Verführungen besonderer Art

26. März 2024. Wenn am Theater oder in der Oper kurzfristig eine Rolle umbesetzt werden muss, ist das Seufzen im Publikum meist groß: Läuft gleich jemand mit dem Textbuch über die Bühne? Wird gar "von der Seite" eingesungen? Dabei erscheint vermeintlich Bekanntes oft in ganz neuem Licht, wenn Text und Handeln auseinanderfallen.

Von Atif Mohammed Nour Hussein

26. März 2024. Eine Person, meist ein Mitglied der Theaterleitung, tritt unmittelbar vor Beginn der Vorstellung vors Publikum und kündigt eine spontane Umbesetzung an. Das Haus will die Vorstellung, mitunter gar die Premiere retten. Soweit bekannt.

Das Fiebern beginnt. Im Saal und auf der Bühne. Wird es gelingen oder wird es der totale Reinfall und lenkt die Ankündigung nicht von der eigentlich erprobten Inszenierung ab? Meistens funktioniert es. Oft fällt gar nicht auf, das da jemand* spontan eingesprungen ist. Professionalität und Talent sei gedankt. Tatsächlich habe ich mich schon ab und zu gefragt, ob es des anfänglichen Hinweises überhaupt bedurft hätte. Sicher es zeugt von Respekt für die Kolleg*innen und das Publikum. Es bleibt aber auch dieses latente, ungute Gefühl: Wozu sieben Wochen proben, zwanzig Vorstellungen spielen, wenn sich dann eine*r die ganze Chose mal eben so aus der Lamäng über Nacht in Kopf und Körper hämmert? 

Von der knappen Rettung zum Ereignis

Es ist kompliziert, denn es gibt Umbesetzung ja auch als Prinzip. Im Musiktheater. Haben Sänger*innen eine bestimmte Partie einmal studiert und damit irgendwo debütiert, reisen sie – je nach "Liga" mit dem Flieger oder der Regionalbahn – von einem Opernhaus zum anderen und werfen sich in wenigen Tagen in Kostüm und Inszenierungskonzept. Das ist so oft monate- oder auch jahrelang genauestens verabredet.

Mitunter aber werden die ungeplanten, die "zu rettenden" Vorstellungen zu bemerkenswerten Ereignissen. Beispielhaft – Berliner*innen erinnern sich vielleicht – der Dramaturg Hermann Beil als "Einspringer" mit Textbuch für den abwesenden Traugott Buhre als "Theatermacher". Donnernder Applaus. Stehende Ovationen. Beil bemerkte danach, er hätte halt das passende Alter gehabt und war verfügbar. Spektakulär auch 2001 Harry Kupfers damalige Regieassistentin Katharina Lang an der Berliner Staatsoper, die als "stumme" Spielerin für die schwer erkrankte Sängerin die Rolle der Senta im Fliegenden Holländer übernahm. Die Herausforderung für die eilends herbeigeflogene Sopranistin Elizabeth Connell sich in nur wenigen Stunden neben der Gesangspartie in Kupfers detailliertes Figurenregiekonzept einzuarbeiten wäre unangemessen hoch gewesen.

Kein bloßer Notbehelf

Das daraus entstehende Zusammenspiel der Beiden war von enormer Aufmerksamkeit und Zugewandtheit geprägt. Obwohl sie nicht einmal denselben Bühnenraum teilten. Elizabeth Connell saß/stand etwas erhöht im Orchestergraben und Katharina Lang mimte, wie einer Choreographie folgend, auf der Hauptbühne. Gleichzeitig atmend, gleichzeitig mit ihren jeweiligen Instrumenten nach dem entsprechenden Ausdruck forschend, erschufen sie erst unbemerkt, dann um so hör- und sichtbarer die vielleicht treffendste Interpretation der Senta – seltener war dieser romantische Erlösungs- und Aufopferungswunsch so verstörend erlebbar. Auch hier war der Jubel des Publikums beim Solovorhang für Katharina Lang überwältigend. Die Idee, dieser Notbehelf möge zu einem verstetigten, quasi metaphysischen Prinzip der Darstellung werden, ist verführerisch … und es lassen sich einige schöne Beispiele für deren Umsetzung finden.

Da wäre "Trommeln auf dem Deich" von Ariane Mnouchkine oder "Das Geheimnis des Alten Waldes" von Christoph Werner nach dem Roman von Dino Buzzati. Beide Inszenierungen leihen sich im Kern das dem japanischen Bunraku entlehnte Spiel mit sogenannten Großpuppen – das wäre ohne unbedingte Nähe, ohne Vertrautheit und Wachheit schlicht nicht möglich – und den scheinbar getrennt agierenden Sprecher*innen.

Der Kritiker Andreas Hillger schrieb über dieses Prinzip anlässlich der Inszenierung von Das Geheimnis des Alten Waldes: "Die Sensation des Abends aber ist das körperlose Wandern der Sprache und die sprachlose Präsenz der Gestalten. Durch die Trennung von Spieler und Sprecher und den virtuosen Tausch dieser Aufgaben wird eine seltsam irrlichternde Balance erreicht, die den impressionistischen Gesamteindruck verstärkt."

Kraft- und Kampfpotenziale

Neben dieser essentiellen Kalkuliertheit gibt es übrigens noch ein Indiz für unbedingtes Zusammenspiel: Intimität. Eine nicht verabredete Berührung, ein verstecktes Lächeln, ein kleiner Schlenker im Text zeigen möglicherweise diese unmittelbare Nähe der Spieler*innen auf der Bühne. Sicher wäre es ungerecht zu behaupten, wären diese Zeichen nicht sichtbar, es gäbe keine Spielvereinbarung, nicht das Bestreben spielerisch verbunden zu sein – aber warum das verbergen?

Sicher, es gibt Stücke und Inszenierungen, die wenig oder gar keinen Raum dafür zu bieten scheinen, die ein anderes Kraft- vielleicht auch Kampfpotenzial brauchen. Doch beschränkt man* das Spiel auf den Kampf der Figuren gegeneinander, lässt nicht eine gewisse Lust erkennen, sich spielerisch bekämpfen zu lassen, um ein paar Szenen später wieder zu triumphieren, dann wird es schnell öde.

Vor einiger Zeit hatte ich den Eindruck, nur der Hund auf der Bühne bemühe sich, seinen zweibeinigen Mitspieler*innen zu beweisen, dass er sie wahrnimmt, dass er mit ihnen zusammen sein will. Der Hund forderte und gab die größte Aufmerksamkeit. Das gipfelte darin, dass ein junger Schauspieler, der nur eine kleine Nebenrolle hatte, etwa vierzig Minuten ununterbrochen mit diesem Hund engstens verbunden war, während seine Kolleg*innen aneinander vorbei agieren mussten.

Wenn wir uns und anderen gegenüber behaupten, dass Theater relevant wäre, dass es die richtigen Fragen stelle, die aktuellen wie die universellen, dass Spiel aber hinter meterhohen Bühnendekorationen und immer wieder auch Videoleinwänden verstecken oder aus anderen, wortreich vorgetragenen Gründen verunmöglichen, dann verliert es doch seinen ewigen, unabdingbaren Kern. (Keine Sorge – mehr Lamento kommt nicht. Ich gebe die Hoffnung nicht auf. Ich gehe sehr gern ins Theater.)

Apropos Umbesetzung als Prinzip: Bei einem Festival habe ich einmal die tschechische Compagnie Buchty a Loutky mit einem Stück über einen einbeinigen Piloten erlebt. Vor jeder Vorstellung wurde ausgewürfelt, wer welche Rolle spielt. Also wirklich, tatsächlich, mit echten Würfeln. Auch so ein verführerisches Konzept …

Kolumne: Atif Mohammed Nour Hussein

Atif Mohammed Nour Hussein

Atif Mohammed Nour Hussein ist Regisseur und Puppenbauer. In seiner Kolumne stöbert er zwischen Verschobenem und Ablagerungen im Überbau.

Kommentar schreiben