Verregnete Muttersuche

von Michael Bartsch

Dresden, 3. Oktober 2015. "Der Westen ist an mir schuldig geworden." Dieser Westen hat Peter Wawerzineks Mutter einst "die Sinne vergiftet ..., so dass sie dem Westruf höriger geworden ist als ihrer Mutterpflicht." Dieser Anklage des Waisenkindes fügt die Dresdner Bühnenfassung seines preisgekrönten Romans "Rabenliebe" noch den aktuellen Seitenhieb auf die Flüchtlinge hinzu, die sich auch nur blind "unter die Fittiche des Westens begeben wollen". Mit dieser Passage kurz vor dem Finale reiht sich die Uraufführung doch noch in den Tenor des Spielzeitauftakts am Dresdner Staatsschauspiel ein. Hier wird derzeit unter den spezifischen Dresdner Bedingungen intern und auf der Bühne um relevante Antworten auf das Volksgrummeln und das Thema Flüchtlinge gerungen.

Ost-West-Trauma

Nun also am Tag der Deutschen Einheit ein deutsch-deutscher Stoff, dessen Romanvorlage aber vor allem das persönliche Trauma eines Waisenkindes eindringlich vor Augen führt. Peter Wawerzinek ist zwei Jahre alt, als die Mutter in den Westen flüchtet und ihn und die Schwester zurücklässt. Der kleine Junge weiß nichts von einem Mutter-Mythos, er folgt nur seinem natürlichsten Empfinden, wenn er die Mama imaginiert und sich als Erwachsener schließlich auf die Suche nach ihr begibt. Doch die viel beschworenen Blutsbande tragen am Ende nicht, weil sich fünfzig Jahre lang sozial nichts ereignet hat.

rabenliebe 560 MatthiasHorn uMuttersuchende Kleinis: "Rabenliebe" am Staatsschauspiel Dresden © Matthias Horn

Armin Petras wollte ursprünglich dieses autobiografische Werk auf die Bühne bringen, war aber verhindert. Die Dresdner Fassung ist nun ein Gemeinschaftswerk von Dramaturgin Felicitas Zürcher, Regisseur Simon Solberg und den fünf Schauspielern. Wie jede Verstückung einer literarischen Vorlage muss sie sich an der Frage des Mehrwerts durch die szenische Umsetzung messen lassen. Da bleiben trotz des geradezu frenetischen Applauses unter anderem für den anwesenden Autor im Kleinen Haus des Staatsschauspiels Zweifel.

Poetische, bilderreiche Sprache

Die Inszenierung stellt Originaltext und szenische Illustration nebeneinander, bietet den Vergleich beider Ebenen geradezu an. Die starken Impulse gehen dabei von den Flanken, von den Rändern der Bühne aus. Auf dem Schreibtisch zur Linken liegt ein aufgeschlagenes Fotoalbum. Die Bilder aus kasernenähnlichen Kinderheimen, Fotos aus der DDR, vom Autor selber und Zeichnungen werden an die Seitenwände des Saales projiziert. Jeweils einer der Spieler spricht Originaltexte ein, die das dramaturgische Gerüst bilden. Das geschieht unprätentiös, auf die poetische und bilderreiche Sprache Wawerzineks vertrauend, das hat Kraft und Ernst.

Auf der rechten Seite sorgt der geborene Kanadier Miles Perkin mit seiner Gitarre für stimmigen atmosphärischen Hintergrund, steht aber auch mit seiner Falsettstimme und passenden Songs gelegentlich im Vordergrund. Die passen manchmal geradezu penetrant, etwa Queens "Mama"-Einstieg in die Bohemian Rhapsody oder Sometimes I feel like a motherless child.
Vordergründige Komik.

Tanz den Fleischwolf

Im Zentrum hat Olaf Altmann eines seiner reduzierten Bühnenbilder gebaut, ein einfacher, dunkler, scheinbar unentrinnbarer Kasten. Es regnet darin unaufhörlich, ebenso gut hätte es auch ständig nebeln oder schneien können, um einem der Leitmotive von "Rabenliebe" zu folgen. Unter der Dauerdusche spielt sich vor allem in der ersten Stunde ab, was zu befürchten war. Die in ständig rutschenden grauen Drillich gekleideten Akteure schlüpfen entweder in Facetten des Ich-Erzählers oder in andere Romanfiguren. Sie machen dort ihre Figuckchen, würden die Sachsen sagen.

rabenliebe2 560 MatthiasHorn u V.l.n.r.: Nele Rosetz, Sabine Waibel, Lea Ruckpaul, Christine Hoppe © Matthias Horn

Die Einlagen erinnern eher an Comedy und deren amerikanische Fernsehvorbilder, wo möglicherweise echte Empfindungen stets hinter Understatement und permanenter Affektiertheit getarnt werden. Das hat mit dem unterbewussten Ringen des kleinen Peter um die absente Mutterfigur wenig zu tun. Man hat eher den Eindruck, er vermisse sie nicht stärker als vielleicht den gewünschten neuen LEGO-Kasten heute oder das unentbehrliche Smartphone. Sind doch ganz drollig, diese Kleinen mit dem Plüschelefanten auf der Mütze! Lea Ruckpaul tanzt zu Bule Tule eine Showeinlage, Nele Rosetz spricht auch den pubertierenden Peter noch mit Kleinkindstimme, und der Fleischwolf der Köchin Blume wird als alberner Typ mit Wolfsmaske personifiziert.

Finale Begegnung

Erst in der zweiten Hälfte, mit dem bewussten Aufbruch zur Muttersuche, gewinnt die Szenerie an Intensität und Ehrlichkeit. Die Kriegsphantasien beeindrucken, die poetischen Bilder des Waldes erscheinen dem Text ebenbürtig, Kälte und Ernüchterung der finalen Begegnung mit der Mutter – die nie auftritt – und den Halbgeschwistern werden fühlbar. Christine Hoppe etwa als warmherzige Köchin oder Großmutter bleibt die Anbiederung an ein lachsüchtiges Publikum erspart, und der indianische Gesang von Torsten Ranft als Schockreaktion auf die Mutter-Enttäuschung geht nahe. Hartnäckig hält sich aber die nicht zu überspielende ketzerische Frage, wie viele Buchseiten man in den reichlich eineinhalb Stunden gelesen hätte und ob man vom dabei imaginierten Kopftheater nicht mehr gehabt hätte.

Rabenliebe
nach dem Roman von Peter Wawerzinek
Regie: Simon Solberg, Bühne: Olaf Altmann, Kostüm: Katja Strohschneider, Dramaturgie: Felicitas Zürcher.
Mit: Christine Hoppe, Torsten Ranft, Nele Rosetz, Lea Ruckpaul, Sabine Waibel.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Kritikenrundschau

Torsten Klaus schreibt in den Dresdner Neuesten Nachrichten (5.10.2015), die größte Überraschung sei es gewesen, dass von der "immensen Kraft des Textes auf den Brettern so viel zu spüren bleibt, wie sich in 100 Minuten Aufführungsdauert nur hineinpacken lässt", ohne dabei zu "simplifizieren". Ein "Punkt" für Regisseur und Dramaturgin. Nie überdecke "das Burleske" die "eigentümliche Grundschwingung" des Textes. Andererseits werde "das tragische Fundament des Ganzen" auch nicht "doppelt gegossen". Es herrsche ein "Urvertrauen" in die Vorlage. "Wer das Drama des Heimkindes überhöhen wollte, würde sich hollywoodeskem Kitsch gefährlich annähern." Ein Risiko, das zu keinem Zeitpunkt nur aufschimmere. Auch werde, trotz des im Buch vorweggenommenen aktuellen Flüchtlingsdramas, jede Anbiederung ans Heute vermieden.

In der Sächsischen Zeitung (5.10.2015) schreibt Rafael Barth, Solberg sorge mit seiner Inszenierung für "großes Kino", gut möglich, dass nicht nur Wawerzineks Buch, sondern auch das Theaterstück viele Menschen berühren werde. Solberg gehe es nicht um ein "romanhöriges" Theaterstück. Er schaffe eine "eigene melancholische Stimmung", gespeist aus "stetem Regen, der sich mit Musik mischt", ohne sich dabei "in Resignation zu ergehen". Als "erdverschmierte Mutter", die ihr Versagen erkennt, schaffe Christine Hoppe "einen jener Theatermomente, die man festhalten möchte". Genauso überzeugten auch die anderen vier Schauspieler*innen. "Ein glänzendes Team".

Auf MDR-Figaro (5.10.2015) sagte Stefan Petraschewsky  (wir haben ein Transkript des Radiobeitrags zusammengefasst): Wenn der Regen am Ende aufhöre, da sich das Kind mit seiner Mutterlosigkeit arrangiere, sei dies ein "sensationeller", "ergreifender" Effekt: diese "neue Möglichkeit nach dem Regen". Die Altmannsche Bühnen-Idee mit "Spielraum im Bretterkasten" und "Erzählraum rings darum herum" sei dem Roman mit seinen verschiedenen Textebenen sehr angemessen. Bei der Inszenierung handele es sich nicht um die "Nacherzählung des Romans auf dem Theater", sondern die 5 Akteure näherten sich dem Thema der Mutterlosigkeit an und brächten dabei ihre "Erfahrungswelt" mit ins Stück. Manchmal gelinge das gut, manchmal nur illustrierend. Die Bühnenversion von Solberg sei sehenswert – aber nicht vollends überzeugend. Weil der Roman bereits so bildhaft sei, wirke der "Theaterbebilderungsversuche eher klein und banal".

 

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