Wal und Wahnsinn

20. April 2024. Der Mensch im Kampf mit der Natur, das Nichts, das ihn aus den Augen des weißen Wals anglotzt: Am Ende des fossilen Zeitalters schaut Stefan Pucher mit Herman Melville zurück auf eine der ersten groß angelegten Geschichten von der Ausbeutung der Ressource Tier, einen Vorläufer des postmodernen Erzählens.

Von Sabine Leucht

"Moby Dick" nach Herman Melville am Residenztheater in München von Stefan Pucher inszeniert © Birgit Hupfeld

20. April 2024. "Der Palstek wird als Festmacher verwendet. Dazu wird die Leine als Schlaufe über den Poller gelegt..." Mit diesen ersten not so famous words taucht die Inszenierung mitten hinein in das, was an Bord eines Schiffes handwerklich wichtig werden könnte."Die Knotenschule", freundlich eröffnet von Simon Zagermann, dem Max Mayer beispringt: "Wenn man von der falschen Seite in das Auge eintaucht" – Mayer macht ein Malheur-Gesicht – "entsteht kein Knoten."

Wozu man hier eigentlich gebeten ist, fragt man sich nicht nur bei diesem Auftakt, sondern auch später noch ab und an, und damit bleibt Stefan Puchers "Moby Dick" am Residenztheater viel enger an Herman Melvilles Roman als etwa John Hustons Verfilmung von 1956. Die konzentrierte sich auf eine Rache-Geschichte von alttestamentarischer Wucht, in der Gregory Peck als Kapitän Ahab das Format eines maßlosen Shakespeare-Königs hatte.

Expedition ins vorfossile Zeitalter

Pucher dagegen folgt Melvilles Collageprinzip und erweitert es auf die Bildebene. Von der Nautik zur Religion zur Philosophie, vom Fang-, Schlacht- und Zerlegehandwerk auf einem Walfänger des 19. Jahrhunderts über die Mythologie des Leviathan und zurück winden sich die Schlingen, die dieser Abend wirft: vom vorfossilen Zeitalter, in dem das Walfett einer der wichtigsten Rohstoffe und Wirtschaftsfaktoren war und die Empathie mit der Kreatur rar, bis zur ansatzweisen Reflektion dieser frühen und radikalen Form der Naturausbeutung. Und alles daran ist von Melville.

Das Seil, die Leine, das Tau ist auch ein zentrales Element der Bühne von Barbara Ehnes. Seitlich vertäut, halten rote und naturfarbene Leinen große hintereinandergeschichtete Segel, die an den Zügen auf- und abwärts bewegt werden. So wirkt es manchmal, als lümmele das Personal dieser Expedition in die Vorgeschichte des fossilen Zeitalters auf den Segeln herum, dann wieder wölben sich diese wie ein Himmel über ihm.

Gemorphte Mensch-Tier-Wesen: Thomas Lettow, Felicia Chin-Malenski, Nicola Kirsch, Simon Zagermann © Birgit Hupfeld

Und all das erinnert daran, dass die Bühnentechnik ihre Wurzeln im Schiffsbau hat. Und ach, so ist auch dieser Abend gebaut, eins gibt die Erinnerung an etwas anderes, teils anregend, teils nur anstrengend, während die zehn Schauspieler*innen oft frontal ins Publikum sprechen. Meist einzeln, manchmal chorisch, selten singen sie auch. Dabei kommen sie thematisch vom Seil zum Schnürchen, lauter retardierende Momente aneinander knotend. Der Gott Vishnu, das Wetter beim ersten Ausguck, die köstliche Ereignislosigkeit auf See – "der Speiseplan steht für mehr als drei Jahre fest" –, alles für sich interessant, aber spannungstechnisch herrscht Flaute.

Filmcollagen mit KI-Anteil

In seiner ersten Inszenierung fürs Residenztheater – Pucher kennt man in München bislang nur aus den Kammerspielen – ist natürlich auch wieder Chris Kondek dabei. In Film-Collagen mit deutlichem KI-Anteil lässt er Wale in zerstörten Stadtlandschaften oder Hörsälen stranden, überzieht ihre Körper mit Hieroglyphen oder morpht die Gesichter der Schauspieler*innen zu Fischen.

Mensch-Tier-Synthesen gibt es auch auf der Bühne selbst. In einer Tischszene, bei der Vegetariern vermutlich übel wird und am Ende alle weiße Schaumblasen hervorwürgen, werden Fatsuits getragen. Und beim gar nicht so großen Finale, das die Jagd auf Moby Dick nur en passant abhandelt, verschwinden alle Gesichter hinter effektvollen Masken: Halb Wal-, halb Menschenantlitz, nasenlos, mit dem zuvor erwähnten"riesigen Firmament einer Stirn".

Moby Dick 1 Birgit Hupfeld uOhne Holzbein: Barbara Horvath ist Ahab © Birgit Hupfeld

Während der Abend so den Menschen als Teil der Natur ins Bild setzt, geht er vielem anderen ostentativ aus dem Weg. Der Bebilderung der Schlacht und des Arbeitsalltags an Bord, dem berühmten ersten Satz "nennt mich Ismael", den Felicia Chin-Malenski erst ganz am Schluss sagt. Und so, wie Barbara Horvath den Ahab spielt, fast leutselig und hyperreflektiert im Vergleich zum verbissenen Gregory Peck, bleiben auch die Spannungen zwischen den Besatzungsmitgliedern abstrakt. Nicht mal ein Holzbein hat sie, sie spielt es bloß bisweilen, und ansonsten unterscheidet sie sich von den anderen nur dadurch, dass die Röte, die alle um die Augen haben, bei ihr bis in die Haarspitzen gelangt ist. Der Blutdurst, der Gedanke an die Verwandlung "der mächtigsten Masse Leben, welche die Sintflut überlebt hat", in eine "große Masse Tod".

Der Wal und wofür er steht

Es geht Pucher ganz klar nicht darum, von der Seefahrt zu erzählen. Was aus ästhetischer Perspektive schade ist, könnte man gerade mit diesem Bühnenbild doch viel mehr anstellen. Ein einziges Mal blitzt das als Möglichkeit auf. Das war's. Statt zum Material für große Gruppenchoreografien werden die Segel zur Projektionsfläche filmischer Reeanactments, die Hustons sich in die Riemen werfenden Walfänger karikieren. Ihre große Zeit ist Geschichte, der Wal und alles, wofür er hier steht, noch nicht ganz. Und die Unterwerfung der Natur ebenfalls nicht. Dem sinnt dieser Abend hinterher, gnadenlos eklektizistisch, assoziativ, mal launig und mal müde.

 

Moby Dick
nach dem gleichnamigen Roman von Herman Melville
Aus dem Amerikanischen von Matthias Jendis
Für die Bühne bearbeitet von Malte Ubenauf, Stefan Pucher und Ewald Palmetshofer
Inszenierung: Stefan Pucher, Bühne: Barbara Ehnes, Kostüme: Annabelle Witt, Musik: Christopher Uhe, Licht: Gerrit Jurda, Video: Chris Kondek, Dramaturgie: Ewald Palmetshofer.
Mit: Barbara Horvath, Patrick Bimazubute, Simon Zagermann, Linda Blümchen, Felicia Chin-Malenski, Michael Goldberg, Nicola Kirsch, Thomas Lettow, Florian von Manteuffel, Max Mayer.
Premiere am 19. April 2024
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.residenztheater.de

Kritikenrundschau

Ähnlich wie im Falle vieler anderer Romanadaptionen werde auch aus "Moby Dick" am Münchner Residenztheater "kein großer Theaterabend", sondern "nur ein groß angelegter", berichtet Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (21.4.24). Einen "Schauwert" könne man der Inszenierung zwar "nicht absprechen, ebenso wenig das Label 'ehrenwert'". Nur habe die "ziemlich spektakuläre Bühne" von Barbara Ehnes den Nachteil, dass sie "der Hauptakteur und an sich schon der Höhepunkt des Abends" sei. Die Inszenierung wirke "erstaunlich textlastig", die Geschichte werde "wenig erspielt". Man wolle "möglichst alle Exkurse streifen", verliere dabei „"mmer wieder den Wind aus den Segeln" und vernachlässige "die dialogische und dramatische Zuspitzung".

"Das grandiose und sehr wandelbar mit Takelage und wogenden Segeln eindrucksvoll Schifffahrt alter Schule assoziierende Bühnenbild von Barbara Ehnes ist Schauplatz vieler und oft langer Monologe", so Mathias Hejny in der Abendzeitung (22.4.2024). Allerdings gehe diese Revue szenischer Literaturrezitationen auf Kosten der Spannung. "Die Tragödie über den Wahn des Walfängers bleibt zwar nur ein Grundrauschen, aber das Menetekel vom Ende einer Menschheit, die sich nicht als Teil der Natur begreift, ist deutlich lesbar."

"Dass es auf hohe See geht, dass es dort keinen festen Grund mehr gibt – auch für die eigenen Überzeugungen nicht, das macht die Inszenierung sinnlich erfahrbar", schreibt  Richard Mayr in der Augsburger Allgemeinen (22.4.2024). Pucher erzeuge "Momente, die lange hängen bleiben, etwa wenn ein Walfänger erzählt, wie ergreifend, ja wie schön es war, von einer ganzen Walschule umgeben zu sein". Trotzdem bleibe der Abend "eher eine Angelegenheit für den Kopf als für den Bauch", wirkten die Figuren wie Gestalten aus einer untergegangen Zeit, dem fernen 19. Jahrhundert, als der Walfang noch mit Segelbooten betrieben wurde.

 

Kommentar schreiben