Tableau der Torturen

20. April 2024. Amir Gudarzis preisgekröntes Stück schildert drastisch die Zerstörung von Körpern, im Krieg, in Beziehungen, in antiken Heldenmythen. Jan Steinbach hat das sprachliche Panorama der Grausamkeiten nun uraufgeführt – als kathartische Reise durch Zeit und Raum.

Von Karin E. Yeşilada

Uraufführung von "Quälbarer Leib – ein Körpergesang" von Amir Gudarzi am Landestheater Detmold © Marc Lontzek

20. April 2024. Die Zeiten müssen schlecht sein, wenn ein Autor wie Amir Gudarzi mit Preisen und Stipendien überhäuft wird: In seinen hervorragenden Werken, Theaterstücke und jüngst einem Roman, spiegeln sich die brutale Gewalt repressiver Regimes und ihre Auswirkungen auf das Individuum wider. Für sein aktuelles Stück "Quälbarer Leib – Ein Körpergesang" erhielt der 1986 in Iran geborene und seit 2009 im Exil lebende deutschsprachige Autor den Christian-Dietrich-Grabbe-Preis 2022.

Vom Landestheater Detmold und der Grabbe-Gesellschaft ausgeschrieben, wurde der Preis 2022 für Stücke vergeben, die "von politischem Bewusstsein getragen sind und sich an gesellschaftlicher Wirklichkeit orientieren". Entsprechend wird die „Wucht“ gewürdigt, mit der Gudarzis Stück "komplexe Zusammenhänge erfasst und (…) das Schreiben von Bühnenwerken als innere Notwendigkeit vermittelt". Anders als Grabbe, der seinerzeit nie aus dem westfälischen Detmold wegkam, wurde der angehende Theatermacher Gudarzi ins Exil und zum Heimatverlust gezwungen. Das Trauma politischer Verfolgung und Gewalt hat sich in sein Schreiben eingebrannt.

Traumatisierung und Triumphgeheul

Der Titel seines neuen Stücks ist Programm, geht es doch hier um die vielen Arten, einen Leib zu quälen und zu zerstören in Zeiten von Krieg und Gewalt. Und während sich in der realen Welt das iranische Regime immer weiter in einen expliziten Krieg mit Israel verstrickt, erfahren wir im Theater von den zerstörten Leibern der Minensucher, von kriegerischer Unterwerfung, von Säureattentaten und Selbstmordanschlägen, von individueller, patriarchaler Gewalt am Frauenkörper und kollektiver Massenüberwältigung durch imperiale Mächte, die als rote (gleich sowjetische), schwarze (gleich islamistische) und weiße (gleich westliche) Flüsse metaphorisiert werden.
Gudarzi spannt den Bogen dabei vom Gegenwärtig-Konkreten hin zum Archaischen der Antike, zu den Heldentaten von Odysseus und Dädalus. Die einzelnen Themenstränge werden zu einem Kaleidoskop zusammengefügt, aus dem sich immer wieder die Stimme des quälbaren Leibes erhebt, der seine eigene Geschichte des Überlebens erzählt.

QuaelbarerLeib1 MarcLontzek uArchaische Wesen oder Politiker-Karikaturen? Stella Hanheide zwischen den Pappmasken © Marc Lontzek

Auf der Bühne des Landestheaters Detmold wechseln sich chorisches und individuelles Sprechen ab, erklingen laut verkündeter Heldentriumph und vereinzelte Traumatisierungsberichte, verbreiten Kriegsgeheul, Maschinengewehrsalven, Bombenexplosion plötzlichen Schrecken (Ton: Timo Hintz und Ensemble) und bereiten nachdenkliche Monologe Räume für die Trauer. Unter der dramaturgischen Ausdeutung von Sophia Lungwitz wird Gudarzis Erzählung zur kathartischen Reise. Der Leib mag gequält und zerstört sein, aber seine Stimme erhebt sich und lässt ihn überleben.

Gänsehaut und Felsengebirge

Regisseur Jan Steinbach und sein Team haben das mit einfachen Mitteln großartig umgesetzt. Die Bühne besteht aus einem drehbaren Felsengebirge, in und auf dem sich die neun Schauspieler*innen bewegen, dessen Gipfel sie in Siegerpose besteigen, in dessen Klüften sie ermordet verschwinden oder sich angstvoll zusammenkauern. In den hautfarbenen, eng anliegenden Bodysuit-Kostümen wirken ihre Körper erotisch und martialisch, vor allem aber sind sie sichtbar. Das monochrome Bühnen- und Kostümkonzept stattet Frank Albert dann mit wenigen Requisiten effektvoll aus: Odysseus (starke Performance: Hartmut Jonas) bekommt einen Leder-Schurz, die Flüsse werden mit großen Tüchern symbolisiert, die sich die Schauspieler*innen überwerfen, das Europaparlament kommt in expressionistisch-großen Pappmasken daher, und die den islamistischen Märtyrern versprochenen Jungfrauen im Paradies locken mit aufgeblasenen Luftballons als Brüsten unter den weißen Gewändern (herrlich lasziv: Stella Hanheide, Gernot Schmidt und Emanuel Weber).

QuaelbarerLeib3 MarcLontzek uIm Körper-Massiv: Stella Hanheide, Katharina Otte, Paul Enev, Patrick Hellenbrand, Gernot Schmidt, Emanuel Weber, Alexandra Riemann © Marc Lontzek

Das Ensemble spielt mit großer Energie und brilliert in den chorischen Szenen: Effektvoll das kollektive Maschinengewehrgeknatter "Te-te-te-te-te! Ta-ta-ta-ta-ta! To-to-to-to-tot!", witzig das Schafsgeblöke zur eitlen Heldenpose des Odysseus. Beängstigend real die verzerrte Kakophonie der einig-uneinigen Pappmasken-EU. Und dann wieder Szenen, in denen einzelne Stimmen zu Wort kommen: Donnernd, wie Patrick Hellenbrand, den Pathos der Antike rezitiert. Wenn die Minensucherin (eindringlich: Katharina Otte) beschreibt, wie sie ihre Arbeit macht, wie es sich anfühlt, den Kollegen zu verlieren und leibhaftig seinen in tausend Teile zerfetzen Körper zu spüren (Chor: "Es regnet Finger, Beine, Ohren, Augen, Nase"). Oder wenn der verschmähte Liebhaber über sein grauenvolles Säureattentat berichtet (Chor: "Ihr Körper verschmilzt mit dem Asphalt") – das sind Gänsehaut-Momente.

Unter die Haut

An diesem Abend wäre einzig die Musikauswahl zu bekritteln, aber womöglich stehen die abgenudelten Zitate des Klassikkanons von Beethoven bis Wagner für das abgenutzte Stereotyp, mit dem sich Europa als "der Westen" inszeniert und seine Macht zu Abschottung und Abgrenzung rechtfertigt. Auch Paul Enevs viel zu schnelles Bühnensprechen mag die "Ungeduld der neuen Generation" verkörpern, die den zweiten Minensucher, der unbedingt Leistung bringen will, letztlich das Leben kostet.

Dieser "Körpergesang" geht unter die Haut, quält quasi auch den Leib des Publikums. Wir zollen dem anwesenden Autor, dem Regisseur und dem großartigen Theaterensemble viel Applaus und atmen erleichtert auf, als wir mit unseren unversehrten Körpern in die frische Abendluft treten.

 

Quälbarer Leib – Ein Körpergesang
von Amir Gudarzi
Regie: Jan Steinbach, Bühne und Kostüme: Frank Albert, Dramaturgie: Sophia Lungwitz, Licht: Udo Groll, Ton: Timo Hintz.
Mit: Paul Enev, Stella Hanheide, Patrick Hellenbrand, Hartmut Jonas, Leonard Lange, Katharina Otte, Alexandra Riemann, Gernot Schmidt, Emanuel Weber.
Uraufführung am 19. April 2024
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.landestheater-detmold.de

 

Kritikenrundschau

Ist das Stück ein Kommentar zur brisanten Lage im Nahen Osten?, fragt der Moderator im WDR den Kritiker Stefan Keim im WDR (20.4.2024). Ohne die Frage direkt zu beantworten, erklärt Keim, dass Gudarzi in seinen Werke oft eigene Erfahrungen verarbeite. Die Figur des "Autors" etwa schildere, wie sie von bewaffneter Polizei im Iran bedroht werde. "Quälbarer Leib" führe hinein in komplexe Zusammenhänge, die nicht immer erklärt würden. Man müsse sich "durch unendlich viele Schichten hindurcharbeiten", um sich zurechtzufinden, was Jan Steinbach und das Ensemble versucht hätten, sagt Keim, der die Einführung und das Programmheft vorab empfiehlt. Wer bereit sei, sich einzulassen, für den stecke "unglaublich viel drin, an Anspielungen, an Assoziationen, an Aussagen, auch an schräger Phantasie", so Keim, der das mit dem Grabbe-Preis ausgezeichnete Stück als "ein unfassbares Brett an Bildungsbürgertum und Intellektualismus" bezeichnet.

 

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