Fegefeuer der Euphemismen

von Jan Fischer

Göttingen, 3. Oktober 2014. Die Göttinger Innenstadt ist plakatiert: "Neu" steht da, nur dieses eine Wort, in leicht runder, angeschrägter Schrift, die wie dahingepinselt wirkt, darunter, etwas kleiner, das Logo des Deutschen Theaters Göttingen.

Der neue Intendant Erich Sidler möchte, soviel ist klar, das Deutsche Theater Göttingen verjüngen. Frischer gestalten, spielerischer. Er möchte dem Theater ein Gesicht geben, das der Schauspieler, beispielsweise. Vor dem alten Gebäude hängen sie, übergroß auf Plakate gezogene Gesichter mit Namen darunter, angeleuchtet.

Einstand, Messlatte, Statement

In diesem Kontext ist "Homo Empathicus", Sidlers Einstand als Intendant und Regisseur, selbstverständlich mehr als nur ein Stück: Es ist eine Messlatte, ein programmatisches Statement. Autorin Rebekka Kricheldorf hat es dem kollektiven Körper auf den Leib geschneidert – Sidler lässt das gesamte Göttinger Ensemble auftreten. 

homo empathicus 560a thomasaurin hSchöne grüne Welt – aber auch hier gibt's Eindringlinge. © Thomas Aurin"Homo Empathicus" ist die vierte Uraufführungs-Zusammenarbeit von Autorin und Regisseur. Sie zeigt eine perfekte Welt in knalligem grün. Eine grüne Wand steht auf der Bühne, mit einer Tür, in die ein Herz geschnitzt ist, eine grüne Fläche davor, auf der grünen Fläche ein grüner Sitzsack. Dort tummeln sie sich, die neuen Menschen: Sie trinken nur das Wasser aus den Wasserspendern rechts und links auf der Bühne, sie sprechen nur geschlechtsneutral, sagen Dinge wie "Das ist aber ein nettes und offenherziges Mensch" und "Es gibt hier keine Gewinner und Verlierer. Wir haben alle gewonnen, und zwar Selbsterkenntnis".

Sie tragen weiße, sackartige Dinge, finden: "Geschlecht ist Privatsache", haben grundsätzlich Verständnis für die Position der anderen. Es gibt keine Konflikte, keinen Ärger – wer negative Worte wie "hässlich" benutzt, dem wird über den Mund gefahren. Die utopische Gesellschaft ist zu einer Parodie politischer Korrektheit geronnen, die Menschlichkeit hat sich abgeschliffen im Fegefeuer konfliktfreier Euphemismen.

Die knallgrüne Welt

Das Ensemble – 26 Schauspieler insgesamt – tigern durch die knallgrüne neue Welt und zeigen ein Abbild dieser dystopischen Utopie, einmal quer durch die Gesellschaftsschichten, von Studenten über Klomänner ("Hygienebeauftragter"), von Müttern und Essensverkäufern ("Ernährungsfachmann"), sie arbeiten sich in locker aneinandergesetzten Szenen und Dialogen an dieser Gesellschaft ab. Allen voran Florian Eppinger als Professor, der für die Untersuchung kleiner Freuden zuständig ist, fröhlich seine Studenten mit Lachübungen indoktriniert und die Abtrünnige Dr. Osho als Therapeutin wieder auf Linie bringt. Oder Felicitas Madl, die als Raya über die Bühne tanzt, akrobatisch an sich selbst und der Gesellschaft orgasmierend. Hin und wieder kommt einer vorbei, der sich Schauspieler nennt, und kündigt an, um 18 Uhr gäbe es ein Schauspiel.

Kricheldorf skizziert eine Gesellschaft, in der politische Korrektheit ins sprachliche Extrem getrieben ist. Dass das nicht langweilig wird, ist der Sprachspielfreude der Autorin zu verdanken, die mit ihrer Formulierung "ich freue mich, dass das Mensch nun kleineren Lebewesen als Nahrung dient" selbst den Tod euphemisiert und die den Witz dahinter in immer neue Höhen treibt. Der Text – und das Spiel – funktionieren ganz wunderbar als überaffirmative Parodie auf jene, die mit Hilfe der Sprache als Sprachmacht die Gesellschaft verbessern wollen.

Programmatische Deutung

Erst in den letzten zehn, fünfzehn Minuten deutet Sidler das Stück für sich programmatisch um: Adam und Eva, zwei Menschen wie du und ich, saufend, rauchend, voller bekloppter Liebesprobleme steckend, sie in rotem Kleid und High-Heels, er in Anzug, fallen in das Paradies ein und verwirren die Einwohner. Wie kann einer Gift in sich kippen? Wie kann er seine Männlichkeit betonen? Warum hat er Bilder von Geschlechtsteilen in einer Zeitschrift bei sich? Wieso beißt er ständig in ein totes Tier? Wieso trägt eine Frau diese enge Kleidung? Die utopische Gesellschaft kommt zu dem Schluss, dass die beiden "Wilden" unerwünscht sind, und gerade, als sie getötet werden sollen, tritt der Schauspieler vor und fragt, ob denn allen das Schauspiel gefallen habe. Großes Aufatmen: Doch keine Wilden, sondern Schauspieler. Kunst, so sagt eine der Einwohnerinnen, sei dafür da, das Schlechte zu zeigen, damit man darüber nachdenken und das Gute umso gestärkter genießen könne.

Damit hat Sidler sein Programm für Göttingen formuliert: Ein staatlich sanktionierter Störer soll das Deutsche Theater unter seiner Intendanz sein, ein Ort, der vielleicht die Gesellschaft nicht verändert, aber dann doch Unangenehmes in diesem Schutzraum Theater zu den Menschen trägt, um sie zu stören und zum Nachdenken zu bringen.

 

Homo empathicus
von Rebekka Kricheldorf
Uraufführung
Regie: Erich Sidler, Bühne und Kostüme: Gregor Müller, Musik: Philip Zoubek, Choreographie: Valenti Rocamora i Torà, Video: Philipp Ludwig Stangl, Dramaturgie: Philip Hagmann, Mathias Heid.
Mit: Rebecca Klingenberg, Paul Wenning, Ronny Thalmeyer, Elisabeth Hoppe, Karl Miller, Benjamin Krüger, Lutz Gebhardt, Emre Aksizuǧlu, Rahel Weiss, Benjamin Kempf, Vanessa Czapla, Moritz Schulze, Benedikt Kauff, Bardo Böhlefeld, Florian Eppinger, Marie Seiser, Gaby Dey, Andreas Jeßing, Nikolaus Kühn, Gabriel von Berlepsch, Frederik Schmid, Andrea Strube, Katharine Uhland, Angelika Fornell, Felicitas Madl.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.dt-goettingen.de

 

Mehr zur langjährigen Zusammenarbeit zwischen Rebecca Kricheldorf und Erich Sidler? 2013 hoben sie in Heidelberg gemeinsam Sergeant Superpower rettet Amerika aus der Taufe.


Kritikenrundschau

Über ein "ganz starkes Signal" zum Intendanzauftakt berichtet Bettina Fraschke auf dem Onlineportal der Hessisch/Niedersächsischen Allgemeinen (6.10.2014). Rebekka Kricheldorf habe ein Stück geschrieben, "das präzise und auf den Punkt Strömungen unserer genderkorrekten, achtsamkeitsstrebenden, ernährungsfanatischen Selbstverwirklichungswelt auf die Spitze treibt". Es sei "großartig komponiert, toll geschrieben und hat einen hohen Wiedererkennungswert"; und es werde von Regisseur Erich Sidler zudem überzeugend als "klares Bekenntnis zu seinem Verständnis von Theater als notwendigem Störfaktor in der Gesellschaft" in Szene gesetzt.

Kricheldorfs Text, der "die Gemengelage wunderbar auf die Spitze" treibe, biete Sidler die Folie, seinem Ensemble beim Zusammenwachsen zu helfen, schreibt Peter Krüger-Lenz im Göttinger Tageblatt (6.10.2014). Manchmal erinnerten die Szenen an Schauspielschul-Unterricht. "Viel Ernsthaftigkeit steckt darin, aber auch eine wundervolle Komik."

Von einem "fulminanten Regie-Auftakt des neuen Intendanten Erich Sidler" schreibt Anna Steinbauer in der Süddeutschen Zeitung (22.10.2014), um sich dann vor allem Rebekka Kricheldorfs Stück zu widmen: In den witzigen, treffsicheren Dialogen der "ironisch-bitteren Gesellschaftssatire" werde der ganze Kosmos einer Wohlfühlwelt aufgefächert, "deren faschistische Schönheitsideologie so unterhaltsam wie erschreckend anmutet". Das von Kricheldorf entworfene Szenario sei eine Mischung aus Utopie, Horrorvorstellung und Science Fiction. "Aber auch Realsatire in einer Welt, in der der Sommerhit des Jahres 'Happy' heißt."

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