My Little Antarctica - Schaubühne Berlin
Die Eissplitter des Stalinismus
25. April 2024. Mit dem Angriff auf die Ukraine 2022 haben Tatiana Frolova und das traditionsreiche KnAM Theater ihre russische Heimat verlassen. Aus dem Exil heraus erzählen vom intellektuellen Kältetod Russlands: "My Little Antarctica". Ein Höhepunkt des FIND-Festivals.
Von Esther Slevogt
25. April 2024. Selbst Stalin will am Ende keine Verantwortung übernehmen. Es sei das System gewesen, das sowjetische, und das habe schließlich nicht er sondern hätten Lenin und Trotzki aufgebaut. Spricht's und schaut mit den toten Augen seiner Fotomaske ins Publikum. Denn es handelt sich natürlich um einen Schauspieler, in dessen Körper kurz der Geist des sowjetischen Diktators fuhr, der einem ganzen Terror- und Unterdrückungssystem seinen Namen gab.
Zuvor sind auch schon Lenin-Klone aufgetreten, einstige Denkmalfiguren, die hier nun noch einmal kurzfristig ein geisterhaftes Bühnenleben fristen und gegen ihre Beseitigung in einer kurzen, demokratischen Phase der Freiheit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion demonstrieren. Jetzt befindet sich das Land im totalen Rollback. Denn der Eissplitter des Stalinismus steckt ebenso tief in den Herzen der Russen, wie der Eissplitter der Schneekönigin aus Andersens gleichnamigem Märchen im Herzen des kleinen Kai.
Markige Worte und der Terror gegen Mariupol
Das ungefähr ist die Prämisse, die Tatiana Frolova und das von ihr 1985 in der Sowjetunion mitgegründete KnAM Theater ihrem Abend "Моя маленькая Антарктида (My Little Antarctica)" zu Grunde gelegt haben. KnAM war das erste freie Theater in der Sowjetunion und entstand aus dem Geist von Gorbatschows Perestroika. Inzwischen hat die Gruppe Russland verlassen und lebt im französischen Lyon im Exil. Denn seit dem Angriff gegen die Ukraine 2022 hat Putin die reiche russische Theaterlandschaft eingestampft. Spielen darf nur noch, wer systemkomform ist (siehe den Bericht von Alla Shenderova).
Und so beginnt das Stück dann auch mit einem bitteren Abgesang: Wir sehen Putin im Video auf der großen Bühne eines Theaters stehen und eine Festrede zum Tag des Theaters in Russland halten. Die markigen Worte über Größe und Bedeutung des russischen Theaters werden bald unterlegt mit Bildern des zerstörten Drama-Theaters von Mariupol, das voller Schutzsuchender Zivilisten war, als es von den Russen im März 2022 bombardiert wurde.
Warum Gefolgschaft für Putin?
Das ursprüngliche Stück entstand 2019 noch in Russland und hätte schon 2020 beim F.I.N.D.-Festival laufen sollen, das pandemiebedingt dann abgesagt werden musste. Jetzt, im französischen Exil, haben es Tatiana Frolova und ihre Gruppe überarbeitet und daraus eine anatomische Untersuchung der russischen Seele samt der Frage gemacht, warum sie Putin so bedingungslos folgt und immun gegen alle Ein- und Widersprüche ist. Damit fügt es sich gut in die Serie der Tiefenbohrungen, die die diesjährige F.I.N.D.-Ausgabe am Fallout des totalitären Erbes der Geschichte des 20. Jahrhunderts in unserer Zeit vollzieht.
Im Zentrum des Stücks stehen (per Video eingespielte) Interviews mit Bewohnern der Stadt Komsomolsk am Amur, die – geprägt von der sie umgebenden Taiga und sechsmonatigen Wintern mit Temperaturen um minus 40 Grad – am östlichen Ende Russlands gelegen ist. Hier war auch der Sitz des KnAM Theaters. Die Stadt entstand als Teil des Gulag-Systems mit seinen Straflagern, weshalb das Gros seiner Bewohner entweder von Wachpersonal oder einstigen Inhaftierten abstammt.
Trotzdem wollen viele diese Geschichte nicht wahrhaben und beharren bis heute darauf, die Stadt sei in den 1930er Jahren von einer Gruppe idealistischer Jungkomsomolzen gegründet worden: Ein Junge etwa zweifelt die Echtheit der Dokumente an, auf die sich der Interviewer bei seinen Fragen über die stalinistische Terrorgeschichte des Orts bezieht. Eine alte Frau gibt offen zu, alles gewusst, ihre Familie aber gezielt belogen zu haben.
Erinnerung und Verdrängung
Eingefasst sind die Videos von Spielszenen, in denen das sechsköpfige KnAM-Ensemble entweder in jeweils eigene, sowjetisch geprägte Familiengeschichten taucht, die mit Hilfe von Fotos animiert und erzählt werden. Großeltern, die ihr Leben nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sinnlos gelebt fanden. Eltern, die dem Weggehen des Sohns aus Putins Russland mit völligem Unverständnis begegnen und als Verrat empfinden. Da ist die Geschichte einer jungen Frau, die eines Tages erfährt, dass ihr Großvater ein stalinistischer Henker war.
Fotos werden projiziert, oder die Porträts der Verstorbenen gerinnen zu Masken auf den Gesichtern der Lebenden. Immer fahren die Geschichten und die Figuren wie Geister in die Körper der Spielerinnen und Spieler. Einer erzählt, ein anderer spielt. Manchmal ist es auch nur eine leere Uniform, die von zwei Spielern wie eine lebensgroße Marionette geführt wird. Wie funktioniert Erinnerung? Wie lässt sie sich auch betrügen und manipulieren? Das sind Grundfragen dieses Abends.
Andersens "Schneekönigin"
Durchbrochen wird die Erzählung immer wieder von grotesk gespielten, comichaften Szenen, die sich auf das Andersen-Märchen von der Schneekönigin beziehen. Und auf den fühllosen Zustand, den ihr Splitter verursacht hat. Diese Unfähigkeit, weder Schmerz noch Glück empfinden zu können, und sich damit auch gegen jede Veränderung zu immunisieren, wird als eine Art Grundsymptom aus dem Erbe des Stalinismus beschrieben. Heutige Kais in Russland wollten offenbar auch gar nicht gerettet werden, da sie eben den Mangel gar nicht empfinden könnten, so das ratlose Fazit dieses Abends. So trägt jeder seine kleine Antarktis in sich selbst.
Моя маленькая Антарктида (My Little Antarctica)
von Tatiana Frolova/KnAM Theater
Übersetzung und Übertitelung: Bleuenn Isambard
Regie: Tatiana Frolova, Ausstattung: KnAM Theater, Dokumentarisches Material: KnAM Theater, Ton: Vladimir Smirnov, Video: Tatiana Frolova, Dmitrii Bocharov, Vladimir Smirnov.
Mit: Dmitrii Bocharov, Tatiana Frolova, Vladimir Dmitriev, German Iakovenko, Ludmila Smirnova, Irina Chernousova.
FIND-Festivalpremiere am 24. April 2024 in Berlin
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.tatianafrolova.com/knam
www.schaubuehne.de
Die Theatergruppe KnAM habe sich von Anfang an gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine positioniert, "ihnen blieb nur die Flucht, um einer drohenden Verhaftung zu entgehen", berichtet Katja Kollmann in der taz (26.4.2024). Vor dem Hintergrund des andauernden Krieges haben die Truppe die Inszenierung, die 2019 Premiere feierte, aktualisiert. Bemerkenswert sei, "dass in der Inszenierung, die mit sparsamen szenischen Mitteln arbeitet, die Schuldzuweisung an Stalin ausbleibt. Denn 'der Apparat arbeitet auch von allein'." Stalin trete auch einmal auf und verbreite "Sentenzen, die die politische Situation im heutigen Russland auf den Punkt bringen: Das Regime ist der Spiegel des Volkes und rät daher der Bevölkerung, endlich 'für sich selbst zu denken. Das ist das Einzige, was euch helfen kann.'"
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Zu dem Zeitpunkt hat das Publikum aber schon einiges hinter sich: es startete mit Wladimir Putin vor großer Kulisse, der zum Tag des Theaters von der Größe russischer Kultur schwärmte, und sprang als assoziative Collage zwischen kleinen Comedy-Einlagen hinter Masken, eingespielten Märchensequenzen aus Hans Christian Andersens „Die Schneekönigin“ und viel Dokumaterial.
Munter mischt „My little Antarctica“ die Genres, springt zwischen den Zeiten von Lenin über Stalin bis in die Gegenwart hin und her. Mancher hübsche Einfall rauscht in den 100 Minuten vorbei, allein es fehlt in dieser Produktion des ersten freien Theaters, das 1985 zu Gorbatschows Perestroika und Glasnost-Zeit in der UdSSR gegründet wurde, eine sortierende, ordnende Hand.
Die Botschaft wird klar ausgesprochen: die Lage in Putins Russland ist noch schlimmer als zu Stalins Zeiten. Historische Vergleiche hinken immer, aber dass die Lage alles andere als rosig und hoffnungsvoll ist, ist unbestritten.
Dieses Gastspiel eines exilrussischen Ensembles war tatsächlich eine der gelungeneren Produktionen im aktuellen FIND-Jahrgang und stärker als die darauffolgende Enttäuschung: der britische Dramatiker Martin Crimp legt aus dem Off, später vom Bühnenrand einer schier endlosen Folge von Gesichtern manchmal ganz witzige, oft nur banale Sätze in den Mund. All diese Personen sind nur eine Erfindung der KI. „Not one of these people“ ist als kleine Spielerei für dreißig Minuten ganz reizvoll, gerät aber über 100 Minuten so redundant, dass viele Zuschauer den Saal gelangweilt vorab verlassen.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/04/25/my-little-antarctica-find-schaubuehne-kritik/