Presseschau vom 1. September 2016 – Christopher Balme schreibt in der SZ über die Macht deutscher Theaterintendanten

Unter Übermenschen

Unter Übermenschen

1. September 2016. Die Intendanten der deutschen Theater genießen eine weltweit einzigartige Machtfülle. Der Streit um die Berliner Volksbühne zeigt aber: Das wird wohl nicht so bleiben. In der Süddeutschen Zeitung blickt Christopher Balme auf das System.

"Der Fall Dercon ist symptomatisch, denn er hängt mit der besonderen Herrschaftsform des Intendanten zusammen", schreibt Balme, Direktor des Instituts für Theaterwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Die Besetzung der Leitung großer Häuser durch "große" Künstler wie Regisseure oder Dirigenten habe eine lange Tradition. "Nun installiert man nicht mit jeder Leitung auch Krisenanfälligkeit, sie muss auch nicht unbedingt während der Herrschaft des Amtsinhabers ausbrechen, überdurchschnittlich oft aber im Prozess des Übergangs, der Nachfolge." Nach Max Weber hänge die Schwierigkeit dieser Transformation damit zusammen, dass dieses Führungsmodell auf charismatsicher Herrschaft beruhe.

Wie könne die Nachfolge gelingen? Charismatische Herrschaft, so Weber, definiert sich durch institutionelle Instabilität, laut Weber stehe Außergewöhnlichkeit einerseits und bürokratische Veralltäglichung im potenziellen Konflikt. "Mit der Nachfolge-Krise an der Berliner Volksbühne kommen nun alle Elemente des alten Systems zusammen. Ein charismatischer Regie führender Intendant in der Person Castorfs, der seine Ablösung gar nicht einsieht. Castorf ist seit 1992 im Amt. Die übliche Laufzeit beträgt 10 Jahre. Ohne seine historischen Verdienste zu schmälern, ist man sich innerhalb der Kritikergemeinde einig, dass seine kreativen Kräfte schwinden und ein Nachfolger gefunden werden musste."

Für Balme werfe die Krise der Nachfolge die Frage auf, warum in Deutschland so lange an der Herrschaftsform des Regie führenden Intendanten festgehalten wurde. Fazit: "In der Figur des Regie führenden Intendanten hat sich ein besonderes und wohl anachronistisches Verhältnis zwischen Ästhetik und Institution herausgebildet. (...) Die Berufung von Dercon und Lilienthal könne darauf hindeuten, dass dieses Modell ausstirbt. Theater ist Krise, sagte Heiner Müller. Wo keine Krise, da keine Veränderung."

(sik)

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