Schmeiß dein Ego weg und feier was du liebst. Für René - Volksbühne Berlin
Der Kapitän hat noch eine Kuh in petto
26. April 2024. Volle Hütte gar kein Ausdruck. Alle, die sich der Volksbühne verbunden fühlen, waren gekommen, um ihrem verstorbenen Intendanten, Autor und Regisseur René Pollesch Adé zu sagen. Mit einer großen Revue. Und Florentina Holzinger erläuterte, wer Pollesch eigentlich war: Jesus.
Von Christine Wahl
26. April 2024. Jetzt ist es also wirklich vorbei. Wir sind am Ende einer Ära, die fast ein Vierteljahrhundert lang Künstlerinnen geprägt und ganze Zuschauergenerationen theatersozialisiert hat. Und was soll man sagen: Stilecht ist sie, die Volksbühne, bis zum Schluss: Kein Pathos, keine Botschaften, kein Abendzettel. Alle, denen es gelungen ist, eines der heiß begehrten Tickets zu erkämpfen, sind gekommen zur großen Abschiedsparty, die das Haus seinem im Februar verstorbenen Intendanten, Dramatiker und Regisseur René Pollesch ausgerichtet hat. Und niemand scheint über die geringste Ahnung zu verfügen, was genau hier in den nächsten drei, fünf, acht (?) Stunden stattfinden wird.
"Das reicht uns nicht, es fehlt uns was"
Schon zum Five-o'clock-Warm-up mit dem "Ballroom des House of St. Laurent" herrscht eine ähnlich hohe Prominenzdichte unter den Gästen wie später, am Abend, auf der Bühne. Diese betritt dann als erster Martin Wuttke – in einem T-Shirt mit einem großen roten Herz und einem Prolog, der sich, wie das eben immer so war bei Pollesch, als lässiges Understatement anpirscht und en passant zur luziden Gegenwartsdiskursanalyse auswächst: Wann das eigentlich angefangen habe, dass der Gedanke zum bloßen Statement schrumpfte, fragt Wuttke rhetorisch ins Volksbühnenrund und gibt dem Drama einen Namen: "Endstation Meinung".
Als nächstes seilt sich Fabian Hinrichs vom Schnürboden ab: Die Auftaktszene aus Kill your Darlings, Polleschs und Hinrichs' Signature-Stück aus dem Jahr 2012, das die "Streets of Philadelphia" in die "Straßen von Berlin" verlegte und bei dessen Textzeile "Das reicht uns nicht, es fehlt uns was" jetzt – klar – der erste innige Szenenapplaus des Abends aufbrandet.
Später rocken die jungen HipHoper der Flying Steps Academy, die in mehreren Pollesch-Inszenierungen auftraten, die Bühne und zeigen, wie man das (Pollesch-)Motto des Abends – "Schmeiß dein Ego weg und feier, was du liebst" – adäquat in Bewegungssprache übersetzt.
Wunsch an den Kultursenator
Tocotronic-Frontmann Dirk von Lowtzow schickt dem Freund – "wo immer du jetzt bist" – ein herzliches Let there be rock hinterher. Kathrin Angerer beschwört in einem grandiosen Solo Wohl und Wehe des "Dramas" an und für sich. Der Chor der Volksbühnenmitarbeiterinnen und -mitarbeiter sendet – mit musikalischem Support von Sir Henry – das Stoßgebet God Only Knows What I'd Be Without You von den Beach Boys gen Volksbühnenhimmel, und so wird auch ohne Beipackzettel schnell klar: Dieser Abend ist ein Best of, ein Wunschkonzert für René, in dem sich jeder und jede auf je eigene Art von ihm verabschiedet. Meist mit einer Pollesch-Szene, in die zwischendurch behutsam ein paar private Abschiedsworte hinein variiert werden, unter Umständen aber auch mit einer Grußadresse, die die Erinnerung an den verstorbenen Freund mit einem Weckruf für eine entscheidende Stelle verbindet: "Heute möchte ich es dunkel lassen, weil mir dein Lächeln fehlt, und ich hoffe, dass alles, was hier im Saal passiert, auch der Kultursenator versteht", dichtet ein Punkrocker, dessen Identität leider nicht entschlüsselt werden konnte (die Kommentator*innen mögen helfen! Und sie haben geholfen), in Richtung Joe Chialo, der ziemlich genau in der Mitte des Zuschauersaales Platz genommen hat.
Auszüge aus dem Song-Programm des Abends: mit Dirk von Lowtzow (Tocotronic) und Fabian Hinrichs am Beginn und Sir Henry am Klavier zu den Chören.
Ob dieser Wunsch sich einlöst, wird man sehen – Fakt aber ist, dass die Volksbühne dafür die bestmöglichen Voraussetzungen geschaffen hat. Man konnte an diesem Abend wirklich noch einmal erfahren, was – und wie viel Verschiedenes – dieses Haus tatsächlich war. Auch über den Dialektiker Pollesch hinaus, aus dem man hier tatsächlich so klar wie vielleicht noch nie (und selbstverständlich in absolut gegenwärtiger Weise) die Brecht-Folie heraushört. Etwa, wie jung diese Bühne, allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz, stets geblieben ist; ganz buchstäblich, weil sich hier unglaublich viele Akteurinnen und Akteure diesseits der Dreißig verabschieden. Dazu passt die luzide Brecht-Reverenz "An die Nachgeborenen, nachjustiert", die Martin Wuttke als eine Art Vermächtnis (wenn dieses Wort nicht so unglaublich deplatziert klänge angesichts der Gegenwart, von der man hier noch einmal durch und durch geflutet wird) spricht.
Jesus und die authentische Kuh
Viel konnte man auch über René Pollesch als Menschen erfahren – und zwar als einen offenbar überdurchschnittlich freundlichen. Zum Beispiel von Florentina Holzinger, die neben einem zünftigen Matrosinnentanz mit ihren kongenialen Performerinnen in ihrer traumwandlerisch kitschfreien Weise schlüssige Argumente davor vorbringt, dass sich hinter Pollesch in Wahrheit Jesus Christus verbirgt.
Einen großen Auftritt hatte nicht zuletzt die "authentische Kuh", jenes berühmte Pollesch-Feindbild für den falschen und allerorten so beharrlich reproduzierten Repräsentationskitsch: Ein Pollesch-Spielerinnen-Chor mit Sophie Rois, Rosa-Marie Tiedjen, Kathrin Wichmann, Christine Groß, Nina Kronjäger und all den anderen performt um das leibhaftige Tier, das von einem Fachmann auf die Bühne geführt wird, herum noch einmal die gewaltigen Fallstricke des neoliberalen Kreativitätsimperativs.
Immer wieder treten zwischen den Beiträgen Milan Peschel, Trystan Pütter und Martin Wuttke auf, jene Weltraumforscher in den roten Strampelanzügen, die einst in Polleschs Volksbühnen-Abschiedsinszenierung zum Ende der Castorf-Ära, Dark Star, in ferne Galaxien entschwebten. Jetzt sorgen sie im zutiefst irdischen Nahkampf mit Mikrofonständern und allen anderen greifbaren Requisiten, die sich zum Slapstick zweckentfremden lassen (und welche täten das bei diesem Trio nicht?) dafür, dass hier bitte auch wirklich kein Pathos aufkommen und den stilechten Pollesch-Sound etwa verwässern möge. Es gelingt ihnen grandios – wie überhaupt die komplette Volksbühnenbelegschaft mit einer unglaublichen Warmherzigkeit den großen Unterschied zwischen Liebe und Sentimentalität demonstriert.
Der Vorhang fällt
Ein zweites Leitmotiv kommt mit dem Protagonisten aus Aufstieg und Fall eines Vorhangs und sein Leben dazwischen ins Spiel: Jenem orangefarbenen Tuch, das sich im Herbst 2021 zur Auftaktinszenierung von Polleschs eigener Volksbühnenintendanz hob und jetzt noch einmal ein ähnlich spektakuläres Eigenleben entwickelt wie in dieser Aufführung – bevor es sich um zweiundzwanzig Uhr dreißig mitteleuropäischer Sommerzeit endgültig senkte.
Dass man die Volksbühne – nachdem diejenigen auf der Bühne und diejenigen im Zuschauerraum sich noch einmal ausdauernd gegenseitig beklatscht haben – nicht bedrückt verlässt, sondern beschwingt, fast zuversichtlich, jedenfalls geradezu heiter, ist ihr großes Verdienst. Wie gesagt: Stilecht eben – bis zum Schluss.
Schmeiß dein Ego weg und feier was du liebst. Für René
war eine Revue mit Texten und Inszenierungszitaten von und für den im Februar 2024 verstorbenen Intendanten, Autor und Regisseur der Volksbühne René Pollesch.
Mit der Belegschaft des Hauses, Künstler*innen und vielen Gästen, ohne Besetzungszettel, weil Namen nichts zur Sache tun, nur der manifeste Gedanke.
- Was mit Polleschs Tod und Volksbühne für eine Lücke entsteht, hat Christine Wahl in ihrem Überblick über die aktuelle Berliner Theaterlandschaft dargelegt.
- Hier lesen Sie den kollektiven Nachruf der nachtkritik-Reaktion zum Tod von René Pollesch.
- Theaterpodcast #66 ist dem Autor gewidmet: Zum Tod von René Pollesch, in Theaterpodcast #40 war Pollesch anlässlich seines Intendanzstarts an der Volksbühne selbst zu Gast
- Der Schauspieler und Ko-Regisseur Fabian Hinrichs berichtet sehr detailiert von der Arbeit mit Pollesch.
Florentina Holzinger und ihre Crew huldigen mit "The Last Supper" aus dem Musical "Jesus Christ Superstar" dem Kapitän René Pollesch. (Video: sle)
Und ein Twitter-Thread:
Berlin, Volksbühne, „Schmeiß Dein Ego weg..,“ Feier für René Pollesch, Auftritt Martin Wuttke pic.twitter.com/3TmlSWzs8G
— nachtkritik.de (@nachtkritik) April 25, 2024
Kritikenrundschau
Ulrich Seidler zeigt sich in der Berliner Zeitung (26.4.2024) von der ganzen Show angefasst: "Jeder im Saal wird zwischen den schönen und so irritierend lebendigen Erinnerungen seinen Trauermoment gefunden haben. Meiner war der mit der Kokosnuss, die Franz Beil unter den Eisernen Vorhang legte. Die Feuerschutzwand senkte sich mit Alarmklingeln, ließ den fliegenden Vorhang verschwinden, traf unerbittlich auf die Nuss und zerdrückte sie, als wäre sie eine Seifenblase. Nur dass es knackte mit einem Geräusch, das einem in den Brustkasten fuhr und tiefer ins Herz, in dem es leise mitknackte."
"Auf der Bühne rollt eine Varieté-Show ab, ein Kessel Buntes, gewiss viel zu lang, aber alle wollen sich vor René verneigen, sich dankbar zeigen, Zusammenhalt demonstrieren“, berichtet Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (26.4.2024). Es war für ihn: "Eine Trauerfeier, vielleicht doch eher eine Trauerparty. Surreales, komisches, ergreifendes Spektakel: Das konnten sie an der Volksbühne schon immer. Und hier war es wie eine Energieausschüttung."
Für die taz (27.4.2024) berichtet Nina Apin: "Einsamkeit im Wohlstand, die Suche nach Liebe in der Konsumgesellschaft, Sätze für die Ewigkeit, die gleich wieder untergingen in den folgenden Textmassen, und kitschig-schöne Popmomente – am Ende eines solchen Abends wankte man mit Summen in den Ohren, aber voller Euphorie aus dem Theater ins Berliner Nachtleben."
"Es hatte Größe und war auf der anderen Seite auch einfach nichts" – mit diesen Worten habe Fabian Hinrichs in seinem Beitrag "eine Ära" zusammengefasst, schreibt Simon Strauss in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (27.4.2024). "Eine Ära, deren prägende Ausdrucksweisen und Figuren man hier noch einmal drei Stunden lang Revue passieren lassen kann (...)." Den bleibenden Satz des Abends hat für den Kritiker Kathrin Angerer gesprochen: "'dass die Liebe das ist, was mich absolut nichts über dich sagen lässt'. In diesem einen 'absolut' steckt der ganze Pollesch. Steckt eine auf immer unfertig bleibende Auffassung von Welt."
"Zärtlich, aber völlig pathosfrei sind die wenigen persönlichen Gesten und Worte an diesem langen Abschiedsabend an der Volksbühne", berichtet Barbara Behrendt auf rbb|24 (26.4.2024). "Darüber hinaus wird ausschließlich Kunst gezeigt, in der man Pollesch so klar begreift wie selten." Kleiner Wehrmutstropfen: "Schade nur, dass nicht noch mehr Menschen im Publikum sitzen, die wie Chialo wenig von Polleschs Kunst kennen. Denn dieser Abend führt exemplarisch vor, wofür sie steht. Etwa das Hinterfragen von Authentizität und Repräsentation auf der Bühne (...)."
Über einen Abend "zwischen Trash, tiefen Gedanken, zwischen Brecht und Popmusik" berichtet Susanne Burkhardt für "Fazit" auf Deutschlandfunk Kultur (25.4.2024) mit schönem Foyer-Lärm im Hintergrund. Es sei eine "absolut" große Abschiedsparty geworden. Den Chor der Werktätigen in "Jeansklamotten" hebt sie besonders hervor. Und für die Zukunft des Hauses wünscht sie sich mit den Worten aus dem jüngsten Alexander-Scheer-Interview, dass der Kultursenator "ins Risiko" gehen möge.
"Der Abend ist unverkennbar ein Versuch, mit dem Schock und der Trauer angesichts des Todes umzugehen. Aber er ist auch stilsicher exakt das Gegenteil sturzbetroffener öffentlicher Trauerrituale, also frei von pathetischer Klebrigkeit und sentimentalen Ergüssen, die Pollesch im Theater so gehasst hat", berichtet Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (27.4.2024).
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Später, während der dreistündigen Revue, kam kurz vor Schluss auch Holzinger mit ihren Matrosinnen auf die Bühne. In ihrer authentischen Art erzählte sie, wie sie Pollesch in einer Bar kennenlernte, er ihr Carte blanche für alle Experimente gab und sogar seinen Sommer-Urlaub 2022 opferte: Aus Sicherheitsgründen musste irgendjemand vom Haus draußen auf der Probebühne in Karlshorst dabei sein, wo Holzinger und ihre Frauen an „Ophelia“ arbeiteten.
Authentisch war ein Wort, das Pollesch hasste, legendär ist sein Spruch von der „authentischen Kuh“. Eine solche leibhaftige Kuh stand schon 2021 in „J´accuse!“ am Schauspielhaus Hamburg auf der Bühne und musste sich von Sophie Rois beschimpfen lassen. Eine Kuh am Strick ihres Bauern und Volksbühnen-Star Rois als Anführerin eines Witwen-Chors (mit den Frauen des Ensembles und vielen Gästen anderer Häuser wie Sachiko Hara und Katrin Wichmann) lieferten sich auch diesmal ein Duell.
Grundprinzip dieser Revue war, dass die Weggefährt*innen von Pollesch Ausschnitte aus gemeinsamen Inszenierungen zeigten: ein Best-of im Bühnenbild des gewaltigen Vorhangs, der dem Intendanz-Start-Projekt seinen Namen gab. Den Auftakt machten Soli von Martin Wuttke und Fabian Hinrichs mit zentralen Passagen aus „Kill your Darlings„. Bei diesen beiden langen Platzhirsch-Auftritten machte sich das Ego der Stars allerdings etwas zu breit.
Wie es an der Volksbühne weitergeht, ist noch unklar. Mit der Revue vom Donnerstag gelang dem Haus ein würdiger, ganz unsentimentaler, heiterer Abschied von einer Ära.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/04/27/schmeiss-dein-ego-weg-und-feier-was-du-liebst-fur-rene-volksbuehne-kritik/
Bei der musikalischen Unterstützung würde ich auf
"Goshawk " tippen.
Und kann auch sehr falsch liegen,aber Leo Neumann hat ja gezupft.
https://volksbuehne.adk.de/praxis/troja/index.html