Lokomotive der Geschichte

von Verena Großkreutz

Stuttgart, 22. Oktober 2015. Eklig: Matti Krause als fette Kakerlake fällt über Johann Jürgens' Bein her, haut seine Zähne ins Gliedmaß, das eh schon ziemlich blutig ist, auch weil es zuvor (oder war es danach?) von Astrid Meyerfeldts Messer operativ bearbeitet wurde. Jedenfalls hat Meyerfeldt Blutspritzer im Gesicht. Und wieder einmal an diesem Abend wurde ganz real und bildlich der sprichwörtliche Finger in die Wunde gelegt: in die Wunde der "Revolution", des "Kommunismus" oder was sonst noch so zu den Themen passt, die Andrej Platonows Roman "Tschewengur" aufwirft.

Den Schwaben die Revolution erklären

Da lässt sich Frank Castorf auch in Stuttgart nicht lumpen: die Bühne zu einer großen Textbaustelle zu machen, dort immer wieder – peng peng peng – mit Assoziationen um sich zu schießen. Allein schon die finale, viertelstündige Performance in Gestalt eines zugespielten Videofilms, in dem alle Protagonisten des Abends in einem Maisfeld minutiös den Tod finden oder suchen und sich selbst oder gegenseitig mit sehr viel Theaterblut garnieren, kann ein "Säuberungs"-Massaker meinen, Shakespeare, aber auch die ganze Welt. Wir merken's ja gerade wieder, wie dünn der Boden der Humanität ist.

Castorf inszeniert erstmals in Stuttgart. Er hat sich wieder einmal einen dicken russischen Roman vorgenommen, eines der wichtigsten Werke der frühen russisch-sowjetischen Prosa über die Revolution 1917: Andrei Platonows Roman "Tschewengur",  geschrieben in den 1920er Jahren, wegen seiner Sozialismuskritik unterdrückt und jahrzehntelang totgeschwiegen, erstmals als Ganzes 1972 in Paris erschienen, in Russland dann erst in Glasnost-Zeiten.

Tschewengur3 560 Thomas Aurin uAuf der Lokomotive der Geschichte: die Bühne von Aleksandar Denić © Thomas Aurin

Nun nimmt ihn Castorf und erklärt den Schwaben die Revolution – im Geiste Platonows natürlich, der ein Schriftsteller des Mitgefühls war: resignativ, melancholisch, mit Vorliebe für düster-groteske Gegenwartsanalysen – in einer Sprache, die Parteijargon, Wissenschaftsterminologie und poetische Metaphern miteinander vermischt. Im Roman geht's etwa um einen Fischer, der sich aus "Neugierde auf den Tod" selbst ertränkt, und um einen Don Quijote der Revolution, der sein Pferd "Proletarische Kraft" nennt und Rosa Luxemburg verehrt und mit des Fischers Sohn Sascha auszieht, um in einem Provinz-Kaff namens Tschewengur "den Kommunismus unter dem einfachen und besseren Volk zu suchen". Aber das erledigen andere: Die Einführung des Kommunismus, die brutale Liquidierung und Vertreibung der "Bourgeoisie". Das mit dem kommunistischen Paradies, in dem Sorgen, Krankheiten, Tod keinen Platz mehr haben sollen, funktioniert dann so gar nicht. Am Ende wird Tschewengur von namenlosen feindlichen Truppen vernichtet und das "Ende der Geschichte" ist eingetreten. Finster, finster.

Im Innern des Monuments

Aber so schön nacheinander erzählt Castorf das natürlich nicht. Beinahe arios wird sich ständig solistisch brüllend aufgeregt – ob Meyerfeldt sich über den bis zur Verwesung gehenden Verfall des menschlichen Körpers echauffiert, ob Matti Krause mit hochgetunter Stimme den beobachteten Geschlechtsverkehr der Eltern anprangert. Ob vom Alkoholismus unter Künstlern, von der Hungersnot und der Folter durch die Knüppel der Staatsmacht die Rede ist oder vom Weltall als einer laufenden Frau. Oder vom Bauern, der das Pflügen aufgegeben hat, um sich nun ganz konkret vom Erdreich zu ernähren: Andreas Leupold sieht so verlehmt aus, als hätte er mehrere Tage kopfüber in einem Acker gesteckt.

Tschewengur1 560 Thomas Aurin uAstrid Meyerfeldt (1. v.r.) im Bauch der Revolution, zusammen mit Andreas Leupold (1.v.l.) und Wolfgang Michalek (2. v.l.) © Thomas Aurin

Aleksandar Denić hat für den Abend ein beeindruckendes Bühnenbild zusammenzimmern lassen: Auf der Drehbühne thront ein mächtiges Monument – zusammengesetzt aus einer leicht derangierten Windmühle (wegen des Don Quijotes der Revolution), ärmlichen Bretterverschlägen als Volksbehausungen, einem Stacheldrahtzahn für den Gulag und dem Rumpf einer Dampflok (Revolutionen sind ja schließlich die Lokomotive der Geschichte, so Marx). Die Lok lässt gelegentlich die grellen Scheinwerfer blinken, und aus ihrem Schornstein – einer Kreuzung aus Zwiebelturm und orthodoxem Kreuz – entweicht Rauch, was an Krematorien erinnert. Aus dem Cola-Automaten bedient man sich gern, und mit dem schrottigen Auto lässt sich Bewegung vortäuschen. Wobei, so heißt es im Stück, Bewegung eine Sache der Masse sei. Aber gespielt wird natürlich vor allem im Innern des Monuments, und Kameraleute sorgen für die Übertragung auf die Videoleinwände.

Musikalischer Subtext

Weil der ganze erste Teil des Abends leise mit finsteren Passagen aus Schostakowitsch-Sinfonien unterlegt ist, liegt ein bisschen Oper in der Luft. Und tatsächlich hört man gelegentlich melancholische russische Weisen aus dem Munde der Protagonistinnen. Und ja, auch witzig: das groteske Tänzchen im Tütü flankiert von Säbeltanz und Stechschritt zu Schostakowitschs Suite aus dem Ballett "Der Bolzen", einer Satire auf die proletarische Revolution und seinerzeit von der Zensur als "gesellschaftlich unbrauchbar" eingestuft – wie Platonows Roman. Es ist gerade dieser musikalische Subtext, der den Abend stark macht. Schließlich war Schostakowitsch ein Meister in der musikalische Gratwanderung zwischen äußerem Schein und eigentlich Gemeintem, was ihn überleben ließ.

Aber wie reagiert Stuttgart auf Castorfs ausuferndes Assoziationstheater? Nach der Pause ist ein Drittel der Zuschauer verschwunden. Doch die, die bis um halb eins ausharren, jubeln am Ende uneingeschränkt. Gefällt's? Versteht man's? Ist es zu lang? Wie immer bei Castorf sind das nicht die zentralen Fragen. Sein Theater denkt. Und deshalb ist es.

 

Tschewengur. Die Wanderung mit offenem Herzen
nach dem Roman von Andrej Platonow
aus dem Russischen von Renate Reschke
Regie: Frank Castorf, Bühne: Aleksandar Denić, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Licht: Felix Dreyer, Video und Live-Schnitt: David Wesemann, Sound Design: Carsten Bänfer, Dramaturgie: Jan Hein, Carmen Wolfram, Produktionsleitung: Sebastian Klink
Mit: Sandra Gerling, Johann Jürgens, Katharina Knap, Horst Kotterba, Matti Krause, Manja Kuhl, Andreas Leupold, Astrid Meyerfeldt, Wolfgang Michalek, Hanna Plaß, Tobias Dusche, Daniel Keller, Philip Roscher, Philipp Reineboth.
Dauer: 5 Stunden, 30 Minuten, eine Pause

www.staatstheater-stuttgart.de

 

Kritikenrundschau

"Castorf hat den Roman durchpflügt wie Mütterchen Erde und wirft die losen Klumpen auf Aleksandar Denićs Abenteuerspielplatzbühne", beschreibt Jan Küveler auf welt.de die Inszenierung und wendet sich wie folgt an seine Leserinnen und Leser: "Damit Sie da einigermaßen durchsteigen, folgt eine Kritik in Form eines revolutionären Registers, eines kommunistisches Katalogs oder meinetwegen eines bolschewistischen Breviers. Das ordnende Prinzip ist leider nicht das kyrillische Alphabet, sondern das lateinische. Das ist eine grobe Verfehlung und wird bei der nächsten Selbstkritik entsprechend geahndet." Unter Stichworten wie "Utopie", "Bourgeois", "Netzstrumpfhosen" oder "Lokomotive" wird dann der Abend höchst amüsant abgehandelt.

"Warum aber ist die Revolution in Stuttgart so langweilig?" fragt Christian Gampert in der Sendung "Kultur heute" beim Deutschlandfunk (23. 10.2015) und antwortet gleich selbst: "weil der Regisseur Frank Castorf heißt". Über weite Strecken bleibt dem Kritiker unklar, worum es in dessen Inszenierung überhaupt geht. Gampert sieht "große, aber platte Bilder" zum Komplex "Russische Revolution", wähnt sich in einem "pseudolinken Disneyland" mit "Körper und Gekreische". Castorf sei die Mitteilungsfunktion, die Theater normalerweise habe, wohl völlig abhandengekommen. "Offenbar reicht es ihm aus, alle möglichen Zitate aneinanderzureihen, Roadmovie, Melodram, Kitsch- und Marschmusik, Pantomime, Ballett, sinnfreies Gestrampel. Russische Stummfilme werden mit dem Geschehen auf der Bühne überblendet, überhaupt wird ja alles abgefilmt, und für jeden gigantomanen Sound-, Licht- oder Videoeffekt stehen im Ausbeutungsbetrieb Theater 50 Technik-Sklaven bereit, wenn der Meister nur mit dem Finger zuckt."

Gegen Ende zerfasere der Abend, findet Jürgen Berger in der Süddeutschen Zeitung (24.10.2015). Vorher sei man aber "immer wieder ganz nah an einem Roman, den man wegen seiner lyrischen Sprachmacht gelesen haben sollte, und nicht selten wirkt er, als würden heutige, ganz aktuelle Problemlagen kommentiert." Castorf akzentuiere "vor allem die Macht sozialutopischer Ideengebäude, die dem Wohl des Volkes dienen sollen, tatsächlich aber nur Diktaturen fördern und massenhaft Armut erzeugen. Das ist ja auch heute ein Grund für die Flüchtlingsströme aus Bürgerkriegsländern."

"Ein starker Abend zur Geschichte der Menschheit,  schreibt Otto Paul Burkhardt in der Südwest Presse (24.10.2015). Allein für einige Momente, die das spektakuläre Bühnen-Panorama von Aleksandar Denic biete, lohne sich der Besuch der Aufführung. Doch auch die Schauspieler, "allen voran Wolfgang Michalek und Astrid Meyerfeldt, zeigen eine beeindruckende Ensembleleistung und steigern sich immer wieder in den Castorf-eigenen, fast hysterischen Tonfall, den die Regie oft ironisch bricht - etwa, wenn Meyerfeldt brüllt: 'Ich akzeptiere keinen altgewordenen avantgardistischen Regisseur mehr!'"

Sie werde nie wieder eine Castorf-Inszenierung besuchen, gibt Elske Brault in der Sendung "Fazit" beim Deutschlandradio Kultur (23.10.2015) zu Protokoll. "Wahrscheinlich ist das, was wir da zu sehen bekommen, tatsächlich der innere Kosmos von Frank Castorf. Der würde immer noch gern an die schicken jungen Frauen rankommen, spürt aber, dass er für sie ein sabbernder Greis ist. Das verletzt ihn und macht ihn bluten, innerlich. Doch während so eines Theaterabends dreht er (Video) das Innere nach außen. Und alle machen mit, werden angesteckt von dieser ungeheuren Energie, mit der Castorf fünf Stunden lang mit größtenteils unverständlichen Texten auf die Zuschauer eindrischt. Es ist ja nicht Castorfs Schuld, wenn der Zuschauer für diese Texte zu blöd ist. Die Schauspieler können sie auswendig lernen, wirklich eine Glanzleistung des Ensembles übrigens, da muss das Publikum sie doch verstehen können!" Fazit: "Die Effekte erschlagen sich alle gegenseitig, heraus kommt ein Einheitsbrei von laut und permanent und kalauernd und bunt und angestrengt."

Von "tabulosem Hochenergie-Theater" berichtet rm in der Stuttgarter Zeitung (24.10.2015). Natürlich trage "dieses planvoll entfesselte Bombardement mit Szenen zur Überforderung der Zuschauer bei. Zur Pause nach 140 Minuten verlässt ein Drittel des Publikums den Saal. Teil eins ist vorüber, ein düsteres Nachtstück voller Sterben und Tod, das mit melancholischem Ingrimm auf den Skandal der Endlichkeit des Lebens hinweist. Castorf variiert diese Szenen endlos und stellt eine Dauerdepression im Dämmerlicht her, die alles vermissen lässt, was Teil zwei seiner Seelen-Expedition auszeichnet: Rhythmus, Frische, Humor und zumindest relative Klarheit."

"Wissenschaft trifft Religion, Bauernhof trifft Gulag auf Aleksandar Denics Bühne", schreibt Nicole Golombek in den Stuttgarter Nachrichten (25.10.2015). Dieser "verschachtelte Ort" passe "hervorragend" zur Struktur von Platonovs Roman. Dass die Schauspieler hier permanent von Livekameras und Mikrofonen verfolgt würden, ergebe tatsächlich einen Sinn: "Die Figuren stehen unter staatsrevolutionärer Beobachtung – und jeder ist bemüht, seine Rolle in dieser neuen Gesellschaft zu finden, beobachtet sich währenddessen auf der Leinwand als Denunziant seiner selbst." Castorf zeige "die Menschen in ihrer Endlichkeit, ihrer Beschränktheit" und mache sich "über ihre Weltverbesserungsversuche lustig." Es sei "ein Abend zwischen Lenin und Landlust, zwischen Stalin und Stuss. Viele Späße, aber noch mehr Leid." So dominiere "ein todernster Grundton". Castorf zeige in diesem "Apokalypsentheater" nicht, "wie die Menschen sein sollen, sondern wie sie sein wollen. Und wie sie tatsächlich sind: widersprüchlich."

Einen "echten Trüffel" habe Castrof mit Platonows "Tschewengur" ausgegraben, freut sich Kerstin Holm in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (26.10.2015), und "der Trash-Berserker" transponiere die Figuren zuverlässig "in die Steppe der Posthistorie und verurteilt sie zu überdrehtem Dauerparlando." Castorfs "Altmännerobszönitäten, die leerlaufende Berliner Hysterie" machten dabei jedoch "alle Jenseitserwartungen unglaubwürdig, denen Platonows Bolschewiken anhängen – wie heute junge Islamisten", so Holm. Zwar funkelten zwischendurch "immer wieder Perlen", aber im Endeffekt werde das Publikum "von Castorfs ausgefranstem Dauerhochdruck-Exerzitium einfach überfahren".

"Läge irgendwo der Kommunismus begraben, sähe der Friedhof wohl ähnlich aus wie das, was sich zur Premiere von Frank Castorfs Inszenierung 'Tschewengur' auf der Bühne des Stuttgarter Schauspiels drehte", schreibt Judith Engel in der taz (26.10.15). Man könne sich angesichts der deutlichen historischen Verortung fragen, "warum in Zeiten, in denen aktuell eher der Kapitalismus heiß läuft und zu entgleisen droht, gerade eine Erzählung über das Scheitern des Kommunismus von Bedeutung sein sollte". Und lässt Castorf selbst antworten: "'Unsere Gesellschaft ist vielleicht frei, vielleicht gleich. Aber sie ist eins ganz bestimmt nicht: brüderlich. Und deshalb interessiere ich mich für die Autoren, die für diese Werte verreckt sind', antwortet Frank Castorf, (…) in einem Interview mit den Stuttgarter Nachrichten." Zurück zu Tschewengur, das "eine lange Wanderung statt einer rasanten Bahnfahrt" sei – "aber wer sie mit offenem Herzen bestreitet (…) und die Erwartung einer Handlung ablegt, kann in der Inszenierung von Platonovs sprachgewaltiger Verhandlung des Todes die gesammelte Weisheit des Lebens erfahren."

Bernd Noack ist, wie abzusehen war, angeödet von Castorf. In der Neuen Zürcher Zeitung (29.10.2015) schreibt er: Castorf illustriere den "hinlänglich bekannten Niedergang" müde, kleistere "die verlorenen Illusionen" am Ende ziemlich "hilflos theaterblutrot zu", luge ein wenig schelmisch hinter Karikaturen seiner eigenen Kunst hervor und wage einen sehr überflüssigen Ausfallschritt ins Ballettfach. Die Stuttgarter Schauspieler habe Castorf "ordentlich chaotisch auf hochtourige Volksbühnen-Linie" gebracht ...

 

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