Whenever, Whatever

21. April 2024. Kann man dem berühmtesten Liebespaar der westlichen Kulturgeschichte noch neue Aspekte abgewinnen? Jan Friedrich macht aus William Shakespeares Drama eine Art Beziehungsratgeber als Pop-Revue vor Parklandschaft.

Von Leopold Lippert

"Romeo und Julia …oder Szenen der modernen Liebe" in Mainz © Andreas Etter

21. April 2024. Für so etwas Universelles wie die Liebe kann man schon mal die große Bühne freiräumen. Am Staatstheater Mainz ist dort ein opulentes Belle-Époque-Interieur aufgebaut, samt impressionistischer Parklandschaft im Hintergrund (Bühne: Louisa Robin). Aus dieser Parklandschaft scheinen auch die gemäldeartig kostümierten Romeos und Julias (jeweils fünf, manchmal cross-gender besetzt) herausspaziert zu sein, die sich in Jan Friedrichs Inszenierung "Romeo und Julia … oder Szenen der modernen Liebe" an den wahrlich nicht einfachen Versuch machen, dem Klassiker noch etwas Neues abzutrotzen.

Nummernrevue der romantischen Liebe

Die Inszenierung verspricht "sehr frei nach William Shakespeare" zu sein, und das ist sie trotz der vielen Originalzitate (in der Übersetzung von Frank Günther) auch: insofern nämlich, als Friedrich aus dem Stück eigentlich nur das Thema der romantischen Liebe aufgreift und alles andere (die Fehde der patriarchalen Familienclans, das Erwachsenwerden in diesen toxischen Strukturen, die Morde und tragischen Suizide) beiseite schiebt.

Klavier-Liebe: Carl Grübel, Maike Elena Schmidt © Andreas Etter

Aber eine philologische Auseinandersetzung mit dem Barden wird das ohnehin nicht: eher eine verschmitzte Nummernrevue mit einer Setlist der Jahrtausendwende, die mit zauberhaft verspielten Live-Klavier- und Chorversionen von HIMs "Join me (in Death)" oder Atomic Kittens "Whole Again" aufwartet (Carl Grübels Romeo und Maike Elena Schmidts Julia wechseln einander am Flügel ab).

Finde deine Liebesliga!

Und natürlich Shakira: Leandra Enders gibt eine sehr inbrünstige Latina-Jodel-Julia ("Whenever, Whatever") und fragt dann (zurecht!): "Kann es sein, dass diese hotte geile Shakira-Nummer schon die Balkonszene war?" Zwischen den Songs werden in mal kürzeren, mal längeren Reflexionen die unterschiedlichen Sprachen und Register der Liebe durchdekliniert, von Speed Dating zu Talkshow-Seelenstriptease, von Therapie zu Pop-Psychologie, von den "red flags" zu frühkindlichen Beziehungsmustern, von Kitsch und Kalendersprüchen zu einem sehr profanen Vier-Kategorien-Schema (angeblich von Andy Warhol entwickelt), um die eigene "Liebesliga" zu finden.

Zu all dem Gerede über Intimität, Beziehungen und (Selbst-)Betrug liefert die Live-Kamera (Juliana Foissner) die Close-ups, und zwischendurch irritiert die sehr bildhafte Originalsprache Shakespeares, die sich aber irgendwie doch problemlos in das Sammelsurium der verschiedenen "love languages" einfügt. Und ein bisschen ironisch dekonstruiert wird der Stücktext dann eh auch, was hauptsächlich zulasten der armen Rosalinde geht ("Was ja viele nicht wissen … Ganz am Anfang, da meint er immer die Rosalinde!").

Wer nascht, kriegt Durchfall!

Dem Unterhaltungsanspruch der Revue folgend, ist das nie wirklich tiefgründig, aber immer charmant und oft umwerfend komisch, was auch daran liegt, dass die Schauspieler*innen sich die Spiel- und Sing- und Tanzfreuden des Genres sehr schnell zu eigen machen. Auch wenn nicht wirklich klar wird, warum nun gerade die Belle Époque und die Hitparade der späten 1990er als Referenzrahmen für eine "Romeo und Julia"-Bearbeitung herhalten müssen, freut man sich trotzdem einfach über die Kostümfarbenpracht und kichert bei beflissenen Muttersprüchen wie "Aber eins sag ich dir: Wer nascht, kriegt Durchfall!" oder der sehr direkten Eröffnung des Speed-Dating Gesprächs ("Was sind deine Hobbies?" – "Sex und Sauna!").

Triptychon der romantischen Liebe: Johannes Schmidt, Daniel Mutlu, Iris Atzwanger, Sasou van Oordt, Tamara Kurti, Leandra Enders, Ruth Müller © Andreas Etter

Und während die meisten "Romeo und Julia"-Inszenierungen die ambitionierte Zeitvorgabe des Prologs ("two hours' traffic of our stage") ja eher sprengen, ist Friedrich so eine knackig-süße 100-Minuten-Musikrevue gelungen, an der man problemlos naschen kann, ohne Durchfall zu kriegen.

 

Romeo und Julia …oder Szenen der modernen Liebe
Sehr frei nach William Shakespeare
In einer Fassung von Jan Friedrich unter Verwendung der Übersetzung von Frank Günther
Inszenierung und Kostüme: Jan Friedrich, Bühne: Louisa Robin, Musik: Pablo Lavall, Licht: Stefan Bauer, Live-Kamera: Juliana Foissner, Dramaturgie: Rebecca Reuter, Theatervermittlung: Catharina Lecerf.
Mit: Iris Atzwanger, Leandra Enders, Carl Grübel, Tamara Kurti, Ruth Müller, Daniel Mutlu, Georg Schießl, David Jakob Schläger, Johannes Schmidt, Maike Elena Schmidt, Sasou Yolanda van Oordt.
Premiere am 20. April 2024.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-mainz.com

 

Kritikenrundschau

"Sehr bunt, sehr poppig und mit viel Musik" sei Jan Friedrichs von Shakespeare inspirierte Revue der modernen Liebe gestaltet, die Matthias Bischoff von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (21.4.2024) gut unterhalten hat. Und der, wenngleich allzu assoziativ gebaut, wichtige Fragen stelle: Wieso wurde die kurze Leidenschaft zweier Teenager, die bald der Tod ereilt, zum abendländischen Inbegriff der wahren Liebe? Gegen diesen Mythos redeten und sängen die Paare auf der Bühne anderthalb Stunden lang an. Seufze einer von der großen Liebe, lasse eine andere diese Illusion zerplatzen: "Hier wird nicht nur 'Romeo und Julia', sondern das gesamte Liebeskonzept der Modere dekons­truiert", so Bischoff. Das sei nicht "durchweg komplex", aber es gelinge, "die vielen Widersprüche und verzweifelten Fragen unserer Gegenwart ohne grässliche Theorie-Schwere abzuhandeln". Zum Unterhaltungswert trügen das "hinreißende wie sinnfreie Bühnenbild" und die Kostüme bei – "ein impressionistisches Gesamtkunstwerk".

Jan Friedrichs R&J-Version "kommt gutgelaunt rüber, ist fein organisiert und perfekt einstudiert", schreibt Marcus Hladek in der Frankfurter Rundschau (21.4.2024). Nur manchmal werde es zwiespältig, "etwa wenn die sächselnde Mittel-Julia die Balkonszene molto a secco angeht: ein ironisches Düpieren der Standards". Bühnenbildnerin Louisa Robin verfüge das Ensemble in ein luftig-verglastes Vogelhaus mit Innenbalkon – vielleicht auch: einen Gartenpavillon von käfigartigem Aufbau – und zitiere mit dem gemalten Garten samt blauer Brücke Monets Gemälde. Auch die Kostüme datierten um rund 1880, was den Kritiker an die Impressionisten, die Weltausstellung und ihren Crystal Palace, an Revuen, Cabarets und Cafés-parlants erinnert. "Es wird gespielt, erzählt und musiziert" – soulig, jazzig, poppig, auch mal barock. Und "die Fülle der elf Romeos und Julias" verwirre nicht, weil es, neben der Sopranistin Sasou von Oordt, im Kern drei Paare gebe, von denen Maike Elena Schmidt als junger Romeo und Carl Grübel als junge Julia für Hladek "herausragen".

 

 

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