Kalte, alberne, erstarrte Gesellschaft!

von Matthias Schmidt

Leipzig, 5. Juni 2015. Die Bühne ist ein weiß gefliester Kasten, blitzeblank und eiskalt. Das Gegenteil von natürlich. Tür- und scheinbar ausweglos. Gläserne Decken, wohin man auch schaut. An einer Wand dieses Kastens hockt Baal, ein jämmerliches Häufchen. Baal? Der Baal, der tanzt und säuft und hurt und mordet? Yep, genau der. Hockt da, barfuß und schlicht gekleidet, am Rand des sterilen Kastens und leidet daran, von seiner Umwelt regelrecht eingefliest zu sein. Nachdenklich, fast schüchtern spricht und handelt er dagegen an. Das laute, rüpelige, respekt- und rücksichtslose "Tier Baal" – in Leipzig spielt es nicht mit.

Herabwürdigender Imperativ

Sebastian Münster macht einen Menschen aus Baal. Sagen wir, er macht ihn zum einzigen Menschen auf der Bühne, denn alle anderen sind popartbunt gekleidete und geschminkte Comicfiguren, die über weite Strecken puppenartig agieren und zu ihren über die Lautsprecher eingespielten Texten nur die Lippen bewegen. Sie sind ganz offenbar nicht sie selbst, nicht ganz bei sich. Jedenfalls hofft man das für sie, denn ihre Oberflächlichkeit, ihre Dummheit, ihre bis ins Lächerliche überzeichnete Individualität (die in den ersten Szenen äußerst unterhaltsam sind) wecken das gleiche Mitleid, das man mit den Bewohnern des Kapitols in Suzanne Collins "Tributen von Panem" hat. So dämlich können Menschen sein? So leicht manipulierbar?


baal 560a RolfArnold uLeiden, bibbern, straucheln: Baal (Sebastian Tessenow mit Anna Keil) © Rolf Arnold

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Yep, können sie. Wenn es einer weiß, dann Baal. Und weil die kompakte Majorität es nicht erkennt, spricht er es eben aus, der Außenseiter, der Künstler. Dass er dabei nur als Narr wahrgenommen wird, daran zerbricht er. Er will etwas erreichen und muss sich die gönnerhaften "Gedichte-sind-nicht-nötig"-Statements und den herabwürdigenden Imperativ "Tanz, Baal!" anhören.

Raus aus dem Fliesenkasten!

Sebastian Tessenow nimmt Calis' Konzept dankend an und ist ein großartiger Baal. Ein Baal, wie man ihn sicher selten, vielleicht sogar noch nie gesehen hat: er leidet, bibbert, strauchelt, verzweifelt, bereut. Er denkt und kämpft zumeist leise an gegen eine erstarrte, kalte, alberne, selbstgefällige Gesellschaft. Er will Brot, die anderen wollen Spiele. Man möchte ihn vielleicht nicht zum Grillen einladen, aber seinen Frust verstehen kann man sehr gut.

Bei Calis ist er der einzige, der etwas vom Leben will, der leben will. Raus aus dem Fliesenkasten, sozusagen. Da er keinen Ausweg sieht, beginnt er die Bodenplatten zu lösen und in der darunter befindlichen Erde zu wühlen, sich und die saubere Welt zu beschmutzen. Sein darauf folgendes Saufen, Huren, Morden fühlt sich dadurch nach Widerstand an. Das mag plakativ sein und schnell durchschaut, ist aber – insbesondere im Vergleich mit dem anderen Leipziger Brecht, Philip Tiedemanns kunsthandwerklich einwandfrei, aber eben harmlos freundlich heruntergespielter "Dreigroschenoper" - ein geradezu glücklich machender Ansatz. Er hat mit dem Hier und Heute zu tun, mit der "bunten Leiche" Kapitalismus (Heiner Müller), die alles vereinnahmt und absorbiert und sich dabei stets gewiß ist, perfekt und zudem gut zu den Menschen zu sein. Calis inszeniert, was nicht verboten ist, Brecht so, dass man nachdenklich aus dem Theater kommt und vielleicht auch nach der ersten Weißweinschorle noch nicht fertig damit ist. Und das ist verdammt gut so.

Texttreue ist nicht alles

Die formale Strenge der Inszenierung – die Szene werden durch laute Musik und grelle Videoprojektionen voneinander getrennt und Brechts Regieanweisungen an die Kacheln projiziert – ist ebenfalls nicht ganz unanstrengend. Auch sie wirkt wie ein Statement, ein zudem mit Baals Frust verknüpftes. Das hier, scheint es zu sagen, ist ein Kunstwerk und keine Vorbereitung auf die Kneipenmeile draußen vor der Tür. Das hier ist keine per Pediaphone vorgelesene Inhaltsangabe des Stückes (wie sie Calis mehrfach einspielen lässt und damit ziemlich witzig zeigt, das Textreue nicht alles ist), sondern eine Interpretation. Sie holt Brechts späte Äußerung, Baal sei "asozial, aber in einer asozialen Gesellschaft" beeindruckend auf die Bühne. Auch das ist verdammt gut so.

Und noch etwas legt Calis frei: wieviel Heiner Müller in Brecht steckt. Natürlich muss es eigentlich umgekehrt gesagt werden, schon klar, aber vielleicht ist das ja auch nur höhere Dialektik. Streckenweise jedenfalls wirken die gleichförmig und teilweise chorisch gesprochenen Brecht-Texte aus dem Jahr 1918 (Calis verwendet die erste Fassung), als seien sie 60 oder 70 Jahre später von Müller verfaßt worden. Dass sie knapp 100 Jahre nach ihrer Entstehung und 92 Jahre nach der Uraufführung in Leipzig eine solche Wirkung erzielen ist: großes Theater.

 

Baal
von Bertolt Brecht
Regie: Nuran David Calis, Bühne: Irina Schicketanz, Kostüme: Amelie von Bülow. Musik: Vivan Bhatti, Video: Adrian Figueroa, Dramaturgie: Esther Holland-Merten.
Mit: Sebastian Tessenow, Ulrich Brandhoff, Wenzel Banneyer, Lisa Mies, Fatima Zair, Pina Bergemann, Stefanie Schwab, Anna Keil, Andreas Herrmann, Tilo Krügel, Dirk Lange, Michael Pempelforth.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspiel-leipzig.de

 


Kritikenrundschau

Nuran David Calis habe dem "eigentlich recht eindimensionalen" Brecht-Frühwerk "eine Wirkungsmacht verliehen, die man dem Stück nicht zugetraut hätte", lobt Sebastian Münster in der Chemnitzer Freien Presse (8.6.2015). "Der tanzende, fressende Baal, der personifizierte Exzess, er wirkte hier plötzlich wie ein verzweifelt Herumirrender" und sei von Sebastian Tessenow "brillant" verkörpert. "Brechts Monster, das die Gesellschaft in den Abgrund reißt, ist bei Calis eher einer, der an der Gesellschaft zu zerbrechen scheint. Eine Gesellschaft, die albern, oberflächlich und im dümmlichen Clownskostüm daherkommt."

"Es ist keine gefällige, aber eine durchdacht anspruchsvolle Inszenierung", schreibt Dimo Riess in der Leipziger Volkszeitung (8.6.2015). Calis zeige Baal nicht als hochmütigen Egomanen, sondern "stellt die versteckte Seite des Charakters in den Mittelpunkt." Sebastian Tessenow zeige Baal "angstvoll, an sich selbst und an der Gesellschaft, die ihn nicht versteht, leidend"; und auch wenn darin verborgen bleibe, "woher die geradezu magische Anziehungskraft Baals" rühre, sei er doch das "Kraftzentrum des Abends".

Nuran David Calis "gelingt hier ein ganz großer Theaterabend", berichtet ein rundum überzeugter Stefan Petraschewsky im Gespräch für MDR Figaro (8.6.2015). Baal sei in Leipzig ein "verschüchterter, in die Enge getriebener Dichter." Dass "das mit dem Stück und mit dem Text geht, ist für mich hier die große Entdeckung!", so der Kritiker. "Es geht dem Regisseur hier ganz zentral um die Rolle des Künstlers in der Gesellschaft."

Julien Reimer bekennt im Gespräch für Mephisto 96.7 (8.6.2015), dass ihm "in der Inszenierung doch die ganze Handlung ein wenig verloren gegangen" ist und der Abend mitunter "zäh und anstrengend" wirkt. Dennoch würdigt er das "Experiment" und bescheinigt ihm, eine starke Nachwirkung. Es gäbe "kaum Bewegung" und die Figuren um Baal herum "verkommen ein bisschen zur Staffage", erscheinen wie "Traumgebilde, Gespenster, Halluszinationen". Der Abend wirke "wie ein Drogentrip", wenngleich er sehr "nüchtern, kalt, seltsam" inszeniert sei.

 

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