Wettkampf der Disziplinen

20. März 2024. Seit eingen Jahren ist zu beobachten, wie moderner Zirkus das Spektrum der Darstellenden Künste erweitert. Modellhaft geht hier das Berliner Chamäleon ganz neue Wege, das im vergangenen Jahr den Theaterpreis des Bundes erhielt. 

Von Elena Philipp

Theaterkasse des Berliner Chamäleon in den Hackeschen Höfen © Chamäleon

20. März 2024. Erwächst den Theatern und der Freien Szene von Seiten des Zirkus ein neuer Konkurrent – oder ein neuer Partner? Am Chamäleon Berlin, einem vormaligen Variété, das sich auf Zeitgenössischen Zirkus spezialisiert hat und kürzlich mit dem Theaterpreis des Bundes ausgezeichnet wurde, kann man beobachten, wie sich die Künstler*innen und Institutionen positionieren, um als förderwürdig anerkannt zu werden. Und auch, wie dort, wo dramaturgisch lange Zeit die Nummernfolge Standard war, zunehmend Ästhetiken und Inhalte der Freien Darstellenden Künste Einzug halten. Wandel ist angesagt

Neue Wege in der Programmierung

Mit der Gastspielreihe "Play" ging das Chamäleon 2023 programmatisch neue Wege. Festivals, an benachbarten Produktionshäusern wie den Sophiensaelen oder auch dem etwas weiter entfernten HAU Hebbel am Ufer gängige Veranstaltungsformate, eingewoben in den regulären Spielplan, gab es am Chamäleon bisher nicht. Im traditionellen Zirkus gibt es sie schon gar nicht, obwohl die klassischen (Zelt-)Shows auf dem Eventprinzip geradezu basieren. Das ist eine notwendige Ausrichtung, wenn man sich durch Einnahmen an der Kasse und die Gastronomie finanziert.

Ein aufwändig erarbeitetes Programm aber lief oder läuft stets über eine bis meist mehrere Spielzeiten. Ähnlich wie die Grand Shows am Friedrichstadt Palast, der vom Chamäleon aus ebenfalls fußläufig zu erreichen ist. Dessen sündteure Revuen refinanzieren sich dank einer internationalen Besucher*innenakquise rasch. Aber die ständige Neuproduktion, wie sie an den Stadt- und Staatstheatern oder in der Freien Szene gängig ist und gefördert wird, konnten und können sich Zirkusunternehmen oder Privattheater wie das Chamäleon schlicht nicht leisten.

Ausgezeichnete Visionäre: Intendantin Anke Politz und Geschäftsführer Hendrik Frobel nehmen den Theaterpreis des Bundes 2023 in der Kategorie Privattheater und Gastspielhäuser entgegen © Dorothea Tuch

Mit der Durchsetzung des Zeitgenössischen Zirkus erschließen sich nun auch andere Finanzquellen. Während Corona gab es in den Neustart Kultur-Programmen des Fonds Darstellende Künste für Zirkuskünstler*innen erstmals überhaupt die Möglichkeit, sich auf öffentliche Fördergelder zu bewerben. Am Chamäleon, das wie jedes andere Produktionshaus ohne eigenes Ensemble darauf angewiesen ist, eng mit soloselbständigen Künstler*innen zu kooperieren, die wiederum von den Engagements leben, hatten die Intendantin Anke Politz und ihr Team schon seit 2017 ein Residenzprogramm aufgebaut.

In dessen Rahmen entstand "Raven" des Frauenkollektivs "Still Hungry", das noch immer weltweit tourt. Bitter und komisch sinnieren die drei Artistinnen über die (Un-)Vereinbarkeit von Mutterschaft und Bühnenkarriere. Zeitgleich beschäftigte das Thema auch etliche Stadt- und Staatstheater, an denen mit #MeToo, der Regiequote beim Theatertreffen und den aktivistischen Bemühungen um faire Arbeitsbedingungen Gleichstellungsfragen verstärkt in den Blick geraten sind. Die aktuellesten Beispiele für einen (Bühnen-)Mütter-Trend sind Jacinta Nandis 50 Ways to Leave Your Ehemann in Paderborn oder #Motherfuckinghood von Claude De Demo und Jorinde Dröse am Berliner Ensemble.

"Show Pony": Biographischer Tiefentauchgang

Im Rahmen der Gastspielreihe Play 2024 kam im Februar am Chamäleon auch die neueste Bühnenarbeit von "Still Hungry" mit der britischen Regisseurin Bryony Kimmings zur Uraufführung. "Show Pony" dreht sich erneut um den prekären Status der weiblichen Artistin: Wie ist es, auf offener Bühne zu altern? Wenn die Auftrittsmöglichkeiten schwinden – wie verändert sich dann meine Identität, mein Selbstverständnis als Künstlerin? Wagemutig ließen sich die drei Performerinnen dabei auf eine biographische Arbeitsweise ein wie man sie aus der postdramatisch geprägten Performance kennt.

Kinder, Küche, Zirkus? "Raven" von Still Hungry © Andy Philipson

Romy Seibt erinnert, wie sie als Turmspringerin ihre Kindheit in nassen Badeanzügen verbrachte, um als DDR-Athletin ihren Vater stolz zu machen. Dabei ging ihre innere Stimme verloren: bis sie sich kürzlich wieder meldete und ihr riet, eine lang schon nicht mehr funktionierende Ehe hinter sich zu lassen. Fremdbestimmung, Trauma, Scheidung: Keine guten Inhalte für eine Show, die positiv wirken und sich verkaufen soll. Absolute Tabus für den Zirkus, in dem alles glänzende Oberfläche ist. Oder?

Lena Ries hat sich auf Kontorsion spezialisiert. Während sie sich rücklings in die Brücke biegt, beschreibt sie im Voice-over-Text, wie ihr Körper sexualisiert wird. Ob sie im Bett auch so flexibel sei, werde sie häufig gefragt. Eine Grenzüberschreitung, die vor allem Frauen trifft: Ihren Freund, einen Clown, frage ja auch niemand, ob er beim Sex lustig sei. Anke van Engelshoven, die sich an den Strapaten genannten Seilen mit Griffschlaufen rasend schnell dreht, erzählt von ihrer Depeche Mode-Phase und davon, wie sie die Stimmungsschwankungen in ihrer zerstrittenen Familie mit guter Laune aufzufangen suchte. Eine Fähigkeit, die ihr mit schwierigen Synchronpartnerinnen im Training später zugute kam.

Waghalsige Ermächtigung

"Show Pony" gelingt die Balance zwischen Ernsthaftigkeit und Unterhaltung. Im einen Moment erschrickt man über die Flucht in die bunte Welt des Zirkus, die Romy Seibt antrat. Im nächsten staunt man über ihre Virtuosität, wenn sie am Vertikalseil einen Ausschnitt aus ihrer "Akita"-Nummer zeigt: Als junge Akrobatin inszenierte sie sich wie eine wütende Assassinin und bemächtigte sich ihres eigenen Narrativs. Waghalsig stürzt sie sich ins Seil, blitzschnell sind die Bewegungen – das geht im Alter von 50+ nicht mehr so gut, erklärt sie, weswegen es bei einem Einblick bleibe. Der natürlich immer noch beeindruckend ist, denn die Virtuosität des Trios ist ungebrochen.

ROMY ROPE MattheoBlauAm Seil: Romy Seibt in "Show Pony" © Matteo Blau

An Tiefe gewonnen hat die Performance der drei Frauen durch ihre Lebenserfahrung. Das ist der Vorteil älterer Artist*innen. Wenn man sich nicht mehr ständig beweisen muss, weil man schon alles erreicht hat, kann man im Rückblick heiter auch auf Dunkles, Schweres, Trauriges blicken. Und es künstlerisch transformieren. Mit "Show Pony" gelingt das Anliegen des Chamäleon, den Zirkus aus dem Umfeld des konventionellen, kommerziellen Entertainments zu lösen. Dafür steht Anke Politz, die das Haus mit hohem persönlichem Einsatz und einem engagierten Team immer stärker künstlerisch ausrichtet.

Andere Gepflogenheiten – aus Notwendigkeit

Wurde die Gastspielreihe von der Lotto-Stiftung gefördert, muss sich die hauseigene Langzeit-Produktion eigenständig refinanzieren. "Showdown" heißt die neue Halbjahresproduktion des Chamäleon, eine Kooperation mit der Londoner Zirkustruppe Upswing, die Mitte März ihre offizielle Pressepremiere erlebte. Erneut auffällig, welch andere Gepflogenheit hier im Vergleich mit den Stadt- und Staatstheatern oder den Produktionshäusern herrschen: Drei Wochen lang gab es zuvor bereits öffentliche Vorführungen, in denen das Team anhand der Publikumsreaktionen dramaturgisch nachjustierte und alle Abläufe eingeübt wurden. Erst dann öffnete sich die Show ihrer Begutachtung. Undenkbar im Theater, wo eine Inszenierung nach sechs Woche Probenzeit auf die Bühne kommt, egal, in welchem Zustand sie ist. Als Strategie nachvollziehbar, wenn ein Haus auf die Ticketverkäufe angewiesen ist.

Landeseigene Theater, die ähnliche Besuchszahlen und Einnahmen aufweisen könnten wie das Chamäleon, berichtet der Geschäftsführer Hendrik Frobel, erhielten im Schnitt 17 Millionen Euro öffentliche Förderung pro Jahr. Das Chamäleon bekommt seit neuestem vom Berliner Kultursenat 120.000 Euro jährlich aus einem neuen Topf für Unterhaltungsbühnen. Acht Spielstätten werden hier bedacht – mit der exakt gleichen Summe. Geschlossen hatten sie sich dafür eingesetzt, nicht nach dem vom Kultursenat entworfenen Stufenmodell bedacht zu werden.

"Wir wollen die Ungleichbehandlung nicht, sondern wollen, dass alle Kultureinrichtungen, ob privat oder landeseigen, die gleichen Voraussetzungen haben", spricht sich Hendrik Frobel für Solidarität aus. Und fordert damit auch ein anderes Umverteilungsmodell: Mit seinen Kartenpreisen, die bei 37 Euro erst beginnen, ist das Chamäleon kaum konkurrenzfähig, etwa im Vergleich mit dem um die Ecke gelegenen Deutschen Theater, dessen billigste Plätze dank der staatlichen Gelder nur 5 Euro kosten. Vielleicht könnten die Karten hier ein wenig teurer werden – und Privattheater wie das Chamäleon dafür von einer anteiligen Strukturförderung für Miete, Betriebskosten, Personal profitieren? So schlägt es Hendrik Frobel vor.

Chamaeleon Saal Magenta CLuciaGerhardt uZentral in Berlin-Mitte gelegen und sicher nicht kostengünstig: das Chamäleon Berin © Lucia Gerhardt

In Zeiten knapper Kassen könnte man das als Kampfansage an die Kolleg*innen verstehen. Doch als stark erweist sich der Zusammenhalt der Kulturinstitutionen, die nicht erst seit Corona um den gesamtgesellschaftlich prekären Status ihrer als freiwillige Staatsausgabe geförderten Angebote wissen. Eben erst hätten sie sich von den Sophiensaelen zum Thema Audiodeskription beraten lassen, berichtet Frobel. An der freien Spielstätte gibt es durch das Programm Making a Difference eine große Expertise in den Aesthetics of Access. Auch mit dem Friedrichstadt Palast ist das Chamäleon in Kontakt. Die beiden Häuser verbindet der Hospitality-Ansatz, eine hohe Publikumsorientierung. Denn nur wer an einem Theaterabend eine gute Erfahrung macht, kommt wieder oder empfiehlt einen Veranstaltungsort weiter. Von Konkurrenz keine Spur.

"Showdown": Für Solidarität statt Konkurrenz

Um Zusammenhalt dreht sich auch "Showdown", das die britische Regisseurin Vicki Dela Amedume gemeinsam mit der Comedy-Autorin Athena Kugblenu, dem Grime-Musiker Afrikan Boy und ihrem Ensemble Upswing am Chamäleon produziert hat. Die Stückentwicklung ist inhaltlich und ästhetisch weit konventioneller als "Show Pony": Im Format einer Talentshow präsentieren sieben Zirkuskünstler*innen im Wettkampf ihre Disziplinen, von Akrobatik über Vertikalseil und Cyr Wheel bis zum Schleuderbrett. Wer wird das neue Gesicht des Zirkus?, fragt die Moderation (Nima Séne) immer wieder scheinfröhlich. Mit jeder Runde, jedem Auftrag wird das Ausschlussverfahren ungerechter. Unmut regt sich im Publikum, das zwar angeblich mit farbig nach Kostüm codierten Karten für ihre Artist*innen abstimmen kann, von den launischen Produzent*innen, die sich per Telefon zuschalten, aber stets ausgebootet wird.

Ein Touch Hunger Games – die mit dem Tod der Kombattant*innen endende Gameshow in "Die Tribute von Panem" – war versprochen. "Showdown" bleibt dann eher harmlos als typische Nummernreihung mit loser Rahmenhandlung. Und überrascht doch mit einer deutlichen politischen Botschaft: Lasst Euch nicht alles gefallen. Raf (Rafiq Finch-Shah) wehrt sich – die Produzent*innen hätten nicht zu bestimmen, wann seine Nummer beendet sei. Vor seinen lauten Protest und sein frenetisches Kreisen im Cyr Wheel zieht die Bühnentechnik den roten Samtvorhang; als "technische Störung" lächelt Moderatorin Nima den Aufstand weg. Die Solidarität trägt allerdings auch nach der Pause. Als der letzte Kandidat (Shane Hampden) immer verrücktere Performance-Anforderungen erfüllen muss, treten alle Sieben geschlossen aus dem Wettbewerb zurück und kreieren ihr eigenes großes Finale.

Chamaeleon Showdown 2 CAndyPhillipson uPartnerakrobatik geht nur gemeinsam: Das Upswing-Ensemble in "Showdown" © Candy Phillipson

"Showdown" ist ein Aufruf zum Handlungsmut. Gegen Autokrat*innen, in egal welcher Branche oder Funktion. Politisch korrekte Bekenntnisse wie diese (und das ist, bei aller Schlichtheit der theatralen Erzählung, nicht abwertend gemeint) legt auch der benachbarte Friedrichstadt Palast in seinen Grand Shows gerne ab. Was eine enorme Wirkung hat und ein Risiko bedeutet, denn die auf Umsätze angewiesenen Privattheater positionieren sich damit im Mainstream als strassglitzernde Trutzburgen der Demokratie.

Einstiegskunst für Theaterferne?

Chamäleon-Intendantin Anke Politz bewirbt den Zeitgenössischen Zirkus zudem als "eine gute Einstiegskunst für Menschen, die eher Vorbehalte haben, in ein Theater zu gehen". Die Gäste werden zuvorkommend betreut, das Ambiente mit der Variété-Bestuhlung ist leger. Bürgerlicher Distinktionsgewinn ist hier kein Anliegen. Politz’ Claim, den auch der Bundesverband Zeitgenössischer Zirkus vertritt, in dem sie sich engagiert, positioniert die Zirkusorte dabei als eine Art Vorfeldorganisationen für die Produktionshäuser und Stadt- und Staatstheater: "Wir bringen ein Publikum, das sich öffnen möchte, in Kontakt mit den Darstellenden Künsten." Ist das sozusagen tätige Beihilfe zum Audience Development, einer Dimension ihres Auftrags, den die staatlich geförderten Häuser bis zum Schreckgespenst des "Publikumsschwunds" nicht unbedingt als zentral ansahen?

Ob nun über Gastspielreihen wie Play oder länger laufende Produktionen wie "Showdown" tatsächlich neue Zuschauer*innen ins System der Darstellenden Künste geschleust werden, sei mit Daten (noch) nicht zu belegen, sagt Hendrik Frobel. Interne Besucher*innenumfragen hätten ergeben, dass am Chamäleon in der Tat nicht selten ein Erstkontakt mit Theater stattfindet. Aber die Besucher*innen sind ansonsten eher an Musik und Film interessiert.

Speerspitze einer dynamischen Entwicklung

Die Zahlen, die das Chamäleon seit einem Jahr an das KulturMonitoring Berlins liefert, ließen Rückschlüsse auf Zeitgenössischen Zirkus als "Einstiegskunst" ebenfalls nicht zu: Zum einen gebe es noch keine Langzeitbeobachtung. Zum anderen werde die Frage, ob Zirkus diese versprochene "Einstiegskunst" und damit implizit förderwürdig sei, bei der Datenerhebung gar nicht gestellt.

Vielleicht wäre das eine Untersuchung wert. Immerhin wurde das Chamäleon 2023 mit dem Theaterpreis des Bundes in der Kategorie "Privattheater und Gastspielhäuser" ausgezeichnet, weil es "die Speerspitze einer dynamischen Entwicklung der Darstellenden Künste [bildet], die bestehende Grenzen zwischen Genres, aber auch Betriebsformen überwindet". Hybridisierung ist ein Weg, auf dem Neues entsteht. Welchen Wandel der Zeitgenössische Zirkus also ins Gefüge der Darstellenden Künste tragen wird, bleibt mit Spannung abzuwarten.

 

Show Pony
von still hungry und Bryony Kimmings
Regie: Bryony Kimmings, Musik & Sound Design: Tom Parkinson.
Mit: Lena Ries, Anke van Engelshoven, Romy Seibt.
Premiere am 8. Februar 2024
Dauer: 60 Minuten

Showdown
von Upswing
Regie: Vicki Dela Amedume, Script: Athena Kugblenu, Musik: Afrikan Boy, Bühnenbild: Lulu Tam, Lichtdesign: Hansjörg Schmidt, Sounddesign: Kieran Lucas.
Mit: Jaide Brewer, Rafiq Finch-Shah, Shane Hampden, Francisco Hurtado, Nima Séne, Zebulon Simoneau, Rebecca Solomon, Jimmy Wong.
Premiere am 14. März 2024 (Voraufführungen ab 22. Februar 2024)
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, mit einer Pause

chamaeleonberlin.com

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Kommentare  
Essay Chamäleon: Mehr davon!
Von der neuen "Showdown"-Produktion war ich auch eher enttäuscht. Harmlose Nummernreihung mit plakativer Botschaft trifft es gut.

Um so besser, dass die Autorin ihr Chamäleon-Porträt dann doch mit einer interessanten Empfehlung abrunden kann. Die Beschreibung von "Show Pony" macht neugierig!

Vielen Dank an Nachtkritik, dass Elena Philipp hier als Expertin für Tanz und Zirkus regelmäßig über den Tellerrand des Sprechtheaters hinausblicken darf. Gerne noch mehr davon!
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