Sie umarmen das Internet

von Georg Kasch

Berlin, 2. Mai 2013. "Gekünstelte Dialoge. Reglose Gesichter. Ausführliche Rückenansichten von Leuten. Zäh zerdehnte Zeit. Willkommen in der Welt des künstlerisch hochwertigen Kinos, willkommen in einer Welt aus quälender Langeweile und bohrender Pein." So wie hier der Filmemacher Dietrich Brüggemann in seinem Blog unter dem Titel "Fahr zur Hölle, Berliner Schule" gegen den deutschen Film auf der Berlinale 2013 im Allgemeinen (und gegen "Gold" von Thomas Arslan im Besonderen) wetterte, so kennt und liebt man Blogs: subjektiv, pointiert und bissig. Verglichen damit ist die Welt der Theaterblogs ziemlich aufgeräumt. Hier herrscht an vielen Orten noch der gepflegte Ton des Foyergesprächs.

Die Logbücher des weltweiten Netzes

Blogs sind ja eine feine Erfindung. Ihre Einrichtung ist technisch längst ein Kinderspiel, sie kosten nichts (vor allem, wenn man über ein paar Grundkenntnisse verfügt und vom Design keine Wunder erwartet), sind aber immer und von überall aus erreichbar. Wer regelmäßig und schnell seine Gedanken und Texte, Fotos und Videos veröffentlichen und von einer möglichst großen Gruppe von Menschen gelesen werden will, hat dafür alle Voraussetzungen.

Das gilt natürlich auch für diejenigen, die über Theater schreiben. Weil nachtkritik.de immer mal wieder mit einem Blog verwechselt wird, zur Definition: Ein Blog, eigentlich Weblog (eine Kombination aus 'World Wide Web' und 'Logbuch'), bezeichnet eine leicht zu bedienende Art eines CMS (Content-Management-System), oft fertig gehostet als Service im Netz angeboten, der die dort eingestellten Beiträge chronologisch abfallend präsentiert. Nicht von ungefähr erinnert das Prinzip ans Schreiben eines Tagebuchs – Blogger sind in der Regel Einzelkämpfer, die ihre subjektive Perspektive ohne Filter (einer Redaktion zum Beispiel) öffentlich machen. Weitere Merkmale eines Blogs sind die Möglichkeiten, Kommentare zu hinterlassen, Newsfeeds zu abonnieren, aufeinander zu verlinken und zu reagieren, in den Blogrolls aufeinander aufmerksam zu machen, kurz: ein aktiver Teil der Netzöffentlichkeit zu werden.

"Meine Freizeit ist straff durchgeplant"

Theaterblogs lassen sich in Deutschland grob in drei Gruppen einteilen: 1) Theatermacher berichten von ihrer Arbeit und präsentieren sich zugleich als interessante Persönlichkeiten. 2) Theater und Festivals versuchen, auf diese Weise ihr Marketing zu ergänzen – und das teilweise mit einer Nachwuchsförderung verbinden. Und 3) (Hobby-)Kritiker blicken wie ihre Kollegen bei Zeitungen und Magazinen von der anderen Seite auf die künstlerischen Produktionen.

blogrohde 280Tipps und öffentliches Ringen mit ihrem Beruf: Blog der Schauspielerin Silvia RohdeFür alle drei gibt es gute Beispiele. Für die erste Gruppe etwa den Blog der Schauspielerin Silvia Rohde, in dem die Künstlerin mit ihrem Beruf und seinen Herausforderungen öffentlich ringt, nützliche Tipps gibt (gerade etwa, wie Schauspieler ihren Computer für ihre Arbeit fruchtbar machen können) und auf andere Blogs reagiert.

Ein typischer Kritik-Blog ist der von Sascha Krieger. Hier finden sich premierennah Besprechungen von überwiegend Berliner Theaterinszenierungen und -gastspielen, auch von Konzerten und Filmen. Inhaltlich haben die Texte einen eigenen, souveränen, reflektierten Zugriff. Krieger ist zudem einer der wenigen Blogger, die auch von den großen Theatern als Berichterstatter ernstgenommen werden – selbst die Berliner Festspiele, bei denen verschärfte Konditionen gelten, akkreditierten ihn zum vergangenen Theatertreffen (und zitierten seine Texte ausführlich in ihrer Festival-Presseschau). "Ich war selbst überrascht, wie offen die meisten Theater sind", sagt Krieger. "Außer beim Berliner Ensemble habe ich kein Problem damit, zu den Premieren oder der zweiten Vorstellung Presse- oder Steuerkarten zu bekommen." Andererseits greift der Blog tief in sein Leben ein: "Meine Freizeit ist ähnlich straff durchgeplant wie meine beruflichen Termine. Ich muss mir meine Zeit klar einteilen."

Zur Nische verdammt

Für die erweiterte PR soll hier provisorisch der Blog des Berliner Theatertreffens stehen, eine der drei Nachwuchsförderungs-Plattformen des Festivals: Jedes Jahr im Mai experimentieren ein halbes Dutzend junger Leute mit Texten, Fotos, Videos und Zeichnungen mit dem Format, schreiben Live-Ticker, führen Interviews, schreiben Kritiken, immer auf der Suche nach neuen Formaten und Grenzen. Provisorisch, weil der tt-Blog einerseits vom Theatertreffen finanziert wird, also über ein Budget verfügt (etwas, wovon Privatblogger nur träumen können), andererseits eine Gruppe veröffentlicht, die zwar weitgehend unabhängig von den Festivalinteressen agiert, deren Texte, Bilder und Videos aber – anders als in typischen Solo-Blogs – redaktionell bearbeitet werden.

blog tt 280Experimente mit dem Format – und mit Budget: Festivalblog des Berliner TheatertreffensKurz: Der tt-Blog ist technisch und kreativ auf dem neuesten Stand, Rohde ist gut vernetzt, Krieger wirkt in die Szene. Eigenschaften, die für Theaterblogs eigentlich selbstverständlich sein sollten. Allerdings finden sie – wie Theater an sich – in einer kleinen Nische statt: Bereits die Sprache begrenzt die Reichweite im World Wide Web, und dass nur fünf Prozent der Deutschen, Österreicher und Schweizer ins Theater gehen, engt die potentielle Leserschaft zusätzlich ein. Außerdem ist Theater ein lokales Phänomen: Wer eine Inszenierung nicht gesehen hat, kann auch nur bedingt mitreden.

Verglichen mit den weltweit erfolgreichsten Blogs, die – oft auf Englisch – Informationen aus erster Hand oder nützliche Ratschläge bieten, haben deutschsprachige Theaterblogs wenig Zugkraft. Wie machtlos sie sind, demonstriert etwa die Tatsache, dass der Versuch, die miesen Berufsbedingungen von darstellenden Künstlern öffentlich und vergleichbar zu machen, nicht in einem Blog stattfindet, sondern auf einer Fanpage auf Facebook, die mit "Die traurigsten & unverschämtesten Künstler-Gagen & Auditionerlebnisse" überschrieben ist.

Im Abseits?

Theaterblogs werden zu wenig gelesen, zu selten wird auf sie reagiert, wie auch eine (sicher nicht repräsentative) Befragung unter den Kritiker-Bloggern ergab. "Wenn noch nicht mal die Kollegen kommentieren, dann interessiert es wirklich niemanden", sagt Nikola Richter, Lyrikerin, Blog-Expertin und Leiterin des tt-Blogs. "Die Community wird bei uns nicht ausreichend wertgeschätzt." Schließlich sei es eine der großen Chancen des Netzes, ein einmal aufgegriffenes Thema weiterzudenken. Die fehlende Vernetzung der Blogger untereinander – "Warum benutzen sie nicht gemeinsame Hashtags?" – sieht sie als Hauptproblem.

blogbandschubladeschreiber 280Bandschublade – der Blog von nachtkritik.de-Autor Falk SchreiberEine Selbstmarginalisierung mit schwerwiegenden Folgen: Von Richters Vision, dass durch das Zeitungssterben Qualitätsjournalisten ähnlich wie in den USA ins Netz umziehen, es als Plattform nutzen und so eine Aufmerksamkeit generieren, die sich durch daraus resultierende Buchaufträge, Vorträge und längere Magazin-Beiträge refinanziert, ist die Theaterblogger-Szene weit entfernt. Zwar gibt es auch hier Profis, die nebenbei bloggen. Aber sowohl Leopold Lippert als auch Grete Götze, beide ehemalige tt-Blogger, freie Journalisten und heutige Autoren von nachtkritik.de, veröffentlichen auf ihren einstigen Plattformen nicht mehr. Die nachtkritik.de-Autoren Eva Biringer und Falk Schreiber schauen auch auf Themen jenseits des Theaters. In einem seiner jüngsten Einträge zweifelt allerdings auch Schreiber an der Sinnhaftigkeit seines Tuns.

Kein Wunder: Der hohe Zeitaufwand ohne Aussicht auf eine Entlohnung (bei den Klickzahlen lohnen sich weder Werbung noch Bezahldienste wie Flattr), die ermüdende Regelmäßigkeit, mit der man veröffentlichen muss, um einen Blog am Leben zu erhalten, das mangelnde Feedback, der letztlich einzige Liebesbeweis, den man fürs öffentliche Schreiben erhält, sind schwerwiegende Gründe, mit dem Bloggen aufzuhören. Wenn man dann noch nicht einmal weiß, was genau man erzählen beziehungsweise erreichen will, ist das Ende des Blogs programmiert.

Erfolgreich umarmen – Überlebensstrategien

Dagegen gibt es drei Strategien. 1) Ulf Schmidt, Autor und freier Medienberater, bloggt als Postdramatiker zwischen Kulturkritik und Netzanalyse. Er bespielt die sozialen Netzwerke virtuos, bezieht sich auf online erreichbare Texte, verlinkt auf andere Blogs und Medien. Oft hat man den Eindruck, dass es für ihn keinen Unterschied macht, ob er – zum Beispiel auf nachtkritik.de – als Essayist mit Honorar publiziert oder als Kommentator. Er umarmt das Netz weit. 2) Der junge Blog unruheimoberrang.net, für den sich acht Leute Mitte 20 zusammengetan haben, wirkt deshalb äußerst vielversprechend, weil alle Beteiligten gleichberechtigt vor allem über Veranstaltungen der Berliner freien Szene schreiben, die in der Berichterstattung der Printmedien kaum noch vorkommen.

blogunruhe 280Basisdemokratie und Lustprinzip bei "Unruhe im Oberrang"Und weil hier niemand allein im Kämmerchen brütet. "Wir sind ein basisdemokratisches Kollektiv, wo jeder soviel macht, wie er Lust hat", sagt Clemens Melzer, einer der Gründer. Jeden Monat wird eine Liste mit den Produktionen aller kleinen Theater in Berlin erstellt, in die sich jeder eintragen kann. Auch für dieses Projekt gilt das Null-Euro-Budget, deswegen auch der Blog als günstigste Publikationsform: "Erst mal soll der Blog laufen, dann machen wir uns Gedanken darüber, wie er sich auf lange Sicht finanzieren lässt." Bei Null musste das Kollektiv aber nicht starten. Die Gründungsmitglieder Clemens Melzer und Linus Westheuser gehören zur Lyrik-Gruppe g13, die seit 2009 einen Blog betreibt. Wie sich beim Lesen schnell feststellen lässt, bleibt die subjektive Perspektive bestehen, auch wenn es de facto eine Redaktion gibt, die allerdings mit den Autoren identisch ist.

Sammelstellen für Schreiber

3) In den USA haben sich 2009 knapp 100 der hartnäckigsten Blogger zur Independent Theater Bloggers Association zusammengeschlossen. Sie verleihen sogar einen jährlichen Preis, der in zwölf Kategorien vergeben wird. Mittlerweile käme es oft vor, dass Theater – vor allem aus New York und der angrenzenden Ostküste – die Blogger zentral über die Vereinigung einladen würden, die dann um Rückmeldungen bittet und den Premierenbesuch organisiert, erzählt die US-Theaterbloggerin Mildly Bitter. Ihr britischer Kollege Andrew Haydon blickt übrigens auch des Öfteren über den Kanal nach Deutschland, wie z.B. seine "Wastwater"-Kritik aus Köln belegt.

Drei Beispiele, von denen sich viel lernen lässt. Auch in Deutschland gibt es eine Theaterblog-Sammelstelle mit der sinnigen Adresse theaterblogs.de (mittlerweile, 2016, der Theapolis-Blog), die von den Machern von theaterjobs.de betrieben wird und sich in erster Linie an Theatermacher wendet. Ursprünglich war die Plattform dazu gedacht, mit dem Erstellen von Blogs Geld zu verdienen, erzählt Mitbegründer Sören Fenner, der auch selbst bloggt. "Ich lese die Blogs fast täglich", sagt er. "Am besten funktionieren die Insiderinformationen", also besserer Kantinenklatsch, der oft überlebenswichtig ist oder auch eine Ventilfunktion erfüllt. "Da gibt es dann auch die meisten Gespräche." Allerdings glaubt Fenner nicht, dass sich die Szene im Netz trifft. "Das ist was typisch Deutsches: Niemand will seine hochindividualisierte Persönlichkeit aufgeben. Für viele ist es wahnsinnig schwierig, sich zu universalisieren, allenfalls anonym – und das machen sie dann eher als Kommentatoren auf nachtkritik.de."

 

Blogroll

Theatermacherblogs
http://estherbarth.theaterblogs.de/
http://joeknipp.theaterblogs.de/

http://postdramatiker.de/
http://rhode.theaterblogs.de/
http://sektundbrezel.de/


Kritikerblogs
http://anton.theaterblogs.de/
http://blog.theater-nachtgedanken.de/

http://www.capakaum.com/
http://hamburgischedramaturgie2punkt0.wordpress.com/
http://teichelmauke.me/
http://stagescreen.wordpress.com/
http://theater-in-berlin.blogspot.de/
http://theaterkritikenberlin.wordpress.com/

http://viertewand.blogspot.de/


Blogs von nachtkritik.de-AutorInnen
Eva Biringer (Berlin): http://www.milchmaedchenmonolog.de/
Esther Boldt (Frankfurt am Main): http://boldtblog.wordpress.com/
Kai Bremer (Gießen): http://philologyandirony.com/
Falk Schreiber (Hamburg): http://falkschreiber.com/bandschublade/

Blogs von Theatern und anderen Institutionen
http://www.buehnengenossenschaft.de/willkommen-auf-dem-blog-der-gdba
http://buehnenwatch.com/

http://www.theatertreffen-blog.de/

http://theatriumblogger.wordpress.com/

 

 

Noch mehr Blogs in unserer Linkliste.

Der Frage, wie sich das Schreiben über Theater durch das Internet verändert hat, wird nachtkritik.de zusammen mit der Heinrich-Böll-Stiftung und der Bundeszentrale für politische Bildung auch auf der Konferenz "Theater und Netz" am 8./9. Mai 2013 in Berlin nachgehen. Hier geht's zum kompletten Konferenz-Programm.

Alle nachtkritik.de-Beiträge zum Thema Internet und Theater finden Sie gesammelt im Lexikon.

 

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