Bei den netten Antifaschisten

21. April 2024. Was ist mit dem historischen Erbe des 20. Jahrhunderts? Warum wählen die Leute jetzt wieder radikal rechts? Wie ist die Demokratie zu verteidigen? Fragen, die auch am Auftaktwochenende des F.I.N.D.-Festivals im Raum stehen. Die klug kuratierte Auswahl lenkt den Blick dabei auf die Leerstellen der Ideologien; dorthin, wo das Leben stattfindet.

Von Esther Slevogt

Tiago Rodrigues' "Catarina e a beleza de matar fascistas" beim FIND-Festival an der Schaubühne © Joseph Banderet

21. April 2024. Die freundlichen Antifaschisten haben ein ebenso traditionsreiches wie liebgewonnenes Ritual: Einmal im Jahr kommen sie zusammen, feiern sich und die Tatsache, dass sie auf der richtigen Seite stehen. Dazu gibt's köstliche Schweinsfüße nach Mutters Rezept. Höhepunkt der Zusammenkunft ist jedes Mal die Erschießung eines Faschisten, der zuvor eigens zu diesem Zweck entführt worden ist. Doch die Zeiten ändern sich. Nicht nur, dass eine junge Frau nun als Veganerin sich den Schweinsfüßen entziehen will. Eine andere stellt gar die Erschießung in Frage: möchte den Mord an dem Faschisten nicht begehen.

So hat es sich der portugiesische Theatermacher Tiago Rodrigues ausgedacht in seinem Stück "Catarina e a Beleza de matar Fascistas / Catarina oder von der Schönheit, Faschisten zu töten". Der entführte Faschist wird also nicht getötet. Kaum gerettet jedoch, hebt er zu einer Suada an, erfüllt von Dingen, die Faschisten eben so wollen: Migranten deportieren oder die Demokratie abschaffen zu Beispiel. Er redet und redet, zehn, fünfzehn Minuten lang – und das Theaterpublikum fängt bald an zu murren, zu rebellieren. Hat es vergessen, dass dies nur ein Theaterstück ist? Oder will es damit zum Ausdruck bringen, auf der richtigen Seite zu stehen? Türschlagend verlassen einige sogar den Saal, andere versuchen, den Redner auf der Bühne niederzuschreien. Nichts davon ist einstudiert. So ereignet es sich fast jedes Mal: seit das Stück 2020 uraufgeführt wurde.

Von der Ideologie heruntergekühlte Herzen

Hätte man den Faschisten also doch lieber erschießen sollen? Wie kann sich die Demokratie gegen ihre Feinde wehren? Sind die, die da jährlich so feierlich ihre Haltung mit einem Mord krönen, überhaupt Demokraten? Ist die Verteidigung der Demokratie bei diesen sogenannten Antifaschisten also in den richtigen Händen? Bei diesen so inbrünstig wie traditionsselig ihre Schweinsfüße vertilgenden Leuten samt ihrer von der Ideologie unter den Gefrierpunkt heruntergekühlten Herzen?

Fragen, die diese fast vier Jahre alte Inszenierung nun beim F.I.N.D.-Festival an der Berliner Schaubühne stellte. Zusammen mit zwei anderen Produktionen in portugiesischer Sprache wird damit unter anderem das 50. Jubiläum der portugiesischen Nelkenrevolution gewürdigt. Im April 1974 ging damals eine der letzten faschistischen Diktaturen in Europa unter – in jenen 1970er Jahren, als überall die Demokratie sich durchsetzen konnte, in Spanien Franco starb, in Griechenland die Junta gestürzt wurde. Jetzt kehren überall in Europa radikale Rechte zurück.

Was also ist mit dem historischen Erbe des 20. Jahrhunderts? Des Faschismus und auch des Kampfes gegen ihn? Warum wählen die Leute jetzt überhaupt wieder radikal rechts? Fragen, die das Festival im Rahmenprogramm stellt. Ein Panel zum Thema "Faschismus in Europa" jedoch, wo Naika Foroutan, Professorin am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung, der Potsdamer Historiker Dominik Rigoll und eben Tiago Rodrigues diskutieren, kam hier nicht wirklich zu Antworten. Letztlich blieben die Expert*innen aus der Wissenschaft tief in dem Denken stecken, dass Nazis und Faschisten immer die anderen sind: Fehlgeleitete und Manipulierte meist, deren Meinung ohnehin keine Rolle spielt und denen man selbstredend weit überlegen ist. Aber genau von dieser Arroganz profitiert eben die Rechte. Welche Rolle das Theater in der gegenwärtigen Gemengelage spielen könnte, wurde Tiago Rodrigues einmal gefragt. "Keine. Es soll einfach da sein", war die ebenso sympathische wie in diesen durchideologisierten Zeiten auch ausgesprochen wohltuende Antwort.

FIND Il Capitale LucaDelPia uBeim Praxistest der marxistischen Theorie: "Il Capitale – un libro che ancora non abbiamo letto" vom Kollektiv Kepler-452 beim F.I.N.D.-Festival © Luca Del Pia

Die Versuchsanordnung seines Stücks führt ja bereits eindringlich genug vor, dass die alten Antagonismen des politischen Denkens untauglich geworden sind, falls sie überhaupt je tauglich waren. Die letztlich auf Karl Marx zurückgehende Fortschrittsdialektik des historischen Materialismus etwa, wonach es in progressiven Schritten immer weiter vorwärts geht und das Richtige am Ende gegen das Falsche sich durchsetzen wird. Eine Dialektik, die besonders linkes Denken noch immer stark formatiert.

Und so ist das Gastspiel der Rodrigues-Inszenierung an der Berliner Schaubühne ein Signaturstück der diesjährigen F.I.N.D.–Ausgabe. Denn die klug kuratierte Auswahl wirft einen Blick in Spalten, Lücken und Leerstellen der Ideologien, dorthin, wo zwischen politischen Theorien und ideologischen Fronten das Leben stattfindet. In das ehemalige GKN-Werk in Florenz zum Beispiel, einst Zulieferbetrieb für die italienische Automobilindustrie. Bis der Belegschaft am 9. Juni 2021 per E-Mail die sofortige Schließung und der augenblickliche Verlust ihrer Arbeitsplätze mitgeteilt wurde. Daraufhin besetzte sie das Werk, und die Besetzung dauert bis heute an.

Das Buch, das vielleicht keiner lesen muss

In diesem Setting hat das italienische Kollektiv Kepler-452 seinen Versuch angesiedelt, eine Auseinandersetzung mit dem Hauptwerk von Karl Marx‘ "Das Kapital" zu inszenieren. Das Stück schildert episodisch und meist monologisch, wie die Theatermacher ins besetzte Werk einziehen, langsam mit einzelnen Protagonisten dort in Kontakt kommen und einige zur Mitwirkung gewinnen können. Die theoretischen Vorstellungen zu Marx und auch die Prämissen ihrer eigenen Theaterarbeit lösen sich in diesem Prozess in Luft auf. Stattdessen entsteht ein kaleidoskopartiges Bild, in dem nicht nur einzelne Mitglieder der Belegschaft ihre Beziehung zum Werk und zu ihrem Beruf schildern, sondern auch die Theaterleute selbst mit ihrer blasenhaften Sicht auf die Welt zu hadern beginnen.

Dazwischen immer wieder Sätze aus dem "Kapital" von Marx, dem Buch, das eigentlich keiner gelesen hat und vielleicht auch keiner lesen muss. Denn es erklärt zwar, wie der Kapitalismus funktioniert, ändert aber nichts daran. Die Veränderung entsteht in diesem Stück vor allem im zwischenmenschlichen Prozess von Begegnung und Auseinandersetzung, in der Selbstermächtigung, mit der die Zerstörung der Fabrik durch das Kapital von denkenden, fühlenden und miteinander kommunizierenden Individuen verhindert sowie ihre Konversion in einen Betrieb vorangetrieben wird, der kein Autozubehör, sondern Lastenräder und Photovoltaikmodule produziert.

FIND Pendulo EstelleValente uErgreifende Gegenwelten: "Pêndulo / Pendel" von Marco Martins und dem Arena Ensemble beim F.I.N.D.-Festival © Estelle Valente

In den Aufenthaltsraum für die Putzkolonne eines Supermarkts in Lissabon führt das Stück "Pêndulo / Pendel" von Marco Martins und dem Arena Ensemble. Martins realisiert in Lissabon Filme und Theaterprojekte mit Menschen, die keine ausgebildeten Schauspieler*innen sind. Hier sind es jetzt sieben Frauen von der sogenannten gesellschaftlichen Peripherie. Die meisten von ihnen sind als Arbeitsmigrantinnen aus der einstigen portugiesischen Kolonie Brasilien nach Lissabon gekommen. Hier erzählen sie von ihrem Leben, ihren aufreibenden Jobs im Care-Sektor, von Rassismus, Ausbeutung und dem, was sie sich vom Leben wünschen.

Schon ziemlich schnell reißt der realistische Rahmen auf. Die Szenen weiten sich ins Traum-, manchmal Albtraumhafte. Erzählungen, die auf die Spuren des portugiesischen Kolonialismus in diesen Leben verweisen, auf verbotene Tänze und Gedanken. Im Hintergrund rumort der Supermarkt, hier produzieren die sieben Frauen Elane Galacho, Emanuelle Bezerra, Fabi Lima, Juliana Teodoro Alves, Maria Gustavo, Maria YaYa Rodrigues Correia und Nádia Fabrici mit ihren Geschichten intensive und ergreifende Gegenwelten, in denen eben nichts größer und schöner erscheint als der Mensch und das Leben an sich. Against all odds & ideologies sozusagen.

Theater als Erkenntnisinstrument

Womit man bei dem britischen Dramatiker und Regisseur Alexander Zeldin angekommen wäre, dessen Arbeit ein weiterer Schwerpunkt des Festivals ist und dem es in seinen hyperrealistischen Inszenierungen um nichts Geringeres als die Abbildung des Lebens selber gehen soll. So sagt er es in Interviews immer wieder. Mit Zeldins Inszenierung "Confessions" (2023 bei den Wiener Festwochen herausgekommen) hat das F.I.N.D.-Festival eröffnet: Die Geschichte einer Frau, die in den 1940er Jahren des 20. Jahrhunderts geboren wurde, ist auch die Geschichte von Zeldins Mutter.

"Die Art, wie Schauspieler:innen sich hier den dargestellten Menschen anverwandeln, hat man in dieser Ernsthaftigkeit schon lange nicht gesehen", schieb Gabi Hift in ihrer Nachtkritik zur Wiener Premiere – und besser kann ich es eigetlich auch nicht sagen. "Es wirkt altmodisch, obwohl schwer zu sagen ist, wann so eine Spielweise, oder fast eher: Seinsweise, je in Mode gewesen wäre. Andererseits wirkt es wie die Wiederkehr des Glaubens an die einfache, geradlinige Kraft des Theaters als Erkenntnisinstrument."

Das lässt sich in gewisser Weise auch für das Eröffnungswochenende des Festivals sagen, das einen mitnahm in Welten jenseits des gerade so aktuellen Konzept- und Ideologietheaters. Ein Genuss für Kopf und Seele.


Catarina e a Beleza de matar Fascistas

von Tiago Rodrigues

Regie: Tiago Rodrigues, Bühne: F. Ribeiro, Kostüme: José António Tenente, Licht: Nuno Meira, Ton: Pedro Costa.

Mit: Isabel Abreu, Romeu Costa, António Fonseca, Beatriz Maia, Marco Mendonça, Carolina Passos Sousa, João Pedro Vaz, João Vicente.
Premiere bei den Wiener Festwochen am 23. Juni 2021
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause

Il Capitale – un libro che ancora non abbiamo letto
von Kepler-452
Regie: Kepler-452/Enrico Baraldi & Nicola Borghesi, Licht und Bühne: Vincent Longuemare, Ton: Alberto Bebo Guidetti, Videodokumentation: Chiara Caliò, Regieassistenz: Roberta Gabriele, Technik: Andrea Bovaia, Licht- und Videotechnik: Giuseppe Tomasi, Tontechnik: Francesco Vacca
MIT: Nicola Borghesi, Tiziana De Biasio, Francesco Iorio, Dario Salvetti, Mario Berardo Iacobelli – Arbeiter_innen-kollektiv der GKN
Gastspiel F.I.N.D. 2024

Pêndulo
von Marco Martins und Arena Ensemble
Regie: Marco Martins
Musik: Tia Maria Produções, Choreografie: Vânia Rovisco,
Bühnenbild: fala atelier, Licht: Nuno Meira, Sounddesign und Tontechnik: Vítor Santos, Produktionsleitung: Flávio Catelli.
Mit: Elane Galacho, Emanuelle Bezerra, Fabi Lima, Juliana Teodoro Alves, Maria Gustavo, Maria YaYa Rodrigues Correia, Nádia Fabrici.
Gastspiel F.I.N.D. 2024

The Confessions
von Alexander Zeldin
Regie: Alexander Zeldin, Bühne, Kostüme: Marg Horwell Bewegungsregie, Choreografie: Imogen Knight, mit Musik von: Yannis Philippakis, Sounddesign: Josh Anio Grigg, Casting: Jacob Sparrow, Regieassistenz: Joanna Pidcock, Unterstützung Dramaturgie: Sasha Milavic Davies, Stimmcoach: Cathleen McCarron, Produktionsleitung: Faye Merralls.
Mit: Amelda Brown, Jerry Killick, Lilit Lesser, Brian Lipson, Hannah Morrish, Pamela Rabe, Gabrielle Scawthorn, Jacob Warner, Yasser Zadeh.
Produktion A Zeldin Company / Compagnie A Zeldin
Dauer: 2 Stunden
Gastspiel F.I.N.D. 2024

www.schaubuehne.de

Hier die Nachtkritik zu "My Little Antarctica"Nachtkritik zu "My Little Antarctica" von Tatiana Frolova und dem KnAM Theater über den intellektuellen Kältetod Russlands beim F.I.N.D.-Festial

 

Kritikenrundschau

"Das FIND-Programm liest sich, als wäre nach politischer Relevanz gesichtet worden: Klassenkampf, Kapitalismuskritik, soziale Gerechtigkeit, Emanzipation", bemerkt Barbara Behrendt im rbb (19.4.24). Den Menschen, oft Laien, die von ihren Kämpfen berichteten, flögen die Herzen und gereckten Fäuste aus dem Publikum nur so zu. Allerdings könne der politische Impetus "auch enttäuschen, wenn sich die angekündigte Karl-Marx-trifft-streikende-Fabrikarbeiter-Konfrontation 'Il Capitale' aus Italien als schlichte Bühnen-Reportage der Streikenden entpuppt". Der Brite Alexander Zeldin schaffe da die Synthese und mache aus dem Abend "The Confessions" über seine Mutter eine Erzählung über den alltäglichen Sexismus der 1950er bis 1980er Jahre. "An der Welt mag man momentan verzweifeln", lautet das Fazit der Kritikerin – "das internationale Theater führt beim FIND die Alternative vor: Solidarität, Hoffnung und Empathie."

Kommentare  
FIND-Eröffnung, Berlin: Klares Profil
Ein sehr klares Profil hatte das Eröffnungswochenende des FIND-Festivals: mit Laien erarbeitetes Dokumentartheater über prekäre Arbeitsbedingungen und Ausgrenzungserfahrungen an den Rändern der Gesellschaft prägte den Auftakt.

Aus Bologna kam Il Capitale – un libro che ancora non abbiamo letto. Ästhetisch ist dieser knapp anderthalbstündige Abend minimalistisches, ganz klassisches Dokumentartheater: Monolog reiht sich an Monolog und klärt über den Alltag in der Fabrik auf. Tiziana De Biasio, Francesco Iorio, Dario Salvetti, Mario Berardo Iacobelli vom Arbeiter_innen-kollektiv der GKN erzählen von ihren Erfahrungen, das Kepler-Duo vertritt Nicola Borghesi.

Besonders bandwurmartige Satzkonstrukte von Marx werden kurz eingeblendet, ein Arbeiter sagt achselzuckend, dass er mit diesen Theorien nichts anfangen könne. Dementsprechend bewegt sich der Abend ganz handfest in der Praxis. Fazit eines Kollektivisten war, dass er die selbstbestimmtere, nicht entfremdete Arbeit genieße, aber die ständigen Voll-Versammlungen auch sehr anstrengend seien. Wirklich neue Erkenntnisse brachte dieser Bericht italienischer Aktivisten also nicht, das Berliner Publikum unterstützte ihre Tatkraft im Globe dennoch mit langem Applaus.

Nebenan im Studio gastierte Marco Martins mit Pêndulo, das er mit sieben Frauen aus der Peripherie von Lissabon erarbeitete. Altersmäßig ist die Gruppe bunt gemischt. Sie eint: auch sie sind keine ausgebildeten Schauspielerinnen, sondern erzählen von ihrem Alltag als Putzfrauen, Pflegerinnen oder Hausangestellte. Außerdem haben sie gemeinsam, dass sie aus ehemaligen Kolonien Portugals stammen.

Im realistischen Setting eines Pausenraums für die Reinigungskräfte eines Supermarkts unterhalten sich die Frauen, bis abwechselnd eine ins Zentrum tritt und ihre leidvollen Erfahrungen schildert. Auch dies als Frontaltheater, knapp zwei Stunden entfaltet sich eine Kette von Monologen über Rassismus, Ausbeutung, Krankheit und Sterben, die vor allem in der zweiten Hälfte etwas zu dick aufgetragen auf die Tränendrüsen zielt.

Gebrochen wird das Doku-Theater durch zwei Kniffe: Vânia Rovisco hat mit den Frauen mehrere Tanzeinlagen einstudiert, die oft spirituellen Hintergrund haben und den christlichen Gott oder animistische Gottheiten anrufen. Ebenso unvermittelt treten mehrfach Zombie- oder Albtraumsequenzen in die Klage-Litanei prekärer Existenzen. Dramaturgisch wurde dies jedoch nicht schlüssig gelöst.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/04/22/find-eroeffnung-2024-schaubuehne-kritik/
FIND-Abschluss, Berlin: Bereicherung
Mit Arcade Fire und "Manifesto Transpofágico" endete die FIND-Ausgabe 2024 an der Schaubühne: "My body is my cage" singt Solo-Performerin Renata Carvalho zum Abschluss des 100minüigen Gastspiels. Die Hürden und Ausgrenzungen, denen sie als Trans-Frau ausgesetzt ist, stehen im Zentrum dieser Arbeit, die sie mit dem Regisseur Luiz Fernando Marques entwickelt hat.

Ausgehend von ihrem persönlichen Schicksal weitet sich die Perspektive. Zögernd zeigt sie auch ihr Gesicht, das Lichtdesigner Wagner Antônio über weite Strecken der Show im Dunkeln ließ. Carvalho stellt ihren mit Silikon operierten, bis auf einen Slip nackten Körper aus, spricht über ihren langen Weg, sich selbst zu akzeptieren.

Allgemeiner geht es mit viel Doku- und Archivmaterial über die Transgender-Pionierinnen in Brasilien, die einerseits von Cis-Männern als Sexphantasien angehimmelt wurden, andererseits während der AIDS-Krise der 1980er und 1990er Jahre brutaler Gewalt und Anfeindungen ausgesetzt waren.

Plötzlich blendet das Licht komplett auf, die Publikumsreihen sind ausgeleuchtet, Jô Osbórnia, eine in Berlin lebende brasilianische Freundin der Performerin, kommt dazu und übersetzt die Interaktion mit den Zuschauer*innen. Dieser Teil ist eine Art Grundkurs für jene, die sich noch kaum mit dem Thema beschäftigt haben: Renata Carvalho erklärt, was es mit den Pronomen auf sich hat oder beantwortet Fragen zum Unterschied zwischen trans und nonbinär. Ihre Gegenfragen sind sehr naheliegend: wer hat Angehörige oder Freunde, die trans sind? Würde sie als Cis-Frau durchgehen ("Passing"), wenn man sie zufällig treffen würde?

Dieser Interaktionsteil ist gut gemeint, krankt aber an zwei Faktoren; er ist etwas zu lang geraten und die Übersetzung, die nicht von einer ausgebildeten Expertin, sondern einer Freundin übernommen wurde, lässt das Gespräch nicht so recht in Schwung kommen.

Dennoch ist "Manifesto Transpofágico" in seinem Lecture Performance-Teil eine Bereicherung für diese Festival-Ausgabe, die stark auf marginalisierte Perspektiven fokussierte und nach prekären Arbeitsbedingungen und Leben im Exil den Bogen zu queeren/trans-Biographien in machistisch geprägten Gesellschaften schlug.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/04/28/manifesto-transpofagico-find-schaubuehne-kritik/
Kommentar schreiben