ihm genauso ungerne ankreiden wie den von der Regie als Edel-Neonazi unter Wert verkauften Haien-Gegenspieler Ole Peters (Mareike Beykirch).
Vielleicht ist man nachsichtig, weil man sich trotz aller Taschenspielertricks dieser Inszenierung um rein gar nichts betrogen fühlt. Und weil ihr sympathisch überambitionierter Zusammenschnitt von inklusivem Theater, Puppenspiel, Klassikertext und zeitgenössischer Romanadaption auch für das neue Deutsche Theater andeutet: Es profiliert sich.
Der Schimmelreiter / Hauke Haiens Tod
nach der Novelle von Theodor Storm und dem Roman von Andrea Paluch und Robert Habeck
Regie: Jan-Christoph Gockel, Bühne: Julia Kurzwerg, Kostüme: Sophie du Vinage, Video: Eike Zuleeg, Licht: Robert Grauel, Puppenbau: Michael Pietsch, Musik: Anton Berman, Dramaturgie: Johann Otten, Bernd Isele.
Mit: Mareike Beykirch, Manuel Harder, Franziska Kleinert, Hieu Pham, Michael Pietsch, Zora Schemm, Komi Mizrajim Togbonou, Sebastian Urbanski, Almut Zilcher, Moritz Höhne (Drums), Anton Berman (Live-Musik), Eike Zuleeg (Live-Video).
Premiere am 26. April 2024
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
www.deutschestheater.de
Regisseur Jan-Christoph Gockel schiebe Paluch/Habeck und Storm sowie einiges mehr zu einem "dichten, mit Bildern, Sound und Anspielungen überladenen Theatermittelabend zusammen, der sich im Verdauungstrakt eines schlecht träumenden Wals abzuspielen scheint", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (28.4.2024 online). Hybris der Klimakrise, Rache der Natur, Politikverdrossenheit und Bauernproteste, Identitätsfetisch und Symbolvoodoo - "alles wird mit großflächiger Videodopplung und einem live eingespielten Dauersound aufgefahren, der aus längst untergegluckerten Welten heraufzuhallen scheint." Mit Gockel gehen die Ambitionen durch, sodass am Ende auf der Bühne wenig zu spielen und viel zu absolvieren und für das Publikum viel auszuklamüsern bleibe.
Bei Jan-Christoph Gockel ist die alte Erzählung nur das abgründige Spuk-Fundament. "Auf der Handlungsebene hält er sich an Habeck und Paluch", so Barbara Behrendt im rbb24 (27.4.2024). Gockel fahre wieder einmal sein bombastisches Ästhetik-Potpourri aus Puppenspiel, Live-Video, Schauspiel und Musik auf. "Doch diesmal erwächst daraus auch eine inhaltliche Vielschichtigkeit, die nichts erklärt, aber die Denkmaschine ankurbelt. Das Zusammenspiel der unterschiedlichen Ensembles ist zudem ein großer Spaß." Fazit: "Ein nachhallender Öko-Krimi, der wohl auch den Spukfan Theodor Storm aus der Gruft locken würde."
Der bildmächtige Abend verbinde die Optik gehobener Mysterythriller mit den besten Momenten angeschrägter Brandenburg-Krimis, schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (29.4.2024). Die Kritikerin hatte ihren Spaß an Gockels "Friedhof-der-Kuscheltiere-Kosmos" und lobt namentlich Manuel Harder, der "als grandioser Zombie durch den Abend geistert", die "großartige Almut Zilcher" und die "auf Bestniveau agierenden RambaZambas".
Von einem "Treffen mit Gespenstern" sowie skurrilen "Tanz mit Toten, die dann doch noch sehr lebendig sind" schreibt Katrin Bettina Müller in der taz (30.4.2024). Die Inszenierung kann auch auf Grund ihres vorzüglichen Zusammenspiels von nicht-behinderten und behinderten Schauspieler:innen aus dem Deutschen Theater und dem RambaZamba Theater bei der Kritikerin punkten. "Viele Bilder sind fantastisch und gruselig romantisch, nicht zuletzt wegen des Mitspiels von toten Tieren, neben der Katze noch ein Pferd, ein Hund, eine Möwe. Sie werden bewegt wie Puppen, sind aber aus den Fellen und Bälgen ehemals lebendiger Tiere. Und liefern nicht zuletzt damit einen Anlass für einen Exkurs über die Würde der Tiere und das Recht auf Verwesung."
"Die Probleme der Aufführung liegen, neben dem hilflosen Stil-Eklektizismus, in der inhaltlichen Konfusion, etwa wenn Hauke Haien (Manuel Harder) als Politikerkarikatur eine Kalenderspruch-Rede runterhaspelt, als wollte der Regisseur populistisches Ressentiment gegen demokratisch gewählte Funktionsträger bedienen.," schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (30.4.2024) "Am Ende hilft dann nur noch das Beschwören der kommenden ökologischen Apokalypse auf dem Wüstenplaneten, um das über weite Strecken leerlaufende, arg hohl tönende Spektakel irgendwie mit Bedeutung aufzuladen: Klimakatastrophe als Phrase und Geschmacksverstärker für dünnes Theater."
"Die Kombination von behinderten und nicht behinderten Schauspielern hier ist schwierig und nicht ausgewogen, letztlich nicht gerecht, auch wenn sie politisch korrekt tut", schreibt Irene Bazinger in der FAZ (30.4.2024). "Der gute Wille allein macht schlechte Aufführungen eben keinen Deut besser."
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